Am Allerseelentage

»Es kömmt die Stunde, in welcher alle, die in den Gräbern sind, die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und es werden hervorgehen die Gutes getan haben zur Auferstehung des Lebens, die aber Böses getan haben zur Auferstehung des Gerichts.«


Die Stunde kömmt, wo Tote gehn,
Wo längst vermorschte Augen sehn.
O Stunde! Stunde! größte aller Stunden,
Du bist bei mir und läßt mich nicht,
Ich bin bei dir in strenger Pflicht,
Dir atm' ich auf, dir bluten meine Wunden!
Entsetzlich bist du, und doch wert,
Ja meine ganze Seele kehrt
Zu dir sich, in des Lebens Nacht und Irren
Mein fest Asyl, mein Herzgeblüt,
Zu dem die zähe Hoffnung flieht,
Wenn Angst und Grübeln wie Gespenster irren.
Wüßt' ich es nicht, daß du gewiß
In jener Räume Finsternis
Liegst schlummernd wie ein Embrio verborgen:
Dann möcht' ich schaudernd mein Gesicht
Verbergen vor der Sonne Licht,
Vergehn wie Regenlache vor dem Morgen.
Verkennung nicht treibt mich zu dir,
Mild ist die strengste Stimme mir,
Nimmt meine Heller und gibt Millionen.
Nein, wo mir Unrecht je geschehn,
Da ward mir wohl, da fühlt' ich wehn
Dein leises Atmen durch der Zeit Äonen.
Doch Liebe, Ehre treibt mich fort
Zu dir als meinem letzten Port,
Wo klar mein Grabesinnre wird erscheinen.
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Dann auf der rechten Waage mag
Sich türmen meine Schuld und Schmach,
Und zitternd nahn mein Kämpfen und mein Weinen.
Vor dir ich sollte Trostes bar
Zergehen wie ein Schatten gar;
Doch anders ist es ohne mein Verschulden:
Zu dir als zu dem höchsten Glück
Wie unbeweglich starrt der Blick,
Und kaum, kaum mag die Zögerung ich dulden.
Doch da sich einmal Hoffnung regt,
So wird die Hand, die sie gelegt
In dieses Busens fabelgleichen Boden,
Sie wird den Keim, der willenlos
Und keinem Übermut entsproß,
Nicht wie ein Unkraut aus dem Grunde roden.
Wenn kömmt die Zeit, wenn niederfällt
Der Flitter, den gelegt die Welt,
Talent und Glück, ums hagere Gerippe:
Da steht der Bettler, schaut ihn an!
Dann ist die Zeit, um Gnade dann
Darf zitternd flehen des Verarmten Lippe.
Dann macht nicht schamrot mich ein Tand,
Dann hat gestellt die rechte Hand
Mich tief und ärmlich, wie ich es verdienet,
Dann trifft mich wie ein Dolchstoß nicht
Hinfort ein Aug' voll Liebeslicht:
Ich bin erniedriget und bin gesühnet.
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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Droste-Hülshoff, Annette von. Gedichte. Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage. Am Allerseelentage. Am Allerseelentage. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-840A-A