[107] Der Vorhang

Die Bühne stellt den Vorraum zu dem Zimmer eines Gasthofes vor. Arlechin kommt als Hausknecht und bringt zwei schwere Koffer, die er in das Zimmer trägt. Dabei hält er ein Selbstgespräch über die Pflichten des Hausknechts und stellt Betrachtungen über die Herrschaft an, welche das Zimmer bestellt hat. Die Herrschaft kommt ihm nicht ganz fest verheiratet vor. Der Herr ist zu rücksichtsvoll gegen die Dame.

Die Herrschaften kommen. Es sind Lelio und Aurelie. Aurelie ist die Gattin von Pantalon, welcher Lelios bester Freund ist.

Der Leser wird hier Schlüsse ziehen; aber diese Schlüsse sind falsch. Aurelie ist eine tugendhafte Gattin. Sie hält vor der Tür eine lange Rede über die Tugend und schließt damit, daß, die Tugend ihren Lohn in sich trägt. Arlechin wird gerührt und schneuzt sich, Lelio vergießt eine Träne der Bewunderung.

Die Zuschauer auf der Galerie bestehen meistens aus kleinen Mädchen, welche in der Fabrik des Signor Hirsch arbeiten. Sie sind grundsätzlich tugendhaft und wenn sie als einzelne sich auch nicht immer ganz an ihre Grundsätze halten, weil das menschliche Herz zu schwach ist und der Weg der Tugend so steil und schmal, daß man unversehens einmal auf ihm strauchelt, so ist doch ihre Massenseele, welche sich entwickelt, wenn sie alle zusammen sind, von echt römischer Festigkeit, gemildert durch den weiblichen Vorzug einer leicht erregten Rührung. Also die Galerie weint, wie Aurelie erklärt, daß die Tugend ihren Lohn in sich trägt.

Arlechin empfängt sein Trinkgeld, verbeugt sich dankend und geht. Das ist eine Nummer von ihm, das Trinkgeldempfangen. Bekanntlich kann man die Menschen in zwei sich befehdende Klassen einteilen, in die Leute, welche Trinkgeld [108] geben und die, welche Trinkgeld nehmen. Der Kampf der beiden Klassen wird zum größten Teil stumm geführt; er ist deshalb nicht weniger erbittert. Die eine will kein Trinkgeld geben, und wenn sie es doch tut, wenigstens kein hohes; die andere will auf jeden Fall ein Trinkgeld haben, und zwar ein hohes. Der Trinkgeldgeber tut, als ob er von der Sitte des Trinkgeldes nichts weiß, er dankt dem Trinkgeldnehmer herzlich für seine Bemühungen, er macht eine Bemerkung über das Wetter und erkundigt sich teilnehmend, wie der Trinkgeldnehmer seinen freien Sonntag verbringen wird. Der Trinkgeldnehmer antwortet einsilbig auf diese Gespräche und Fragen, denn er weiß, daß er verloren ist, wenn er dem Trinkgeldgeber menschlich näher kommt; er sieht ihn nicht an, wenn er spricht, macht nach jeder Antwort eine bedeutende Pause und spielt mit seinem Schürzenband. Wenn noch nichts erfolgt, so räuspert er sich; bleibt auch dann noch das Erwartete aus, so geht er in irgendeine Ecke des Zimmers und tut, als ob er dort noch etwas in Ordnung bringt, aber er tut es so, daß der Trinkgeldgeber merkt: das ist nur so getan, er hebt etwa den Koffer auf und setzt ihn auf dieselbe Stelle wieder hin. Der Trinkgeldgeber macht vielleicht noch einen schüchternen Versuch, ein Gespräch über die Schönheit der Stadt anzuknüpfen, der Trinkgeldnehmer weist auch diesen Anschlag ab, indem er gar nicht antwortet und sich einen unsichtbaren Staub vom Ärmel abwischt; endlich ist der Trinkgeldgeber besiegt, zieht seine Geldtasche, sucht das kleinste mögliche Geldstück aus und reicht es dem Trinkgeldnehmer, der es mit einem seiner Größe genau angemessenen Dank entgegennimmt.

Das Trinkgeldnehmen ist also eine Nummer von Arlechin, das Publikum besteht zum großen Teil aus Sachverständigen, und er hat immer großen Beifall.

Arlechin geht ab unter Händeklatschen und Trampeln, indem [109] er der Galerie noch einen Handkuß zuwirft; die kleinen Mädchen stoßen sich mit den Ellbogen in die Seite und streiten sich darüber, welche von ihnen er gemeint hat, denn Arlechin ist ein schöner Mann, und die kleinen Mädchen würden nicht abgeneigt sein, für ihn ihren Grundsätzen untreu zu wer den.

Die Herrschaften sind allein auf der Bühne. Aurelie beteuert, daß ihre Unschuld einst an den Tag kommen wird und verschwindet mit Lelio in dem Zimmer. Die Bühne ist leer, große Spannung.

Der Leser möchte vielleicht wissen, wie die Unschuld Aureliens an den Tag kommen kann, wenn sie mit Lelio in einem Gasthauszimmer allein zusammen ist. Das hätte der Dichter des Stückes eigentlich erklären müssen. Aber bei solchen Nebensachen hielt sich der Mann nicht auf. Es genügte ihm, daß Lelio ein Verführer ist und Aurelie eine tugendhafte Frau, und das Weitere überließ er vertrauensvoll der Abwicklung seiner Handlung. Der wollen wir es denn auch überlassen.

Der wütende Pantalon erscheint mit zwei Polizisten und einem Schlosser, geht auf die verschlossene Tür zu und rüttelt an ihr. Die Polizisten helfen ihm, rütteln und verlangen im Namen des Gesetzes, daß die Tür geöffnet wird. Die Tür wird nicht geöffnet, und der Schlosser versucht seine Nachschlüssel. Aber der Riegel ist innen vorgeschoben, und der Schlosser zuckt bedauernd die Achsel.

Die Galerie zittert für Aurelien; die Polizisten ziehen ihre Säbel und tun so, als ob sie auf die Tür einschlagen; sie müssen die Tür natürlich schonen; denn sie ist aus Leinwand und soll noch für viele Vorstellungen halten, und überhaupt kann man ja mit Säbelschlägen keine Tür aufbrechen. Aber das schadet nichts, dafür ist man im Theater. Die Zuschauer sind überzeugt, daß die Tür splittert und kracht. Von innen ertönt ein erstickter Schrei Aureliens. Den Zuschauern ist es natürlich klar, daß weder Pantalon, noch die Polizei, noch der [110] Schlossermeister an Aureliens Unschuld glauben werden, wenn die Tür erbrochen ist. Aurelie ist in der fürchterlichsten Lage, in welche eine tugendhafte Frau kommen kann.

Da ertönt im Zimmer ein Schuß. Pantalon, die Polizisten und der Schlossermeister schreien auf, Arlechin, welcher inzwischen sich als Zuschauer eingefunden hat, schließt sich ihnen an. Die Tür öffnet sich. In der Türöffnung steht Aurelie, hinter ihr sieht man auf dem Boden hingestreckt die Leiche Lelios liegen, die noch rauchende Pistole in der Hand.

Aurelie hat ein weißes Kleid an und steht in der Türöffnung wie der Engel der Unschuld. Sie geht auf Pantalon zu, der vor ihr auf die Kniee gesunken ist, legte ihm die eine Hand aufs Haupt, die andere legt sie sich aufs Herz, die Augen schlägt sie hoch, und dann sagt sie: »Er fiel von eigner Hand als ein Opfer für meine Tugend. Er hat gesühnt.«

Der Kenner der Bühne weiß, daß das Aureliens große Stelle ist. Der Vorhang sinkt, das Publikum klatscht Beifall wie rasend, die kleinen Mädchen von Hirsch weinen, daß die Tränen zwischen den Dielenritzen den Leuten im zweiten Rang auf die Köpfe tropfen, und einige von ihnen umarmen sich und schwören sich gegenseitig, daß sie ihrem Geliebten ewig treu bleiben wollen.

Man kann sich vorstellen, daß ein Stück, das die schöne Trinkgeldszene für Arlechin hat und so wunderbar schließt, mindestens hundertmal aufgeführt wird. Es wird das auch. Den Schauspielern ist es schon über; Lelio, der zuerst gefunden hatte, daß das Stück den Tragödien der Alten mindestens ebenbürtig ist, erklärt, daß er ins Irrenhaus kommen wird, wenn er den Blödsinn noch weiter spielen muß, Aurelien hängt ihre Rolle zum Halse hinaus, und nur Arlechin ist dauernd zufrieden, weil er seine Rolle jeden Abend weiter ausbaut; er spielt an seinem Trinkgeldauftritt jetzt mindestens eine Viertelstunde. Den Schauspielern ist das Stück [111] schon über; aber was können sie tun? Das Haus ist noch jeden Abend ausverkauft, und unter den kleinen Mädchen bei Hirsch gibt es manche, die das Stück schon zehnmal angesehen haben.

Da geschieht etwas Unerhörtes.

Der Vorhangzieher ist tiefsinnig geworden durch das allabendliche Anhören des Stückes, hat der Welt entsagt und ist in ein Trappistenkloster gegangen. Es ist ein neuer Vorhangzieher da. Der kennt aber das Stück noch nicht. Er ist von dem Gang der Handlung so hingerissen, daß er nicht auf den Inspizienten achtet, der ihm das Zeichen zum Fallenlassen des Vorhangs gibt; er hält den Schuß und den Aufschrei der Männer auf der Bühne für den Schluß, denn er denkt doch, daß eine solche Wirkung nicht mehr zu überbieten ist, und in der ersten Begeisterung seines Berufes läßt er den Vorhang mit ausladendem Schwung seiner Hand fallen.

Aurelie hat ihre große Stelle nicht mehr, die Zuhörer haben sie auch nicht.

Aurelie schreit auf, stürzt nach hinten ab, gibt dem Vorhangzieher, der ihr begegnet, eine schallende Ohrfeige, und verläßt schluchzend das Theater.

Die Zuhörer sind zuerst erstarrt. Sie sehen schweigend mit unbewegten Gesichtern auf den Vorhang. Dann sehen sie einander an. Dann fragen sie sich leise. Dann kommt ein Raunen, das anschwillt, einige Schimpfworte schweben über ihm wie Möwen über der bewegten Meerflut, es wird immer lauter im Zuschauerraum, die Empörung bricht los, die Wut, ein Tosen und Schreien; die Leute springen auf die Bänke, reißen sich gegenseitig wieder herab, sie werfen Apfelsinen, Hüte und Schlüsselbünde gegen den Vorhang; einige ziehen ihre Stiefel aus und werfen sie.

Der Vorhang geht wieder auf. Pantalon, die beiden Polizisten, der Schlossermeister und Arlechin stehen vor der Tür, [112] die Polizisten schlagen gegen die Tür, daß die Splitter fliegen, der Schuß fällt.

Aber Aurelie hat das Theater verlassen. Sie kann nicht mehr auftreten. Was geschieht? Die Tür öffnet sich, in ihr steht Lelio, die eine Hand, welche die rauchende Pistole hält, auf das Herz gelegt, die andere auf das Haupt des knienden Pantalon, die Augen aufgeschlagen; er spricht: »Ich siel von eigener Hand als ein Opfer für ihre Tugend. Ich habe gesühnt.«

Der Eindruck war größer als bei der ersten Vorstellung. Auch die alten Herren weinten, die sich immer zurückgehalten hatten, denn sie hatten bis dahin nicht an Aureliens Unschuld geglaubt.

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TextGrid Repository (2012). Ernst, Paul. Erzählungen. Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Der Vorhang. Der Vorhang. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A272-0