Am fünfzehnten Sonntage nach Pfingsten

Ev.: Von den zehn Aussätzigen.

Da er sie sah, sprach er: »Gehet hin und zeiget euch den Priestern!« Und als sie hingingen, geschahe es, daß sie rein wurden.


Da sprach er: »Gehet hin, den Priestern zeiget euch!«
Und als sie gingen, siehe da, sie wurden rein.
Du meine stolze Seele, nur an Elend reich,
An Fehlen groß, so könnte dir geholfen sein,
Dir, die noch stets verschmähte Menschenhand
Und wär' sie gottgeweiht und wär' sie gottgesandt.
Wohl sprichst du öfters zu dir selbst in argem Trug:
Er ist der Starke, so allein mich retten kann;
Hilft er mir nicht, dann ist auch Menschenrat ein Lug,
Unmittelbar zu ihm mein Flehen steig' hinan!
Und fühlst es nicht, daß warm und reich gehegt
Der Hochmut Aussatz an dein töricht Herz gelegt.
Ist denn so fest dein Mut, in reichem Glauben stark,
Daß eines Freundes Hand er sich entschlagen darf?
So klar dein Hirn, so saftig und gesund dein Mark,
Daß die Erkenntnis dir vor andern Wesen scharf?
O sei demütig, sprich es offen aus:
Du lebst ein Bettler und in eines Bettlers Haus!
Wie arm und schwach du, Seele mein, das meinst du wohl
Zu fühlen, wenn die Lippe matt und klagend spricht;
Und doch nur Klang, und doch nur Rauschen, schwülstig hohl,
Wie umgestaltet aus dem Sprachrohr Flüstern bricht,
Ein Aufschrei nur, der willenlos entfährt,
Indes dein düstrer Blick sich stolz nach innen kehrt!
Was ist da drinnen denn so Herrliches zu schaun?
Ein krankes Blut, was ach! in eignem Druck erliegt,
Was jedes Reizes Sklav' und jeder Stimmung, traun,
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Bald steht wie ein Morast, bald wie ein Strudel fliegt;
Ein Hirn, von dem dir selber unbekannt,
Ob es dem Wahnsinn oder Frevel mehr verwandt.
Dies sind die Schätze, die dich stolz und stark gemacht,
Daß du entschlagen dich hast des Geschaffnen Rat;
Dies sind die Leuchten, die in dumpfen Zweifelns
Nacht Glorreich bestrahlen sollen den verborgnen Pfad;
Darum, darum baust du auf Gott allein,
Daß Menschentadels Dorn dir mög' erlassen sein.
Hast anders jemals du des Priesters wohl gedacht,
Der lossprach deine Schuld im heil'gen Sakrament,
Als wie des Blattes, drauf der Schuldner Rechnung macht
Doch einzig Gläub'gers Schrift als Lösung anerkennt?
Ward sichtbar jemals dir in seiner Hand
Die ernste Waage, drauf dein Tod und Leben stand?
Knie hin, knie hin, doch nicht an jener Gnadenstatt;
Nein, vor dem Hirten nur in seiner Würde Kraft!
Und deine Seele sei vor ihm ein offnes Blatt
In aller Eitelkeit und niedern Leidenschaft.
Und wenn du dich vor Menschenhand gebeugt:
Dann schau ob sich am Aussatz nicht ein heilend Fleckchen zeigt!

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TextGrid Repository (2012). Droste-Hülshoff, Annette von. Gedichte. Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage. Am fünfzehnten Sonntage nach Pfingsten. Am fünfzehnten Sonntage nach Pfingsten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-855A-E