[188] Andre Welt

Hatte einen Freund vor Jahren,
Eine feste edle Seele,
Aber in der alten Welt
Konnt er nimmer Ruhe finden.
Uebers Meer ist er gefahren,
Zu den thatenreichen Menschen,
Drüben in Amerika,
Drüben in dem Reich der Zukunft
Und er folgt dem kühnen Banner,
Das des Nordens Heldensöhne
Tragen unter ewgem Sieg
In die Mexikanerberge.
Durch die reichen Tropenstädte
Wandelt er mit stolzen Schritten
In dem Kleid der Republick,
Und es jauchzt ihm zu die Sonne.
Durch die heißen Kaktuswälder,
Durch die Schluchten thierbevölkert,
Durch die Stromgewässer wild
Wird der Tapfre staunend schreiten.
Und sein Herz wird kühner schlagen
Auf den sieggewohnten Märschen,
Ueber sich der Berge Stern,
Den beschneiten Orizawa.
[189]
Um und um die ewgen Berge,
Wie aus glühem Erz gegossen,
In der tausendfarbgen Pracht
Wird die Heimath er vergessen.
Wenn er schaut zu beiden Seiten
Gleich geschmolznen Diamanten
Den gewaltgen Ocean,
Wird der Heimath er gedenken.
Wenn er schaut die Sonne tauchen
Groß und blutig in die Esse
Des unendlich weiten Meers
Und sein Auge Thränen füllen.
Wenn die Nacht die dämmervolle
Niedersinkt ins Thal der Blumen,
Und der ungeheure Mond
Seine blauen Lichter sendet.
Wo die Blüthenbäume tanzen
Und die Quellen aufwärts strömen,
Drein die Millionenschaar
Süßer Sänger musiziret.
Wo ihn grüßen andre Sterne,
Zaubergroße, blitzeschleudernd,
Und der Himmel golden schwarz
Seine Sinnen überwältigt.
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Wenn er dann hinab die Thäler
Zu den schönen Menschen steiget,
Zu der Mädchen ewgem Tanz
In die Hütten von Puebla.
Wenn die weichen Blumenarme
Und die süßen hellen Stimmen
Mit dem niegeträumten Reiz
Ihn umtaumeln und umscherzen.
Wenn ihm die Gazellenaugen
Klug und seltsam, scheu und lüstern,
Dringen bis ans tiefste Herz,
Schauen auf den Grund der Seele.
Wahrlich wenn er eines Tages
Ueberrascht wird unversehens
Von dem herrlichen Roman,
Den er hier – vielleicht geschrieben.
Oder wenn zur Zeit der Regen
Schrecklicher als Schlachtendonner
Alle Thäler widerhalln,
Baum und Berg in Fluthen stürzen.
Wenn die Hochgewitter rollen
Ueber öden Felsgebirgen,
Aufgescheucht der Adler kreischt,
Und der Leu des Urwalds brüllet.
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Wenn die Feuerkegel speien,
Wenn die Meteore sausen,
Wenn der Erde Kern erbebt,
So daß dumpf das Weltmeer aufrauscht –
Da wird seine starke Seele
Schauernd jubeln zu den Schrecken;
Bei der Schönheit Wechselspiel
Auf der Wonne Gipfel rasen.
Ha! ich wills ihm nicht verdenken,
Wenn er lange wird vergessen,
Seine Bücher, seinen Freund,
Und die deutsche Muttererde.
Und ist er im Kampf gefallen,
In der stolzen Schlacht des Ruhmes,
Hab ich keine Klag um ihn,
Besser werd ich wohl nicht sterben.
In den holden Wunderdüften
Webet seine freie Seele,
Und um seine Leiche klingt
Ewig Lied der Urwaldsänger.
Palmen werden ihn umrauschen,
Kühne Thierwelt um ihn lärmen,
Und die Sterne heiß und groß
Auf sein Grab herniederblitzen.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Eichrodt, Ludwig. Gedichte. Leben und Liebe. Traum und Bild. Andre Welt. Andre Welt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-9E8C-2