[5] Erstes Buch
Es war in den ersten Wintertagen, wo um sieben Uhr schon Dunkelheit in den Stuben ist. Die Großmutter saß still in ihrem Lehnstuhl am Ofen und träumte im Halbschlummer von ganz alten Zeiten, als sie ein junges Mädchen war und einen ungeschickten Freier auslachte. Pollux lag auf der Seite vor dem warmen Ofen und schnarchte plötzlich, wachte davon auf, klopfte mit dem Schwanz auf die Dielen und legte sich wieder um. Ganz laut tickte die Wanduhr, wie sie es am Tage nicht wagt. Der kleine Hans saß mäuschenstill unter dem Tisch und stellte sich vor, dieser Tisch sei eine Stube, die von allen Seiten verschlossen wäre, und da säße er in der Mitte, und dann müßte nichts weiter auf der Welt sein wie diese Stube.
Dorrel ging in den Stall, und die Laterne warf schnell einen Schein über die Decke und dann die Wand entlang über die Spitzen der Rehgeweihe und über die Gewehrläufe. Dann hörte man, wie der Melkeimer klirrte und wie sie mit der Kuh zankte, die Elsbeth hieß, und zuletzt hörte man das Melken.
Die Tür ging auf, und die Mutter trat mit der Lampe herein. Die Großmutter nahm schnell ihr Strickzeug in die Höhe und sagte, daß sie gar nichts mehr habe sehen können, denn sie wollte es nicht Wort haben, daß sie geschlafen. Dann deckte die Mutter mit dem leinenen Tischtuch, das aus selbstgesponnenem Flachs gewebt war und in der Mitte eine Naht hatte, und der kleine Hans unter dem Tisch saß jetzt viel heimlicher, sah auf die raschen Füße der Mutter und betrachtete, wie der Rock sich bewegte. Und so klapperten die Teller, braune, irdene Teller, und die Schüssel mit dem Haferbrei wurde auf den Tisch gesetzt; [5] sie war auch ein irdenes Geschirr und war inwendig das Vaterunser mit Grün und Rot hineingeschrieben, dann kamen die blanken zinnernen Löffel und die Messer und Gabeln mit Hirschhorngriff, und ein Stück Schinken und ein Schinkenbrett für jeden, nur nicht für den kleinen Hans, denn dem wurde sein Teil zugeschnitten, und er kriegte es in ganz kleinen Würfeln, aber die Großen aßen ihren Teil in Streifen.
Die Uhr hob aus zum Schlagen, und der kleine Hans kroch unterm Tisch hervor, um die Zeiger zu betrachten, wie sie zitterten während des Schlagens. Da waren mit einem Male laute und schnelle Schritte des Vaters vor dem Haus; Pollux sprang auf und stellte sich winselnd vor die Tür, der Vater kam eilig herein und langte nach der Schrotflinte; Pollux sprang an ihm hoch; die Mutter warf sich ihm entgegen und rief: »Bleib, bleib, ich habe eine Ahnung, sie bringen dich tot nach Hause!« Er aber schob sie von sich, pfiff dem Hund und ging wieder eilig hinaus; seine Wange blutete stark von einem langen Riß. Die Mutter warf sich laut weinend auf einen Stuhl, der kleine Hans trat vor sie, legte ihr die Händchen in den Schoß und blickte zu ihr auf. Die Großmutter aber in der Ecke mit ihrer alten Stimme sprach tadelnde Worte und erzählte, wie ihr selbst vor vierzig Jahren die Arbeiter ihren Mann auf zwei jungen Tannen tot nach Hause gebracht, mitten durch die Brust geschossen, aber sie habe nicht geweint, obwohl sie ein junges Weib gewesen damals und erst ein halbes Jahr verheiratet, und Hansens Vater sei nach ihres Mannes Tode geboren; denn wer in seiner Pflicht stirbt, der hat einen guten Tod, und Gott verläßt nicht seine Hinterbliebenen; und wenn ein Förster sein richtiges Geld kriege, so müsse er auch sein Leben einsetzen gegen die Wilddiebe. Da weinte die Mutter noch stärker, der kleine Hans aber faßte ihren Arm und versuchte ihr ins Gesicht zu sehen, denn er wollte sie trösten.
Zuletzt wischte sie sich die Tränen von den Backen, damit die Magd nichts merken sollte von ihren Sorgen, und ging in die Milchkammer, die Milch in Satten zu tun, indessen Dorrel der Kuh Futter aufsteckte. Und wie beide ihre Arbeit beendet, kamen sie zurück in die Stube, und alle setzten sich an den Tisch zum Abendbrot; nur des Vaters Platz blieb leer, und die Mutter sah nicht hin nach der Stelle, denn sie hatte [6] Furcht, die Tränen möchten ihr wieder in die Augen steigen. Jedem tat sie auf seinen Teller von dem Haferbrei und auf sein Brettchen ein Stück Schinken; dann betete sie mit lauter Stimme das Tischgebet.
Der Mond war draußen aufgegangen über den Spitzen der schwarzen Tannen, und es schien heller durch die dick beschlagenen Fensterscheiben. Dorrel sprach davon, daß in der Nacht ein scharfer Frost kommen werde; die andern schwiegen; plötzlich sagte Hans mit seiner hellen Stimme: »Die Großmutter hat doch recht, wenn ich das Geld nehme, so muß ich auch alles dafür tun, sonst darf ich das Geld nicht nehmen.« Aber niemand antwortete auf seine Rede, bloß die Magd verwies ihm, er solle nicht sprechen, wenn die Erwachsenen unter sich Dinge zu ordnen hätten. Dann beredete sie mit der Mutter, was am andern Tag getan werden mußte.
Nach dem Essen räumte die Mutter das gebrauchte Geschirr ab; nur das Gedeck für den Vater ließ sie liegen, hob ihm auch in der Ofenröhre seinen Haferbrei auf. Dann war Hans wieder allein mit der Großmutter in der Stube.
Da hatte sich die Katze hereingeschlichen, ging leise vor den Ofen, putzte sich mit Sorgfalt, und dann setzte sie sich mit rechter Behaglichkeit, schloß die Augen halb und spann; Hans lag vor ihr auf der Erde und sah ihr ins Gesicht, so daß sie verlegen wurde; er hätte gern gewußt, wie sie das Spinnen machte. Dann betrachtete er die beiden großen Bilder über dem Sofa; das waren der Beerdigungszug des Jägers und der Beerdigungszug des Fischers. Dem Sarg des Jägers folgten alle Tiere auf der Erde, der Hirsch, das Reh, die Sau, der Fuchs und alle Vögel und ein kleines Eichhörnchen; und bei dem Fischer folgten die Fische, denn es floß da ein Wasser. Er dachte sich immer, wie das sein müßte, wenn er auch ein Tier wäre und folgte da mit in dem Bilde; man sah recht tief in einen schönen und saubern Wald hinein, in dem mußte es sich ganz gut lustwandeln lassen, und die Bäume waren ganz andrer Art, wie man sie sonst sah. Allgemach kam der Sandmann, und er rieb sich die Augen. Da ging er zur Großmutter, die sich die Lampe ganz nahe gerückt hatte und ihr Strickzeug ganz dicht vors Gesicht hielt, und bettelte, daß sie ihm die Geschichte von der weißen Schlange erzählen sollte.
[7] Da erzählte die Großmutter, wie ein Vorfahr der Grafen, denen die Wilder hier gehörten, ein Prasser und Schlemmer gewesen sei und ein böser Mann; der habe einen guten und frommen Diener gehabt, der ihn oftmals zum Bessern ermahnt, aber niemals zur Umkehr habe bewegen können. Eines Tages habe der Diener dem Grafen eine verdeckte Schüssel müssen auf sein verschlossenes Zimmer bringen, und wie er, von besonderer Neugierde bewegt (das zwar nicht ehrbar von ihm gewesen), die Schüssel aufgedeckt habe, sei eine gekochte weiße Schlange darin gelegen, in viele Stücke zerschnitten. Da habe er sich nicht mehr bezwingen können und sei ihm gewesen, als werde ihm befohlen, daß er eins der Stückchen heimlich habe nehmen müssen. Der Graf aber habe alles andere gegessen und nichts gemerkt. Wie nun der Diener am Fenster steht und in den Schloßgraben hinuntersieht, schwimmen da zwei weiße Enten, und er merkt, daß er ihre Sprache versteht, und sie erzählen sich, daß das Schloß noch diese Nacht untergehen soll; der Herr aber stand auch am Fenster und lachte. Daraus merkte der treue Diener, daß der Graf etwas Falsches verstanden hatte für seine Sünden, verfiel rasch auf eine List und sprach, er habe sich eine lustige Jagd ausgedacht für diesen Abend; nämlich alles Schloßgesinde solle mit Fackeln kommen, und der Herr mit seinem einzigen Töchterchen, denn seine Gemahlin war schon seit langem verstorben, solle auch kommen, und dann wollen sie Krebse fangen in einem Waldbach, den er wisse, weil es jetzt Zeit sei zum Krebsen. Dies gefiel dem Grafen und wurde so gemacht. Und wie alle aus dem Schloß gezogen waren und sich erlustigten und fröhlich waren, kamen Blitze und Donnerschläge und ein Erdbeben, und das Schloß versank, und an der Stelle ist jetzt die Elsgrube. Da wurde der Graf ganz blaß und ging in sich und ging in ein Kloster; vorher aber verheiratete er seine Tochter mit dem frommen Diener und gab dem sein ganzes Gut, und von dem stammen in männlicher Reihenfolge die jetzigen Grafen ab, wiewohl der Name nicht gewechselt und noch der alte ist.
Unter dem Erzählen war Hans fast eingeschlafen. Jetzt kam die Mutter, um ihn zu Bett zu bringen. In der schrägen Dachkammer, unter den kalkverputzten Ziegeln, zog er sich aus, dann faltete er die Hände und betete mit der Mutter zusammen sein Kindergebet:
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Dann schlief er ein, und der Mond zog langsam weiter hinauf über den stillen Wald; die Kuh klirrte einmal mit ihrer Kette und brüllte leise und behaglich, und dann legte sie sich schwer nieder zum Wiederkäuen; kein Geräusch war im Haus wie zuweilen ein Klappern mit dem Geschirr aus der Küche, wo Dorrel abwusch.
Wie die Mutter wieder in die Stube trat, hatte die Großmutter den Kopf auf den Tisch gelegt und schluchzte, daß das Licht der Lampe sich bewegte durch die Erschütterung. Die Mutter setzte sich still ans Fenster; und so warteten die beiden Frauen in der Nacht, ob sie vielleicht einen Schuß hörten. Lange warteten sie so allein; denn Dorrel kam nicht in die Stube, wie sonst immer nach der Abendarbeit, sondern sie tat, als habe sie heute mehr in der Küche zu verrichten wie gewöhnlich; sie wußte, daß die beiden Frauen in Sorge saßen und wollte sie schonen; sie selbst aber dachte immer hin und her: ›Was soll mit dem Kind werden, die Mutter kann den Jungen nicht erziehen, der braucht einen Vater‹; und über ihrer nassen Planenschürze faltete sie ihre schwieligen Hände zu einem wortlosen Gebet für ihren Herrn. Es mochte gegen Mitternacht sein, da hörte man den schweren Tritt des Vaters vor dem Hause. Die Mutter eilte, die Haustür aufzuschließen. Er trat ein, bot die Zeit, hängte die Flinte an die Wand und setzte sich an den Tisch. Sie brachte ihm das Essen; der Hund ging still zu seinem Lager, denn nur in Abwesenheit seines Herrn wagte er vor dem Ofen zu liegen, drehte sich im Kreis, legte sich und schlief scheinbar ein, indem er doch aufmerksam das Gespräch verfolgte.
[9] Es war ein Schreiben von der gräflichen Güterverwaltung gekommen, in dem ihm mitgeteilt wurde, daß der Bocksklee abgetrieben werden solle. Der Förster wurde tief erregt und sprang auf. Er hatte immer verlangt, daß der Bocksklee ungestört bliebe, weil er den Westwind abfing und dadurch ein großes Gebiet vor Windbruch schützte. Aber der Herr hatte Geld nötig, und da war es ihm gleichgültig, was geschehen mochte.
Der Graf war ein sehr freundlicher und liebenswürdiger Herr; er gab dem Förster die Hand und sagte zu ihm: »Guten Tag, mein lieber Werther«; er fragte nach seiner Frau und dem Jungen und lobte ihn wegen seines Eifers. Aber der Förster hatte keine Achtung vor ihm, weil er leichtfertig war in Worten und Werken und sein Gut vertat, anstatt zu sparen und zu wirtschaften. Deshalb wollte er den kleinen Hans später auch nicht in Herrendienst geben, wiewohl ihm das Herz blutete, wenn er dachte, daß sein Junge einmal nicht das grüne Tuch tragen sollte, in dem Großvater und Urgroßvater stolz gewesen waren; aber er sollte einmal ein freier Mann werden, daß er seinem Gewissen folgen durfte und nicht gehorsamen mußte, wenn ihm unkluge Befehle gegeben wurden; deshalb wollte er ihn studieren lassen, denn er dachte, ein Studierter brauche niemandem zu dienen und könne immer tun, was recht ist. Abends, wenn er einmal ein Halbstündchen Zeit hatte, nahm er das Kind zuweilen auf den Schoß und sprach mit ihm, daß er fleißig sein müsse und lernen, dann müsse er einmal nicht mit krummem Rücken dastehen in der Welt, sondern könne seinen geraden Weg gehen als ein aufrechter Mann. Der Graf war nicht böse, aber er hatte keine langen Gedanken. Auf der Jagd war er so einfach wie einer von seinen Leuten; aber wenn er in der Stadt lebte, so hätte er sich geschämt, wenn er es nicht andern hätte gleich tun sollen, die reicher waren wie er. Einmal hatte er im Försterhause eingesprochen und mit der Frau Werther geredet über Haushalt, Wirtschaft und Kindererziehung; da schienen seine Meinungen so verständig und ordentlich, daß die Frau sich immer noch wunderte, wie so ein Herr solche Einsichten haben konnte in Dinge, die ihm doch ganz fern lagen; aber in seinem Hause bekümmerte er sich nicht um Einteilung, Ordnung und Einrichtung. Er nahm nur aus den Kassen das Geld, das er brauchte, [10] ohne sich zu überlegen, ob er Einnahmen verzehrte oder Vermögen. Seine Kinder wuchsen auf, ohne daß er sich klar machte, zu welchem Ende und unter welchen Einflüssen, denn auch seine Frau hatte keine Hausgedanken. Deshalb trieben sich die beiden Söhne am liebsten in den Ställen und Küchen herum und lernten wenig trotz teurer Hofmeister; und die Tochter, die einen besonderen Trieb zum Lernen hatte und ganz unpassende Lehrer bekam, wie sie eben für ein ganz gewöhnliches Mädchen geeignet gewesen wären, suchte verstohlen in der vernachlässigten Bibliothek Bücher für sich und bat den alten Pfarrer, bis er sie im Lateinischen unterrichtete. Einmal nahmen ihr die Brüder heimlich ihre lateinischen Bücher fort und bauten sie auf ihrem Platz am Kaffeetisch auf; da hörte der Vater zuerst von ihren Studien, schüttelte den Kopf und sagte, daß ihm ihre Wege nicht gefielen. Sie preßte die Lippen zusammen und fuhr fort in ihrer Weise, und bekümmerte sich niemand darum. Es ging dem Grafen, wie es heute vielen reichen und vornehmen Leuten geht; er hatte weder Amt noch Dienst, sorgte nicht für seine Angelegenheiten, noch für seine Familie, fand kaum einmal ein wirkliches Vergnügen, und doch hatte er nie Zeit; sein Leben zerfloß ihm zwischen den Fingern, wie wenn ein Kind eine Handvoll Sand vom Boden hebt.
Die Söhne kamen schon frühzeitig auf schlimme Wege. Da war ein Bursche im Stall, an den hingen sich die Jungen; der war ein tüchtiger Knecht, machte seine Arbeit sauber und ordentlich und hielt sein Geschirr gut, aber war ein Schürzenjäger; durch den lernten sie frühzeitig viel, und weil ihnen das Gegengewicht der harten Arbeit wie sauren und einfachen Pflicht fehlte, so wurde das Unkraut in ihrer Seele üppiger, wie es bei dem Verführer gewesen, der später ein ordentliches Weib kriegte, das ihn gehörig in die Kandare nahm und zu einem braven Manne machte. Noch ärger war es, daß die Knechte zum Scherz ihnen von ihrem Branntwein gaben und lachten, wenn sich die Jungen schüttelten nach dem Trunk und doch wieder von neuem begehrten; und wie sich einmal die Leute untereinander rühmten, welcher den schärfsten Schnaps getrunken habe, und allerhand beizende Mittel erzählten, gestoßenen Pfeffer, Schwefelsäure, die den Branntwein perlen macht, und Tabaksbrühe, krähten die Jungen auch dazwischen und verredeten[11] sich, daß ihnen das Schärfste das Wohlschmeckendste sei, tranken auch von dem gepfefferten Branntwein. Endlich fand sich ein uralter Mann, der früher Taglöhner gewesen war und nun aus Gnaden auf dem Hofe erhalten wurde, wofür er die Gänse hüten mußte, der war schon in jungen Jahren ein schlechter und liederlicher Bursche, und nun, in seinem Hochalter, verwirrten sich ihm vollständig alle Begriffe von Gut und Böse, daß er in seinen Begierden schlimmer wurde wie das Vieh, nämlich nicht bloß schamlos, sondern rühmerisch und frech. Wohl suchten die ehrbaren und ordentlichen Leute unter dem Gesinde dem Übel Einhalt zu tun, indem sie den Böswilligen verboten und die Jungen zu sich ziehen wollten; aber wo keine Zucht ist, da gewinnen die Schlechten und Liederlichen die Oberhand, auch wenn sie in der Minderzahl sind, und ungezogene Jugend geht lieber zu der übeln Seite, wo geprahlt und geschmeichelt wird, wie zu ruhigen und sittsamen Menschen und bescheidenen und strengen Worten; denn nicht das Laster ist verführend, das ja meistens mehr mit Unbehagen und Schmerz verbunden ist wie mit Freude und Wollust, sondern die lasterhafte Gesellschaft verführt durch freche und unbotmäßige Reden, übertreibende und lügnerische Erzählungen und falsche Scham.
Viele Leute sehen auf ein Haus wie des Grafen; und kaum eine geringe Kleinigkeit kann in ihm geschehen, die nicht in einem großen Kreise besprochen würde und weite Wirkung ausübte; das Wesen der Vornehmen wird genau erkannt und beurteilt, und mancher Taglöhner wußte von Art und Schlag des Grafen, seiner Gemahlin und seiner Söhne mehr wie er selbst. In unserer Zeit ist die Gesellschaft bis in ihre letzten Tiefen aufgerüttelt, und alle alten Bande sind gesprengt, die bewirken, daß es ein Unten und Oben gibt. Manche Menschen meinen, daß dieser Zustände Ende eine völlige Gleichheit aller Menschen sein werde; wer aber genau zusieht, der wird merken, daß diese allgemeine Ungebundenheit im Gegenteil eine neue und tiefere Scheidung der Gesellschaft bewirkt, indem die Tüchtigen sich zu den Tüchtigen scharen und die Schlechten zu den Schlechten; viele sinken so und viele steigen; viele der Gestiegenen sinken wieder, denn sie können sich nicht oben halten; manche aber bleiben oben, und auch einer gesunkenen Familie gelingt es wieder, zu steigen, wenn sie sich doch als tüchtig erweist. [12] In solchem Vorgang übt der Anblick einer Familie wie des Grafen eine außerordentliche Wirkung, denn die Schlechten werden bestärkt im Leichtsinn oder in aufrührerischer Gesinnung, die Guten aber werden desto trotziger und stolzer; und bei beiden wird der Freiheitsinn gemehrt, bei den einen der Sinn für die Freiheit der Zuchtlosigkeit, die sie und ihre Kinder in das wohlverdiente und notwendige Verderben treibt; bei den andern der Sinn für die Freiheit der Zucht und Ehre, die sie tüchtig machen, sich zuoberst zu setzen in die verlassenen Stühle; denn nachdem sie gelernt, in Ehre zu gehorchen, vermögen sie auch in Ehre zu befehlen.
Der Förster hatte seinen Abscheu vor der Wirtschaft auf dem Schlosse immer mehr vertieft. Zwar durfte er seinem Herrn nichts sagen von seiner Meinung; aber wenn die beiden zusammenkamen, so äußerte sich in ihrem Wesen dennoch deutlich ihre wahre Beziehung, die seelische, die wichtiger ist wie die äußerliche der zufälligen Verhältnisse. Der Förster war ehrerbietig, aber wortkarg, und schritt als ein großer, magerer Mann in weiter und fester Gangart, der Graf, der klein und durch sein fröhliches Leben fett war, ging flüchtiger und schneller, indem er ein wenig zurückblieb, und sprach oft Sätze, mit denen er seinen Förster zum Lächeln bringen wollte. Der Förster behielt wohl, was sein Herr sagte, aber er bezog sich später nie wieder auf seine Worte, wenn sie nichts Dienstliches betrafen; der Graf aber erinnerte den Förster oft an frühere Aussprüche. Doch je liebenswürdiger der Graf war, desto bitterer wurden des Försters Gedanken, denn er gedachte des alten Herrn, der ein rauher und fester Mann gewesen war, der von jedem seine gebührende Ehrenbezeigung verlangte; der hatte ihm einmal ein Trinkgeld gegeben, als er noch Jägerbursche war, und dazu gesagt: »Bleib ein ordentlicher Kerl«; wie er tot war und aufgebahrt lag, war er in Uniform und hatte den Helm auf dem Kopf; aber wie sie ihn einsargten, mußten sie ihm den Helm unter den Arm geben, das hatte er so angeordnet vor seinem Ende. Dann mußte er auch immer den Bocksklee bedenken; das war ein Vorwerk gewesen mit schlechtem Boden, das sein Urgroßvater aufgeforstet hatte, und von seiner Hand war noch der Plan da, wie es mit dem Umtrieb gehalten werden sollte, des Windbruches wegen; und wenn er sich die viele Mühe und Sorge, die [13] durchwachten Nächte und arbeitsreichen Tage vorstellte, die seine Vorfahren verbracht hatten, bis der Wald so stolz und wertvoll war, so kam ihm der Groll bis an die Kehle und hinderte ihn zu sprechen. Keinen Stand gibt es, der so mit der Arbeit der Vergangenheit zusammenhängt und so mit der Hoffnung auf die Zukunft verwachsen ist wie der Försterstand; denn was ein Förster erntet, das haben die Toten gepflanzt, deren Gräber längst eingesunken sind auf dem Kirchhof; und was er pflanzt, das wird man ernten, wenn die Söhne seiner Urenkel als Männer im grünen Rock durch den Wald gehen. Deshalb ist etwas Adeliges in einem rechten Förster, denn er weiß, daß der Mensch nicht ein haltloses Gesindlein ist, das morgen lebt mit dem Taglohn von heute und sich dick tut mit seinem Elend und lumpigen Verdienst, sondern der Mensch lebt durch die Liebe der Vorfahren in Pflicht für die Nachkommen, nicht von seinem Verdienst, sondern nach seinem Gewissen.
Ein Kind, das in solchen Lebensumständen aufwächst, bekommt etwas Besonderes mit. Es lernt früh die Beziehung seines eignen Lebens als eines fast zufälligen zu Vergangenheit und Zukunft seines Geschlechtes; aber doch nicht in der Form des harten Erwerbsinns und des Stolzes auf den Besitz, wie im Bauernstand, sondern in der Form des Gefühls für reine Ehre und strenge Pflicht; denn nicht für sich und seine Kinder pflegt der Förster sein Gut, sondern für andere.
Kein Mensch weiß, wie sich das Wesen eines Kindes bildet und wie Erbschaft und Einfluß einander bestimmen. Ganz kleine Kinder haben in viel höherem Maße wie Erwachsene die Fähigkeit, aus Miene und Haltung zu erfahren, was in einem andern ist; und in viel höherem Maße haben sie auch den Trieb, nachzuahmen, Äußerliches wie Innerliches. Kaum hatte der kleine Hans gehen können, da legte er schon die Hände über den Rücken und ging ernsthaft in der Stube auf und ab mit steifen Schultern, wie sein Vater tat am Sonntagnachmittag, sagte er sein Nein oder sein Ja mit derselben Betonung wie der Vater; und da seine gesamte Umgebung dieselbe war, in der sein Vater und Großvater aufgewachsen waren, so nahmen alle seine angeborenen Triebe dieselbe Richtung, wie sie bei Vater und Großvater genommen hatten, und seine Art wurde noch stärker, wie die seiner Vorfahren gewesen.
[14] Und was erzog ihn alles. Da erwachte er des Morgens, und sein Hauch war sichtbar in der kalten Luft unter dem kalkverputzten Ziegeldach, und die kleinen Fensterscheiben waren dick gefroren. Und unten in der Stube saß er dann am Fenster, sah, wie die Schneeflocken niedertanzten und sich sanft auf Zweige legten und auf Bretter und auf den Erdboden, der mit kleinen Steinchen bedeckt gewesen; aber wenn die großen Flocken ans Fenster wehten, so vergingen sie schnell, indem sie niederglitten. An manchen Tagen, wenn es nicht schneite und sehr kalt war, taute auch in der Stube das Fenster nicht ab; dann hauchte er an die Scheibe und schmolz sich ein rundes Loch zum Ausschauen; im Augenblick war es wieder mit einer dünnen Eishaut bedeckt, die war aber nicht weiß. Im Walde war ein Krachen, Tönen und Donnern; und der Wald stand doch ruhig und unbewegt mit seinen schneebedeckten Zweigen in der hellen Sonne. Wenn die Kälte so groß war, so wurde das Herz leicht und lustig und verlangte nach Gefahren; dann dachte er an den letzten Luchs, den sein Großvater hier geschossen, und seine Fäuste ballten sich; und an die Franzosenzeit dachte er, wie da das ganze Dorf in den Wald gezogen war, und er schämte sich, daß alle solche Furcht gehabt hatten. Denn wer recht hat und Gott fürchtet, der muß ausharren, wie im Buch der Makkabäer erzählt ist von den sieben Brüdern und ihrer Mutter; wie die Mörder sechs zu Tode gemartert hatten, da sprach der letzte, der noch ein Kind war: »Worauf harrt ihr? Gedenket nur nicht, daß ich dem Tyrannen hierin gehorsam sein will«, und ließ sich auch martern, trotzdem er noch klein war.
Abends las die Großmutter oft lange vor aus der alten Bibel, deren Blätter braun geworden waren durch die Finger so vieler Vorfahren, die jetzt lange vergessen lagen in ihren rasenbedeckten Gräbern; aus den Geschichtsbüchern im Alten Testament las sie und aus den Evangelien und der Offenbarung Johannis, von dem himmlischen Jerusalem und von der Schale des Zorns, von den vier Reitern und von dem Tier, das über den Gewässern sitzt. Wenn Hans dann mit ihr sprach über das Gelesene, so wunderten sich beide über die Verstocktheit der Juden und freuten sich, daß wir die Offenbarung haben, und daß unser Herr Jesus für uns gestorben ist, an den wir glauben müssen, und können nicht irren. Und wir sehen alle Tage, daß der Gerechte siegt und der [15] Ungerechte vergeht; denn wenn auch ein schlechter Mensch scheinbares Glück hat, so verrinnt das doch bald, wie es Klaus Hörgen geschah, der aus der Fremde heimkam mit einem großen Vermögen, sich ein Haus kaufte und nichts mehr tat; was geschieht? Nach ein paar Jahren wurde ihm sein Haus wieder verkauft, und kam in Schimpf und Schande. Daß es aber einem guten Menschen schlecht ginge, das ist noch nie geschehen; es müßte denn sein wie bei der frommen Genoveva, weil der Herr sie prüfen wollte und ein Beispiel geben für andre.
Im Sommer streifte der kleine Hans viele Stunden lang allein im Wald. Da lagen die Tannennadeln glatt und ungestört auf dem Boden, und die hohen Stämme standen regungslos; nur wenn er zuweilen auf dem Rücken lag und in die Wipfel schaute in der tiefen Stille, spürte er ein leises Wiegen der Stämme und wie die spitzenbehangenen Äste sich kreuzten, hoch oben. Das war eine andre Welt, hoch oben; wenn man ein andres Wesen wäre, ein Vogel oder ein Eichhörnchen, so lebte man da, hüpfte von Ast zu Ast, und alles, was unten ist, sähe ganz klein aus und ginge einen nichts an. In die Stille kam plötzlich das Klopfen oder das Hämmern eines Spechtes, ganz von weitem, oder ein unmerklich leises Geräusch von einer kleinen Meise mit blitzenden Augen. Und Moos war da, das drängte sich dicht, und eine Art sah aus wie ein Tannenwald im kleinen, der Berg und Tal überzieht und alles rund macht. Ameisen auf einem solchen Moosberge kamen sich wohl vor wie wir im Hochwald; vor Gott aber waren wir gleich den Ameisen und ein Wald von vielen Meilen wie ein Häufchen Moos. Das war wunderbar, wenn man auf der anderen Seite die Würdigkeit der Menschen bedachte, denn alle unsre Gedanken kannte ja Gott; dieses war auch der Grund, weshalb wir um ein reines Herz beten, weil wir uns nicht gern schämen, wenn Gott in uns hineinsieht. Einmal hatte Hans gemerkt, wie Gott in ihn hineinsah, aber da hatte er gerade ein reines Herz, und das machte ihn sehr froh, und es war ihm, als müßte es sich innerlich ganz ausbreiten vor Gott, wie ein Buch mit der ersten Seite aufgeschlagen hingelegt wird; er war im Walde und in einer sehr großen Stille.
Wir haben seltene Augenblicke im Leben, wo uns unser inneres Wesen symbolisch gezeigt wird, wie wir ja auch im Traum, statt Begriffe [16] zu denken, Symbole sehen. In einem solchen Augenblick, da er zudem auf der äußersten Spitze seines Lebens stand und sich in solcher Schicksalsstunde für immer nach links wenden mußte oder nach rechts, hatte er in seinem späteren Leben einmal ein schnell vorüberhuschendes Schattenbild eines hohen und ernsten Tannenwaldes, und sein Gefühl war wie Glockenklang. Da entschied er sich nach der rechten Seite; und dann wurde ihm klar, daß der Wald ein treuer Lehrer seiner Jugend gewesen war; und er wußte genau, daß er ein andrer Mensch geworden wäre, wenn er unter Buchen oder Eichen aufgewachsen, statt unter Tannen.
Ein treuer Lehrer war ihm auch Dorrel, das Dienstmädchen. Er war bei ihr im Stall, wo das trübe Licht in der großen alten Laterne brannte, und Dorrel melkte, gleichmäßig und in langen Zügen, indes die Kuh behaglich ihr Kleeheu aus der Krippe zupfte; ein ganz besonderer Ton war in dem Melken, der nach Ordnung, Ehrbarkeit und Fleiß klang; auch die Kuh steht bei einer faulen und hochmütigen Melkerin nicht so ruhig und behaglich, denn das liebe Vieh merkt wohl den Unterschied im Wesen der Menschen und benimmt sich danach.
Dorrel hatte eine besondere Kunst; sie konnte Schutzkrausen aus buntem Papier für Talglichter machen; die schnitt sie zuerst mit der Schere zurecht, und dann drehte sie mit der Schürze sie so, daß sie schöne Falten bekamen. Wenn sie dem kleinen Hans etwas ganz besonders Gutes antun wollte, so versprach sie ihm, daß sie ihm eine solche Krause machen wolle, und dann freute er sich sehr. Sehr oft nahm sie ihn mit, wenn sie aufs Feld ging, und besonders wenn sie im Herbst aus der Eisgrube Kartoffeln holte. Da zog sie den Schubkarren aus der Scheune, legte den Sack auf und ließ dann den kleinen Hans sich setzen; der saß da mit geknickten Beinen und sah glücklich in Dorrels rotes, strahlendes Gesicht, die den Sielen über die Schulter geworfen hatte und rüstig den Karren vor sich hinschob. Denn auch für sie war es eine große Freude, wenn sie Kartoffeln herausholte. Während sie schob, gab sie ihm Rätsel auf, alte Rätsel, die sie selbst als Kind von ihrer Großmutter gelernt:
Das wußte Hans natürlich nicht, was das war, nämlich: Spiegel, Nadeln und Eier. Sehr merkwürdig war das. Auch das war ein schweres Rätsel:
Das war nämlich seine Zunge.
Und in der Elsgrube war in der Mitte ein rundes Wasser, das war ohne Grund. Vor vielen Jahren hatten die Leute einmal drei Heuseile aneinandergeknüpft und unten einen schweren Stein angebunden und den hinabgelassen, aber sie konnten keinen Boden finden. Hier hatte früher das Schloß des Grafen gestanden, das untergegangen war, als der treue Diener von der weißen Schlange gegessen; jetzt aber lagen hier die Äcker, die zum Forsthaus gehörten.
Dorrel machte dem kleinen Hans eine Schleuder, indem sie eine schwibbe Rute von einer Weide abschnitt und die vorn zuspitzte. Auf die Spitze steckte Hans die Kartoffeläpfel und schleuderte sie in die Luft; so hoch flogen sie, daß er sie beinahe nicht mehr sehen konnte. Ein anderer hätte gedacht, sie flögen in den Himmel, aber Hans wußte aus seinem Lesebuch, daß der Himmel unendlich hoch über uns ist, denn es gab Sterne, deren Licht brauchte viele tausend Jahre, ehe es zu uns kam, so hoch standen die; und der Himmel mußte doch natürlich noch höher sein; aber das glaubte Dorrel ihm nicht, denn die meinte, es würde viel Unsinn gedruckt, und man müßte nicht alles glauben, was in den Büchern steht.
Während er spielte, machte Dorrel Kartoffeln aus; und fast über jeden Busch freute sie sich, daß er so viele Knollen hatte, und meinte immer, das sei doch ein sichtbares Zeichen von Gottes Güte, daß man eine einzige Kartoffel steckt, und nachher sind so viele da; wenn sie einen [18] besonders großen Busch fand, so rief sie den kleinen Hans, und dann suchten sie zusammen die Knollen aus der Erde und zählten sie. Bei jedem Busch war sie immer von neuem gespannt, und Hans stand dann wohl neben ihr, und sie rieten vorher, wieviel Knollen der wohl hätte; dabei behauptete Hans dann etwa, er müsse hundert haben oder zweihundert, und wollte nicht glauben, daß das gar nicht möglich war; wenn er dann ärgerlich wurde, so gab sie ihm ein neues Rätsel auf:
Da mußte Hans wieder betteln, denn er wußte nicht, was das war und war doch recht neugierig. Dorrel aber ließ ihn lange zappeln, bis sie ihm zuletzt sagte: das ist der Schlaf.
Die fromme und treue Magd sprach nur aus ihrem braven und rechten Gemüt. Sie wußte, daß es nicht gut ist für ein Kind, wenn man ihm Zeit läßt, ärgerlich und ungezogen zu werden, auch wenn man es alsdann straft, sondern es ist besser, wenn man seine Gedanken ablenkt durch etwas Neues, daß es seinen Ärger vergißt; denn leicht hinterläßt ein häßliches Benehmen Spuren in der Seele eines jungen Kindes.
Der kleine Hans wachte an einem Morgen auf, weil die Vögel auf den Ziegeln gerade über seinem Bett ein großes Klabastern und Schreien anstellten. Ein Stückchen Kalk vom Verputz war ihm auf die Bettdecke gefallen. Die Morgensonne schien durch das Fenster, und die Blüten des Spalierapfels waren aufgebrochen. Ein vollbesetzter Zweig zog sich schräg vor den Scheiben hin. Hans dachte, wenn die alle ansetzten, dann würde es eine Menge Äpfel geben, und sehr bequem waren sie vom Fenster aus zu pflücken. Indessen aber lag er in seinem warmen Bett und hielt die Augen behaglich geschlossen. Auf dem Dach waren jetzt auch Tauben, das hörte man am Gurren und an dem Trippeln. Die warteten, daß Hans in die Haustür trat und ihnen [19] das Futter streute; sie kannten ihn ganz genau und ließen sich nicht irre machen, wenn ein andrer kam und sie anführen wollte. Von den Äpfeln konnte er übrigens im Herbst, wenn sie reif waren, immer jeden Abend einen mit ins Bett nehmen; dann zog er die Decke über die Ohren und aß ihn heimlich für sich. Die Sorte war auch gut.
Jetzt hörte er Schritte auf der Treppe: ganz geschwind kniff er die Augen zu, aber sein Gesicht lachte. Die Mutter trat ein, warf ihm ein Kissen aufs Gesicht, faßte ihn darunter und hielt ihn fest; dazu sang sie:
Dann küßte sie ihn recht herzlich, und er wischte sich den Mund ab und rutschte aus ihrem Arme auf die Erde. Ob er heute den Tauben wohl Erbsen streuen durfte? Aber es war ein ganz besonderer Tag. Die Mutter kriegte ihn vor und wusch ihn außergewöhnlich gründlich, daß er mit den Zähnen klapperte über das nasse Wasser und ganz blankgescheuerte Backen bekam. Dann kämmte sie ihm das Haar glatt, das ihm sonst borstig und hell in die Höhe stand; erst bearbeitete sie es mit Wasser, nachher mit Pomade.
Hans fragte mit großer Neugierde, was denn heute geschehen werde; aber die Mutter lachte nur und antwortete ihm nicht. Sie holte den guten Anzug aus dem Schrank, und auch seinen Kragen und die Manschetten kriegte er; die waren zwar recht ausgewaschen, und einem verwöhnten Stadtkind wären sie nicht mehr ganz anständig erschienen, für Hans aber waren sie eitel Prunk und Herrlichkeit. Und wie er nun [20] so fein angezogen war, ermahnte ihn die Mutter, daß er sich fromm in die Stube setzen sollte und ein Buch vornehmen, damit er den guten Anzug schonte und sich nicht unordentlich machte. Da holte er seine Lesebücher zusammen: den Preußischen Kinderfreund, drei Bände Spinnstube und die Bibel und begann für sich zu lesen; denn eigentlich war ihm das Lesen doch das Liebste, und vollends, wenn der Vater nicht da war, der immer wollte, daß er etwas Nützliches studierte; die Mutter aber meinte, es sei alles nützlich und gut, was in seinen Büchern stand. So las er im Kinderfreund seine Lieblingsgeschichten von der gnädigen Frau von Paretz, und das Gedicht: Als Kaiser Friedrich lobesam ins heil'ge Land gezogen kam (bei dem er immer meinte, lobesam müsse mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben werden, weil es doch der Nachname Kaiser Friedrichs sei); und in der Spinnstube las er die Geschichte von Wittington und seiner Katze, der dreimal Bürgermeister von London wurde, welche Stadt anderthalb Meilen lang und fast eine Meile breit ist, achttausendeinhundertundeinundneunzig Straßen hat, hundert freie Plätze von großer Ausdehnung, zweimalhundertundfünfzigtausend Häuser, und zwei Millionen Einwohner. Das war einmal eine Stadt!
Zuletzt sagte die Mutter dem Hans, was bevorstand, denn der Herr Graf mit seiner Gemahlin und den Kindern wollten eine Lustfahrt durch den Wald machen und dabei im Forsthause einsprechen. Denn es waren noch nicht die Zeiten, die im vorigen Kapitel geschildert sind, und die bösen Zustände im gräflichen Hause wurden noch nicht äußerlich bemerkt.
Da kam der erste Wagen, der von stolzen Pferden gezogen wurde, welche die Beine tänzelnd hoben und den Kopf hochhielten; nachher, wie sie standen, spielten sie mutwillig mit dem Gebiß; man sah es ihnen wohl an, daß sie in Herrendienst waren und in Wohlleben. Der Kutscher trug eine sehr stolze Livree und saß hochmütig auf dem Bock, als gehe ihn die ganze Welt nichts an; und die Frau Gräfin mit der kleinen Komtesse lehnten im Wagen und sahen gar nicht so stolz aus wie der Kutscher und lächelten beide freundlich, indem die Mutter den Schlag aufmachte. Hans hörte, wie die Frau Gräfin immer lobte und sagte: »Schön, sehr schön, ausgezeichnet, liebe Frau Werther.« Er [21] mußte eine Verbeugung machen, die ihm die Mutter vorher eingeübt hatte, und war sehr verlegen; am liebsten wäre er ganz weit weg gewesen.
Da die Frau Gräfin ihm auftrug, daß er der kleinen Komtesse alles zeigen sollte, was zu sehen wäre, so faßte er die bei der Hand und ging mit ihr aus der Stube; sie war wohl ein Jahr jünger wie er, aber er war fest entschlossen, sie mit »Sie« anzureden; solange es ging, wollte er sich indessen um die Anrede drücken, weil er doch nicht wußte, ob es nicht komisch war, wenn er »Sie« sagte. Sie sprach zuerst und erzählte, daß sie ihr weißes Kleid nicht schmutzig machen dürfe. Sie hatte ein weißes Kleid, das war ganz aus Spitzen, wie aus Luft, und in der Mitte war ein blauseidenes Band. Er wußte nicht recht, was er antworten sollte, da fielen ihm seine Manschetten ein, die zog er von den Händen und zeigte sie ihr; das war ihr sehr merkwürdig, und sie sagte, daß bei ihren Brüdern die Manschetten aus einem Stück seien mit den Hemden, aber so, wie er es habe, sei es gewiß viel vernünftiger, weil man sich dann nicht so schrecklich viel umzuziehen brauche.
Nun führte er sie in den Stall, die Treppe hinauf, zum Heuboden. Hier hatte er im Heu sich einen langen Gang gegraben, und am Ende hatte er eine Höhle, deren Decke war mit Brettern gestützt, daß sie nicht einstürzte. Eigentlich war das eine Höhle der alten Deutschen, aber man konnte hier auch Mann und Frau spielen, dann war die Höhle der Raum, wo die Frau blieb und Mittagessen kochte oder flickte, und der Mann kam nach Hause aus dem Wald. Die Komtesse war einverstanden, daß sie so spielen wollten. Deshalb kroch er erst in den Gang hinein, und wie er hinten in der Höhle saß, rief er ihr, daß sie nachkommen sollte, damit er ihr das Innere zeigte, das war freilich ganz dunkel. Sie kroch auch ganz tapfer nach, wie sie aber in der Mitte des Ganges steckte, hielt sie plötzlich still und fing ganz jämmerlich an zu weinen, weil sie mit einem Male Angst kriegte. Er tröstete sie und sagte, die Mädchen hätten immer Angst, und sie solle nur weiter kriechen, dann käme sie zu ihm; aber sie weinte immer lauter und rief nach ihrer Mama. Da kroch er zurück, und sie schob sich auch rückwärts aus dem Gange, und wie sie draußen standen, sahen sie recht unordentlich aus und waren voller Heu. Dann wurde beschlossen, sie [22] sollte den Mann vor dem Hause erwarten, denn es müßte Sommer sein, und in der Stube müßte es heiß sein. Deshalb ging er fort, die Treppe hinunter, aber mit dem Kopf durfte er nicht verschwinden, sonst wollte sie wieder weinen, dann kam er wieder, trampelte laut mit den Füßen, rief: »Kusch, Pollux!« und sagte: »Guten Tag, Frau, was macht der Junge?« Sie antwortete: »Er ist artig gewesen, darum muß er auch einen Kuß kriegen.« Diese Antwort brachte ihn aus dem Konzept, weil sie ihm ungewohnt war, deshalb fragte er weiter: »Hast du auch was Gutes gekocht?« – »Nein,« sagte sie, ich habe in der ›Semaine des Enfants‹ gelesen.« Nun wußte er wieder nicht weiter, deshalb sagte er: »Ach, das ist ein dummes Spiel, wenn du nicht so eine Heulliese wärst, so könnten wir jetzt durch die Heuluke durchklettern in die Kuhkrippe.« Da versprach sie ihm, daß sie auch ganz gewiß nicht wieder weinen wollte, und dann machte er die Heuluke auf, sie legten sich auf den Boden und sahen, wie unten die Kuh in die Höhe guckte, mit den Lippen bettelte und durch die Nasenlöcher pustete. Das war so komisch, daß sie lachen mußte. Hans zeigte ihr, wie man sich durch die Luke in die Krippe niederlassen konnte; die Kuh pustete neugierig und leckte mit der Zunge ihn an, weil sie dachte, er sei ein Heubündel; das war noch komischer wie das andre; aber mit in die Krippe steigen mochte die Komtesse doch nicht.
Unten bei der Kuh waren Hansens Kaninchen. Die wollte die kleine Komtesse gern sehen. Sie gingen hinunter, und die Komtesse bewunderte den langen, kleinen Gang an der Wand, der aus Brettern gezimmert war, und das Schlupfloch, das ein Arbeiter schön blau und rot bemalt hatte. Hans fing ein ganz weißes Kaninchen und reichte es ihr an den Ohren hin; es hielt ganz still, wie sie streichelte, und plötzlich fing es stark an zu zappeln, daß sie zuerst erschrak; nachher mußte sie aber selber lachen über ihre Furcht, wie sie die niedlichen roten Augen sah. Dann nahm Hans das Brett am Ende des Laufganges weg, wo das Nest war; da lagen sechs kleine Kaninchen bei ihrer Mutter, die waren ganz zahm und ließen sich auf die Hand nehmen, und ihre Mutter machte ein Männchen und schnupperte nach oben. Über das alles war sie so entzückt, daß Hans zuletzt strahlte vor Stolz und Freude; und nachdem er sich lange überlegt, ob er wohl nicht Zanke bekäme von [23] der Mutter, wenn er ihr ein Geschenk anböte, fragte er, ob sie ein Pärchen haben wolle. Da war sie ganz glücklich, und mit immer neuem Vergnügen suchte sie sich zwei von den kleinen Tieren aus, nahm sie in ihr Kleid und sprang zu ihrer Mutter in der Stube. Die sagte mehrmals, die Tiere seien sehr schön, aber als das Kind sie bat, ob es sie mitnehmen dürfe, antwortete sie, daß es doch zu Hause keinen Raum hätte, wo es sie lassen könne; und die Kleine, die schon wußte, daß auch noch eine leichtere Ablehnung endgültig war, gab dem Hans mit Tränen in den Augen und ohne Worte die Tierchen wieder zurück und setzte sich dann still ans Fenster. Die Frau Gräfin sagte dann, sie sei wohl recht wild gewesen, und sie müsse jetzt artig sein, ihre Brüder würden bald kommen. Hans stand da mit den beiden kleinen Kaninchen, eins in jeder Hand, und wußte nicht, wo er hingehen sollte; in seiner Verlegenheit bot er sie der Komtesse noch einmal stumm an; die schüttelte das Köpfchen und sah durchs Fenster. Seine Mutter stand auf, öffnete die Tür, schob ihn hinaus und sagte ihm, er solle die Kaninchen wieder in den Stall bringen; das tat er auch; und weil er nicht recht wußte, wie er wieder in die Stube gehen solle, so blieb er draußen unter der Toreinfahrt, steckte die Hände in die Hosentaschen und pfiff mit erkünsteltem Gleichmut ein Lied. Ganz wohl war ihm nicht, denn er hatte wohl gesehen, wie die Frau Gräfin böse geworden war, nur daß sie es nicht so zeigte, wie seine Mutter es pflegte.
Nach einer Weile aber kam die kleine Komtesse wieder heraus, trat neben ihn hin und sagte: »Ich danke dir auch schön, und du mußt nicht böse sein; wenn wir einen Raum hätten für die Kaninchen, so hätte ich sie nehmen dürfen.« Dann zog sie ein Albumbildchen hervor, das stellte Dornröschen dar, wie der Prinz es gerade wachküßt, das schenkte sie ihm. Er steckte das Bild gleichmütig in die Tasche. Sie sagte dazu: »Ich hätte es gerne selber behalten, unser Küchenmädchen hat es mir geschenkt, aber dir will ich es geben.«
Indem sie noch so sprachen, fuhr ein andrer Wagen vor, in dem saßen der Graf und die beiden Jungen, die ungefähr in dem Alter waren wie Hans; und auch der Förster saß im Wagen. Der Vater sprang schnell heraus und war der Herrschaft behilflich beim Aussteigen. Der Herr Graf faßte die kleine Komtesse beim Zöpfchen, sie warf sich ihm [24] in die Arme und hätte wohl gern noch einmal gebeten wegen der Kaninchen, wenn sie gewagt hätte.
Nun trat die Frau Gräfin aus dem Haus und gab der Försterin freundlich die Hand. Die kleine Komtesse umfaßte ihren Rock und bat: der kleine Hans soll mitfahren. Sie bat so herzlich, daß die Frau Gräfin fragte, ob die Eltern das erlaubten; die sagten natürlich ja, die Mutter zupfte Hans noch einmal zurecht, und dann stiegen alle ein. Die Kinder durften in dem einen Wagen für sich bleiben, nachdem sie dem Kutscher auf die Seele gebunden waren, der Graf war mit seiner Gemahlin in dem andern, und nun ging die Fahrt fort in den Wald.
Dem Hans war sehr befangen zumute, denn er hatte das Gefühl, daß er ganz anders saß und sich bewegte und sprach wie die jungen Grafen; die sahen so aus, als dachten sie gar nicht an ihre Bewegungen, und er meinte, daß sie wohl heimlich über ihn lachen möchten. Das Mädchen erzählte von den Kaninchen, und wie reizend die gewesen seien; da sprachen die beiden Brüder geringschätzig und meinten, Kaninchen seien gar nichts Besonderes, und wenn sie nur wollten, könnten sie Hunderte haben; und wie die Kleine erzählte, daß sie die beiden geschenkten Jungen nicht hatte mitnehmen dürfen, da lachten sie und sagten, sie verstehe das nicht, wie man seinen Willen erreiche; da müsse man so lange heulen, bis einem erlaubt werde, was man wolle. Hans kriegte runde Augen über diese Ansichten und sagte zwar nichts; die Brüder aber merkten wohl, daß ihm ihre Reden unrecht vorkamen, deshalb machten sie sich gefaßt, ihren Spaß mit ihm zu treiben, denn sie hielten ihn für einen Duckmäuser.
Sie sagten nicht »Vater« und »Mutter«, sondern der »Alte« und die »Alte« und rühmten, welche Taten sie mit ihrer Schnappschleuder begingen, wie sie da den Bauern die Fensterscheiben entzweischossen, ohne daß jemand merkte, von wem der Schuß kam. Noch nahmen sie scheinbar keine Notiz von Hans, weil sie keine rechte Anknüpfung hatten, aber sie knufften sich heimlich, um sich auf ihn aufmerksam zu machen, wie er dasaß mit seinen hellen Augen in dem blankgescheuerten Gesicht. Wie ihre Schwester von den Manschetten erzählte, prusteten sie los mit Lachen und sagten, das seien Sparröllchen, wie sie Herr Müller trägt, der Hofmeister; gestern hatten sie gehört, [25] wie ihre Mutter zum Vater gesagt hatte, Herr Müller mit seinen Sparröllchen sei doch zu unterirdisch.
Hans wurde feuerrot und schämte sich sehr und hätte fast angefangen zu weinen; aber er bezwang sich noch. Der älteste von den Brüdern fragte ihn: »Kannst du auch schon reiten? Wir haben jeder einen Pony, auf dem lernen wir reiten, ich darf schon allein.« Hans schüttelte den Kopf; dann erzählte er, daß ihre Elsbeth einmal wochenlang jeden Tag zweiundzwanzig Liter Milch gegeben habe. Da prusteten die Brüder wieder los, das kleine Mädchen aber sagte zu ihm: »Du mußt dich nicht ärgern über sie, das sind dumme Jungen.« Ihm aber war, als ob sie im Einverständnis sei mit den beiden, die ihn auslachten, und das kränkte ihn am meisten; aber er wußte nicht, was er antworten sollte.
Indessen erzählten die andern weiter, wie sie schon geraucht hatten und sich Geld borgten von den Leuten; und wie den einen der Vater einmal zur Rede gestellt, hätte er einfach alles abgestritten, und der Vater hätte gelacht und gesagt, er könne sich gut herauslügen, aber er, der Vater, merke doch die Wahrheit; aber getan hätte er ihm nichts. Dann fragten sie Hans, ob sein Vater seiner Mutter auch zuweilen etwas vorlog. Er schüttelte mit dem Kopf. Sie antworteten, er sei noch zu dumm, da merke er das nicht. Da kam ihm plötzlich ein neues Gefühl in die Bewunderung der Ruhmredigkeit der andern, die Stimmung von Zuhause und der Stolz, den er gegenüber den Tagelöhnerkindern hatte, und er sagte: »So einen Vater wie ich hat auch keiner.« Der älteste von den beiden antwortete überlegen: »Das denkt man immer, solange man noch klein ist.« Dann fragten sie, ob sein Vater ihn schlug, und Hans erzählte, daß er eine Peitsche hatte mit neun Riemen, das war die neunschwänzige Katze, mit der kriegte er, wenn er ungezogen gewesen war. Da kam ihm wieder vor, als sei bei ihm zu Hause alles dumm, und er selbst sei ganz dumm, und die beiden erschienen ihm wieder hoffnungslos überlegen. Die Wagen fuhren zu einer Waldblöße, die war von allen Seiten eingeschlossen durch die hohen Tannen, und war der Boden etwas abhängig und mit braunem Gras bedeckt von vorigem Jahr; schon kamen die ersten grünen Grasspitzen aber hervor, und die Primeln blühten. Auf dem untern Teil hatten sich einige Birken angesiedelt, die etwa mannshoch waren; über denen schwebte eben [26] ein hellgrüner Hauch. Aber an der trockensten und sonnigsten Stelle lag ein großer flacher Stein. Auf diesem deckten die Leute, denn die Herrschaften wollten im Freien vespern. Die Kinder durften im Walde spielen. Hans war aus Schüchternheit ungeschickt; weil er bei dem kleinen Mädchen die einzige Zuneigung verspürte, so hielt er sich immer zu dieser, wiewohl er dadurch das Spiel oft störte. So versteckten sie sich hinter den Bäumen, und es war in seiner Nähe kein starker Baum, und er blieb hinter einem ganz dünnen stehen, obwohl er selbst wußte, daß ihn die andern gleich sehen mußten. Wie er selbst suchen sollte, war er zu schüchtern, die Jungen zu fangen, die er fand, und ließ sie entkommen, wiewohl er sich heftig ärgerte über diese Schüchternheit; hinter dem kleinen Mädchen dagegen lief er sehr eifrig her. Über alles dieses wurden die Jungen ärgerlich und zankten mit ihm; er aber lächelte bloß entschuldigend und konnte sich nicht verteidigen, und die beiden kamen zu dem Schluß, er sei dumm. Daß er sich immer an ihre Schwester heftete, merkten sie bald, und da verspotteten sie diese, sie habe einen Verehrer bekommen, der Dumme sei in sie verliebt. Darüber wurde die ärgerlich und war kurz gegen Hans; und wie der, obgleich er das merkte, doch nicht abließ von seiner Art, sagte sie ihm endlich ganz grob, er solle sie in Ruhe lassen, er sei dumm. Da stand er traurig für sich allein da und sah zu, wie die andern spielten, und mußte mit aller Gewalt die Tränen zurückhalten. Mit einem Male aber kam es über ihn, nämlich plötzlich, bei einer ganz geringen Gelegenheit, als es ihm schien, der ältere Bruder sehe spöttisch nach ihm hin, da lief er wütend auf den zu, packte ihn bei den Haaren und schlug kräftig auf ihn ein; der jüngere Bruder eilte herbei und griff Hans an, aber der ließ sich nicht irre machen: fühlte wohl gar nichts von seinem Angreifer. Endlich kamen die Kutscher und trennten die drei.
Wie sie vor die Herrschaft gebracht waren, klagten die Brüder mit geläufigen Worten über Hans, der habe das Spiel schon von Anfang an gestört, dann sei er brummig zur Seite geblieben, und endlich habe er ohne Grund sie überfallen. Hans stand niedergeschlagen da, denn das war alles richtig, was die sagten, und er wußte selbst nicht, weshalb er plötzlich so wütend geworden war. Der Herr Graf sagte zu seinen Söhnen, sie würden gewiß schuld haben, aber wenn sie denn[27] nun einmal keinen Frieden untereinander halten könnten, so solle der Försterjunge nach Hause gehen. Nun dachte Hans, daß er sich wohl erst bedanken müsse; aber das konnte er nicht; deshalb drehte er sich um und ging langsam einige Schritte; und wie er dachte, daß er weit genug sei, lief er aus Leibeskräften, bis er atemlos nach Hause kam.
Hier fand er nur die Großmutter vor; er ging zu ihr in die Stube und weinte in ihren Schoß.
Wie der Vater nach Hause zurückkehrte, wußte er schon von dem Geschehenen, rief den kleinen Hans zu sich und fragte ihn. Der antwortete, daß alle sehr artig gewesen seien und besonders die kleine Komtesse, aber ihn habe plötzlich eine Wut gepackt, er wußte nicht woher, daß er habe den einen schlagen müssen. Mehr konnte er nicht sagen, und keine weitere Vorhaltung nutzte etwas. Endlich fragte ihn der Vater, ob er wisse, daß er sehr ungezogen gewesen sei und Hiebe verdient habe. Da sagte er ja, holte auch die neunschwänzige Katze herbei. Wie ihn der Vater schlug, bezwang er sich zuerst und muckste nicht, nachher aber weinte er doch, denn die Katze tat sehr weh.
Am Abend setzte er sich in der Dunkelheit ans Fenster; der Vater saß still in der Sofaecke. Da stand er leise auf, ging zu seinem Vater, stieg dem auf den Schoß und weinte an seiner Brust. Der Vater dachte, er müsse ihn trösten der Schläge wegen und sagte, er sei doch ungezogen gewesen, und einem Vater tue das selbst weh, wenn er seinen Jungen schlagen müsse, und das wisse er doch selbst, daß er die Schläge verdient habe. Da nickte Hans und sagte: »Das ist es nicht, das hat manchmal schon weher getan.« Wie ihn der Vater nun weiter fragte, faßte er sich zuletzt ein Herz und sprach: »Nicht wahr, du lügst doch nicht?« Hierüber wurde der Vater ganz erstaunt, antwortete, daß er allerdings nicht lüge und fragte dann, wie Hans auf solche Gedanken komme. Hans schluchzte von neuem und erzählte endlich, was die beiden Jungen auf der Fahrt und nachher gesprochen hatten. Der Vater wurde recht nachdenklich und begütigte ihn, indem er ihm sagte, daß die jungen Grafen vorlaute Jungen seien, die überall zuhörten, auch wo es ihnen verboten sei, und nun in ihrer Dummheit allerhand falsche Meinungen ausheckten. Damit gab sich Hans am Ende zufrieden, hörte allmählich auf zu weinen und schlief zuletzt auf seines Vaters Schoße ein. –
[28] Der Großmutter war es den Winter hindurch schlecht gegangen; sie klagte über ihre Beine, daß die sie nicht mehr recht tragen wollten und fürchtete sich vor Zug; abends ging sie früher zu Bett wie sonst, und am andern Morgen erzählte sie, daß sie nicht habe schlafen können. Dafür geschah es, daß sie am Tage unversehens einschlief, wenn sie in ihrem Lehnstuhl am Ofen saß und strickte; das Strickzeug sank ihr in den Schoß, und sie wachte auch durch lautes Geräusch nicht auf. Man mußte aber tun, als ob keiner etwas merkte hiervon, sonst wurde sie böse; wenn sie die Augen wieder aufschlug, so sah sie sich um, ob jemand sie beobachtete, und dann nahm sie ihr Strickzeug vor das Gesicht.
Gegen den Frühling kam der Tischler, der die Fenster in Ordnung bringen sollte, denn deren unterer Riegel war faul geworden, und das Wasser lief auf die Fensterbank. Mit dem sprach die Großmutter über Särge, fragte, was die verschiedenen Arten kosteten, und wunderte sich, daß alles so teuer geworden war, und erkundigte sich genau nach der Haltbarkeit. Es zeigte sich, daß bei Särgen sehr viel Betrug unterlief, denn die Handwerker hatten keine Furcht vor Gott und keine Scham und glaubten, bei einem Begräbnis müßten sie mehr verdienen wie bei andern Arbeiten.
Als die Kraft der Sonne zunahm, stand sie oft am Fenster und sah, wie der Schnee in sich zusammensank, und dann kam Tauwind und Regenwetter, und in den Schlittenspuren auf der Landstraße schoß das Wasser bergab. Jetzt sagte die Großmutter oft: »Nun schlagen die Bäume bald aus«; sie dachte aber bei sich, wenn die Bäume ausschlügen, so würde sie sterben; auch sagte sie: »Die Schneeglöckchen erlebe ich noch.« Das sprach sie alles für sich hin, wenn sie allein in der Stube war oder nur der kleine Hans auf seinem Fußbänkchen still saß. Einmal faltete sie die Hände und sagte: »Des Menschen Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.«
Wie sie noch Kind war, hatten ihre Eltern sie in eine Sterbekasse eingekauft, und achtzig Jahre lang hatte sie ihre Pfennige gesteuert. Jetzt las sie viel in dem alten, abgegriffenen Quittungsbuch, in dem vorn die Satzungen der Kasse abgedruckt standen und hinten auf leeren [29] Blättern so viele Jahre hindurch der Empfang des Beitrags bescheinigt wurde; sie las und rechnete für sich alle Kosten und Ausgaben zusammen.
Ein schöner Frühlingstag kam. Das Stubenfenster stand lange auf, und eine Frühlingsluft drang herein, eine frische und sonnenscheindurchtränkte. Draußen war es schon ganz trocken, und die kleinen Vögel machten allerhand Zwitschern, Pfeifen und Tirilieren; die Großmutter saß lange am Fenster und hatte diesmal gar keine Furcht vor der Erkältung. Dann sprach sie mit der Mutter wegen des Grabes ihres toten Mannes, das um diese Jahreszeit besorgt werden mußte, und endlich sagte sie, daß sie sich jetzt zu schwach fühle, um noch aufzubleiben; sie wolle sich legen; aber auf ihrer Kammer sei es ihr zu einsam; ihr Bett solle hier in der Stube aufgeschlagen werden, in der Ecke, wo ihr Lehnstuhl gestanden.
Die Mutter verspürte wohl, was sie meinte, und daß sie wußte, sie werde von diesem Lager nicht wieder aufstehen; so antwortete sie, daß heute abend, wenn der Mann zu Hause sei, alles so gemacht werden solle, wie die Großmutter es wünsche.
Das geschah auch, und nun war die Großmutter unten in der Stube im Bett; sie hatte viele Kopfkissen im Rücken, so daß sie halb saß; deshalb vermochte sie auch noch zu stricken wie früher. Wenn der Vater abends nach Hause kam, ging er erst zu ihr, gab ihr die Hand und sprach ein paar Worte. Es war, als sei sie jetzt viel wichtiger geworden wie vorher; die Mutter fragte sie um manches, davon sie ihr sonst nichts mitgeteilt, und recht oft erhielt sie ein besonderes Leckerbißlein, das die andern nicht bekamen.
Einmal rief die Großmutter die Mutter zu sich ans Bett. Die kam und fragte, was sei. Da sagte die Großmutter nach einer Pause: »Ich wollte dir nur sagen, daß du immer gut zu mir gewesen bist, so sind nicht alle jungen Frauen. Ich bin gewiß manchmal wunderlich gewesen, aber ich habe es immer gut gemeint.« Da sah Hans, wie seiner Mutter die Tränen kamen, daß sie die Schürze vor die Augen nahm und schnell fortging.
Dem kleinen Hans erzählte die Großmutter jetzt viel; und wiewohl er gern draußen war und mit dem schmelzenden Schnee spielte, Flüsse [30] leiten und Dämme bauen, daß sich große Teiche bilden, und dann wieder Kanäle graben und Wasserfälle machen, so blieb er doch viel lieber in der Stube bei der Großmutter und hörte ihre Erzählungen aus der alten Zeit.
Sie sprach aber von ihrem Vaterhaus, das schilderte sie ganz genau von außen und innen und zählte die Stuben und Fenster und Türen, und die Öfen beschrieb sie, und die Treppe und die Haustür; und alles wurde prächtig und märchenhaft in ihrer Erinnerung. Dann sprach sie von der Wiese, und wie sie alle ins Heu gingen mit großen Hauben aus Kattun, und vom Garten erzählte sie und von den Obstbäumen; da war ein Apfelbaum, der trug Borsdorfer, solche Äpfel gab es nicht mehr; und von Kirschen hatten ihre Eltern alle Sorten, und im Herbst, wenn die Abende länger wurden, dann holten sie immer eine große Schüssel Pflaumen vom Boden, die wurde auf den Tisch gesetzt. Der Urgroßvater war Silberbote gewesen, das war ein Bergmann, auf den man besondere Stücke hielt, der mußte zweimal in der Woche das ausgebrachte Barrensilber zur Münze bringen. Da ging er denn abends zum Herrn Bergrat, der packte die Barren in einen Tornister, den versiegelte er; dann kam er wieder nach Hause und verschloß den Tornister in seinem Koffer und nahm den Schlüssel in die Tasche; denn früh am andern Morgen um drei Uhr mußte er sich auf den Weg machen und acht Stunden weit gehen durch den dicken Wald: zur Winterzeit war oftmals der Weg verschneit und keine Trappe Bahn; dazu war damals der Wald noch gefährlich wegen der Wölfe, und in der Franzosenzeit gab es auch Räuber. Deshalb holte der Vater die Bibel und das Gesangbuch aus dem Schapp und las vor, ein Stück aus den Evangelien, von dem Mann, der unter die Räuber fiel, oder ein andres, dann knieten alle nieder und beteten zum lieben Gott, daß er ihn beschützen möge, und am Ende sangen sie ein frommes Lied. Wenn die Kinder dann am andern Morgen aufwachten, so war der Vater schon lange auf dem Wege; und erst am Abend um neun kam er wieder mit dem leeren Felleisen und der Quittung, das mußte ein Kind beides gleich zum Herrn Bergrat bringen. Wenn es aber um die Zeit war, daß der Vater heimkehren mußte, so harrten alle in Angst, und oftmals gingen sie ihm entgegen, weil sie Furcht [31] hatten, es möchte ihm etwas geschehen sein. Aber Gott hat ihn immer behütet, und er hat ein hohes Alter erreicht.
In diese Erzählungen mischte die Großmutter Mahnworte und fromme Reden, indem sie begann: »Und wenn ich tot bin, so vergiß nicht, was ich dir jetzt sage.« Sie erzählte aber, sie habe gefunden, daß in heutiger Zeit die Manschen mehr Angst hätten um ihr tägliches Brot wie früher und sich viele Sorge machten um Irdisches. Als sie ein Kind gewesen, haben die Menschen andre Gedanken gehabt; indessen sei es möglich, daß die Ursache der Sorgen in dem beschlossen sei, daß die Menschen heute nicht mehr so ordentlich und gut seien wie früher. Es sagt aber der Psalmist: »Ich bin jung gewesen und alt geworden und habe noch nie gesehen den Gerechten verlassen oder seinen Samen nach Brot gehen.« Diesen Satz gab sie dem kleinen Hans ganz besonders und schärfte ihn dem Kinde vielmals ein und fügte hinzu: »Strebet zuerst nach dem Reiche Gottes, so wird euch dieses alles zufallen«, und sagte nochmals: »Hieran denke, wenn ich tot bin, und vergiß nicht meine Worte.«
Weiter erzählte sie von ihrem Großvater, den sie noch gekannt als einen eisgrauen kleinen Mann, der schon ganz in die Erde gewachsen war. Der war weit in der Fremde herumgekommen als ein Bergmann, in Ungarn und Böhmen, aber dann wieder in die Heimat gekehrt mit seinem Ersparten und hatte das Haus gekauft und die Wiesen. Der las viel in einem alten Buche, das hieß die »Insel Felsenburg«, darin waren Lebensbeschreibungen von allerhand Menschen und merkwürdige Schicksale, Reisen und Schiffbrüche, bis alle endlich zusammenwohnten auf einer einsamen Insel im Meer, wo sie in Ehrbarkeit und Sitte lebten, sich freiten und Kinder kriegten und die Insel bevölkerten. Sie, die Großmutter, hatte er am liebsten, die damals noch ein kleines Mädchen war und zu seinen Füßen saß auf dem Fußbänklein, »gerade wie du, mein lieber Hans. So vergehen die Jahre, und die Menschen werden groß, und die alten sterben, und junge kommen auf, und ist mir, als sei es gestern gewesen, daß ich aufhorchte, wie er mir erzählte von den Silbergruben in Ungarn und von den großen Meerschiffen. Und ist zu denken, daß auch mein Großvater dereinst als Kind aufgeschaut hat zu seinem Ahn, und geht die Reihe der Geschlechter [32] fort durch die Jahrhunderte, und auch du, mein liebes Kind, wirst einst Kinder haben, und Enkel werden zu deinen Füßen sitzen, und du wirst denken: ›War es nicht gestern, daß ich hörte, wie die Großmutter mir erzählte?‹ Aber dann werde ich schon lange in der Erde liegen neben deinem Großvater, der so jung hat sterben müssen, daß er deinen Vater nicht mehr gesehen hat, und habe ich an fünfzig Jahre die Stelle betrachtet, wo ich einstens neben ihm liegen werde.«
Der kleine Hans saß still und horchte auf der Großmutter Worte. Noch verstand er nicht, was sie meinte, denn ein Kind kennt nur den Tag und ist wie ein Schmetterling in der Sonne, der nichts weiß von gestern und morgen; aber er verschloß ihre Reden treu in seiner Seele, und später haben die ihn getröstet und beschützt, als er keinen Trost von Menschen hatte und keinen Schutz. Auch sagte die Großmutter: »Du bist zwar noch ein Kind, aber du sollst doch schon jetzt wissen, was du sonst später erfahren hättest, denn du bist ja mein Blut und meines lieben Mannes. Deshalb will ich dir erzählen, wie ich und dein Großvater uns lieb gewonnen haben; denn auch du wirst einmal ein Mädchen lieb gewinnen und heiraten.«
Die alte Großmutter, die jetzt mit ihren achtzig Jahren strack in ihrem Bette saß, mit schneeweißem und glattem Scheitel, die Augen nach vorwärts gerichtet in ein neues Land, war einst ein junges Mädchen gewesen, hochgewachsen und schlank wie ein Tannenbaum, mit gelbem Ringelhaar und lustigen blauen Augen. Da sie so schön war und ihre Eltern eingesessene Leute, die ein Stück vor sich gebracht hatten, so fehlte es ihr nicht an Bewerbern. Nach der Art der jungen und unerfahrenen Dinger, die nicht wissen, wie das Leben ein gar schweres Wesen ist, erschien ihr das als ein Scherz und Spiel und vermeinte, sie dürfe stolz sein auf solche Menge der Freier, und äußerte den Stolz in allerhand Mutwillen, den sie mit ihnen trieb aus Gedankenlosigkeit; denn sie hatte noch nicht erfahren, was Liebe ist. Ganz besonders war ihr aber zugetan der junge Jägerbursche, der später ihr Mann werden sollte, der war ihr indessen zu ernsthaft, wiewohl ihre Eltern es gern sahen, daß er sich um sie bewarb. An einem Abend ging er mit ihr zusammen einen Weg nach dem Dorfe zu, und wie sie auf der Anhöhe standen und unter sich die Lichter blinken sahen, sprach er [33] zu ihr, daß er sie lieb habe, und wenn sie wolle, so werde er sie heimführen als seine Frau und sie lieben und ehren, wenn sie ihn lieben und ihm gehorsamen wolle; aber er sei noch nicht angestellt, und es sei recht möglich, daß sie ein paar Jahre warten müßten, bis sie heiraten könnten.
Auf dieses erwiderte sie schnippisch, denn sein ernster Ton hatte sie verdrossen, und daß er sprach von Gehorsamen. Sie sagte aber, daß sie einen Mann nicht nehmen möge, der schwarzhaarig sei, sondern sie wolle einen Blonden; und zudem begehrten sie so viele zur Frau, daß sie nicht nötig habe, zehn Jahre zu warten als Braut, sondern wenn sie wolle, so könne sie schon übers Jahr heiraten. Da sagte er, sie spreche wie ein unverständiges Kind, und vielleicht sei sie auch noch zu jung, um schon eine rechte Meinung in solcher ernsten Sache zu haben. Aber ihre leichte Art habe ihn sehr gekränkt, und deshalb bitte er, sie wolle denken, seine Worte seien ungesprochen. Aber wenn er sie nicht zur Frau bekommen könne, weil sie ja nicht wolle und auch er ein so gedankenloses Wesen nicht in sein Haus führen möge, so solle sie doch immer auf ihn rechnen, weil er sie trotz allem lieb habe, denn die Liebe kehrt sich nicht an die Vernunft, ja sie streitet mit ihr. Es sei aber sehr möglich, daß sie später einmal seine Hilfe irgendwie gebrauchen könne; und auch einen Groll wollten sie nicht auf einander behalten. Dieses stieß ihr wieder an die Krone, so daß sie noch törichter antwortete und ihn gänzlich von sich abwies.
»Aber merke dir, mein liebes Kind,« sprach sie von ihrem Bett zu dem kleinen Hans, der vor ihr saß, »wir Frauen sind andern Wesens wie die Männer; und wenn du nicht vergißt, was ich dir jetzt erzähle, so sparst du dir später viel Herzeleid und Kummer. Vorher habe ich deinen Großvater nicht lieb gehabt, aber wie ich ihm so leichtfertig antwortete, und er war ernst und streng, aber zugleich doch gut zu mir, da kam plötzlich die Liebe zu ihm in mein Herz. Nur daß mich die Schamhaftigkeit hinderte, ihm davon zu sagen; ja, es war, als triebe es mich, ihn jetzt gerade zu kränken. Das merke dir, denn wir Frauen sind ein schwaches Geschlecht, und die Männer sind stärker als wir und gerader.«
So geschah es, daß sie einen andern Bewerber offenkundig bevorzugte, einen Bergmann, der lustig die Zither zu schlagen verstand und [34] Lieder dazu sang und fröhliche Streiche anzustellen wußte. Mit dem lachte sie viel, und es war ihr lieb, wie sie sah, daß der andre finster wurde, wenn er sie mit ihm erblickte, Und einmal ging sie denselben Weg mit diesem, den sie vorher mit dem andern gegangen, und sprachen ähnliche Gespräche zusammen und kamen an dieselbe Stelle auf der Höhe, wo das Dorf unter ihnen lag mit seinen hellen Fenstern. Da fragte er sie, ob sie ihn liebhaben wollte, und zugleich umfaßte er sie und wollte sie küssen. Wie sie aber seinen Arm verspürte, tat sie einen Schrei und lief fort, hinab ins Dorf und kam unten an in großer Angst, wiewohl sie nicht kindisch war und schon einmal sich mit einem andern herzhaft abgeküßt hatte, welches jedoch gewesen war, ehe der Jägerbursche mit ihr gesprochen.
Von der Zeit an war sie verändert und wurde ernster, tanzte nicht und lachte nicht mehr mit den jungen Leuten, und kamen wohl mehrere Freier, aber sie wies alle ab. So ging es drei oder vier Jahre. Da begann sich Hansens Großvater wieder langsam an sie zu machen; er besuchte ihre Eltern am Sonntagnachmittag, spielte mit ihren jüngeren Geschwistern und sprach mit ihr selbst viel. Von seinen damaligen Worten redeten sie nicht wieder, aber sie wußten beide, auch ohne daß sie es sich sagten, daß sie jetzt verlobt seien, und daß sie warten wollten mit dem Heiraten, bis er eine Anstellung habe. »Und siehst du,« sprach die Großmutter zu dem Enkel, »das danke ich deinem Großvater noch heute, daß er nie wieder von dem Früheren gesprochen hat, obwohl er hätte über mich triumphieren können, denn ich hätte schweigen müssen, wenn er gespottet. Aber dein Großvater war ein Mann, wie er sein muß, er war hart und ernst, aber er war auch mild und gut. Dein Vater ist auch so geworden, und du mußt dir Mühe geben, daß du ihnen nachschlägst.« Da sagte Hans: »Ja, Großmutter, das will ich.«
Und die Großmutter mit ihren Augen, die schon über das Grab hinaus suchten, schwieg eine lange Weile; sie dachte an ihren Mann, den sie nur wenige Wochen gehabt und über ein halb Jahrhundert betrauert hatte, und daß sie ihn bald wiedersehen werde; das machte ihr eine sonderbare Freude und heftiges Heimweh.
In Hans war eine wunderliche Ernsthaftigkeit, und in sein Wesen kam eine größere Reife durch diese Gespräche, wie seinem Alter gewöhnlich [35] ist; in aller sonstigen Erfahrung aber blieb er kindlich und unwissend, und wurde seine Erziehung gerade entgegengesetzt, wie die Erziehung heute gewöhnlich ist, da die Kinder viel Fremdes sehen und manches Neue erfahren, früh Furcht und Achtung verlieren und gewitzt werden; dabei aber in ihr Wesen keinen Ernst bekommen und oft noch im wesentlichen kindisch bleiben, wenn sie schon Männer sein sollten.
In der Küche saß Dorrel, Kartoffeln schälend, mit einem bekümmerten Antlitz. Hans setzte sich ihr gegenüber. Wie sie ihn ansah, stand sie auf, stellte ihre Schüssel ab und rumorte mit den Herdringen. Sie wollte aber verbergen, daß sie weinte. Hans fragte: »Weshalb weinst du?« Da antwortete Dorrel nach langem Zögern und vielem Drängen, sie weine um die Großmutter, daß die nun im Sterben liege.
Hans wiegte den Kopf, dann sagte er: »Darüber muß man nicht weinen. Wir müssen alle sterben, und das wissen wir. Die Großmutter aber ist eine alte Frau, die in ihre Jahre gekommen ist; sie hat keine Sorge hinter sich, sondern weiß, daß sie meine Eltern in guter Ordnung verläßt; dazu leidet sie keinerlei Schmerzen, sondern ihr Leben lischt aus wie ein Licht. Deshalb hat sie selbst auch nicht Kummer über ihren Tod, vielmehr freut sie sich, weil sie jetzt wieder mit dem Großvater zusammenkommt.« Dorrel hörte diesen Worten mit großer Verwunderung zu und bekam eine sonderliche neue Achtung vor Hans, die sie bis dahin noch nicht gespürt. Deshalb sagte sie nach einer Weile: »Wenn du es so nimmst, so hast du recht, aber ich weine um meinetwillen, denn sie ist mir immer eine gute Frau gewesen, und ich habe sie lieb.«
Hiernach war Hans wieder eine Weile nachdenklich, dann sprach er: »Ich habe sie auch lieb, aber ich bin nicht traurig und will auch nicht weinen.«
Dorrel mußte auf den Boden gehen, um Räucherware zum Abendbrot aus der Rauchkammer zu holen. Sie bedachte sich, wie sie es machen sollte, daß sie nicht allein war. Endlich befahl sie dem kleinen Hans, daß der die Laterne tragen mußte; sie ging hinter ihm her mit Furcht. Als sie oben waren, merkte Hans, daß sie Angst hatte; und [36] weil er nicht wußte, welches der Grund sein konnte, fragte er sie. Sie sagte ihm, sie fürchte sich, weil ein Sterbendes im Hause sei. Da wurde er wieder nachdenklich und schüttelte endlich den Kopf über sie, aber er sagte nichts mehr. Indessen hatte er von nun an das Gefühl verloren, daß Dorrel als eine Erwachsene über ihm stehe, und empfand sie nur noch als eine Gleichgestellte, ja als eine solche, die er unter Umständen beschützen dürfe; und Dorrel ging ohne Klarheit auf dieses veränderte Verhältnis ein. Ihm selbst war auch nicht bewußt, worin der letzte Grund lag, nämlich daß Dorrel in Dumpfheit und unwissender Furcht befangen war und nur nach Trieben lebte, die sie nicht verstand: er selbst aber lebte schon zu einem Teil in Helligkeit und klarem Denken und Prüfen.
Eine Zeit der Dumpfheit und unwissenden Furcht kam für ihn später, als in der Großstadt das Fremde und Neue auf ihn einstürmte, das er nicht fassen und verarbeiten konnte; und wie es gerade schien, daß er in diesem Meer der Finsternis versinken müsse, da sollte ihm von der armen Magd ein helles Licht kommen, das ihm das Ufer wies und den Berg, darauf er zu neuer Helligkeit emporsteigen konnte.
Der Großmutter Zustand wurde immer schlechter; sie schlief des Nichts sehr unruhig und hatte Atembeschwerden. Daß jemand bei ihr wachte, wollte sie nicht; aber die Mutter schlich des Nachts mehrmals leise die Treppe hinunter und horchte an der Stubentür. Der kleine Hans brachte ihr die ersten Schneeglöckchen an ihr Bett; die sah sie lange mit glänzenden Augen an, dann stellte sie die Blümchen in ihr Wasserglas, das neben ihr stand. »Nun geht es bald zu Ende,« sagte sie zur Mutter, »und für euch ist das auch eine Erlösung.«
In den letzten Tagen sagte der Förster, er wolle nachts auf dem Sofa schlafen, damit jemand bei ihr sei. Aber sie erwiderte, er müsse früh aufstehen und in seinen Dienst gehen, da müsse er ordentlich ruhen, und die Mutter solle bei ihr bleiben, wenn sie es nötig finde; freilich sei sie eine alte Frau, deren Zeit abgelaufen sei, und halte es nicht für richtig, daß so großer Umstand um sie gemacht werde.
So brachte die Mutter abends ihre Betten herunter. Und in einer Nacht richtete sich die Ahne plötzlich strack auf und rief: »Anna, wie ist mir denn?« Dann begriff sie, daß das der Tod war, der zu ihr kam. [37] Da sagte sie: »Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist.« Die Mutter war zu ihr geeilt und hielt sie aufrecht; wie die Ahne diese Worte gesprochen, fühlte sie plötzlich, daß der Körper ihr schwer wurde in den Armen. Leise legte sie die Gestorbene zurück auf das Kissen, drückte ihr die Augen zu und faltete ihr die Hände über der Brust.
Dann war viel Laufen und Besorgen, wie das bei Sterbefällen so ist. Der Tischler kam wegen des Sarges, und allerhand Umstände mußten gemacht werden.
Die Gestorbene lag still und ernst da. Sie war sehr schön geworden im Tode; ein freies, offenes und stolzes Gesicht hatte sie wie eine Fürstin, und nichts Kleinliches oder Furchtsames war da zu sehen. Denn der Tod gibt jedem Menschen die Würde, die ihm gebührt; wenn die Muskeln erschlaffen, die unserm Gesicht den zufälligen Ausdruck verursachen, den es zwischen den Menschen hat, so treten die Knochen und Sehnen hervor, die seine Grundlage bilden; wer ein Bettler war, sieht dann aus wie ein Bettler, und habe er im Leben auch eine königliche Figur gehabt, und ein tüchtiger und freier Mensch bekommt ein stolzes und vornehmes Aussehen. Da zeigt es sich, daß alles äußere Geschick nur Zufall ist, unsre Figur und unser Wandeln unter den Menschen ein täuschender Schein; und unser wahres Leben, das wir in der unbekannten wahren Welt geführt, gibt hier ein sonderliches Zeichen von sich.
Wie der Tischler mit seinem Gesellen den Sarg gebracht hatte, legte der Vater mit dem Meister die Tote hinein und setzte ihr den vertrockneten Myrtenkranz auf und tat ihr den Brautschleier um, den sie vor fünfzig Jahren getragen und sorgsam aufbewahrt hatte; denn so wollte sie vor ihrem lieben Mann erscheinen, an den sie ein halbes Jahrhundert gedacht hatte, jeden Tag; und für dieses Andenken hatte sie ihren Sohn erzogen, bis er ein stattlicher Mann geworden, und dann den Enkel, der zwar nach seinem äußeren Wesen in ihre eigne Art schlug, nach seinem Innern aber ein Werther war. Wie das geschehen war, bekamen der Tischler und sein Geselle ein Frühstück, nach alter Sitte, aßen und tranken mit Bescheidenheit und lobten das Essen. Hierüber empfand Hans einen heftigen Haß gegen sie, in der Art wie damals gegen den jungen Grafen, und hätte sich auf sie stürzen mögen.
[38] Ein Junge von den Holzarbeitern, die unweit des Forsthauses wohnten, war in Hansens Alter, und deshalb hatte der manches mit ihm gemein, wiewohl keine eigentliche Freundschaft zwischen den beiden bestand. Den fragte er, ob er solche Gefühle auch habe; denn seinen Vater zu befragen, wagte er nicht, aus einer gewissen Scheu vor dem Erwachsenen. Der grinste und schüttelte den Kopf und wußte nicht, was Hans meinte. Nach längerem Überlegen kam er auf die Vorstellung, daß er auf diese Geständnisse und Fragen hin ihn hänseln könne. Aber wie er mit solcher Absicht anfing, trat ihm Hans gleich mit geballter Faust entgegen, und wiewohl der Junge viel stärker war wie Hans, wurde er da doch in Angst versetzt und entschuldigte sich, er habe nichts sagen wollen. Hans ärgerte sich und drehte ihm den Rücken.
Der Junge lief ihm nach und liebedienerte. Er sprach von einem Vogelnest, das er gefunden und für Hans aufgehoben habe; Hans erwiderte, daß er das Nest in Ruhe lassen solle. Dann wies er ihm eine Hand voll Murmeln, die er ihm schenken wollte; aber Hans schlug alles aus und ging weg.
Er hatte aber eine Sehnsucht danach, recht fröhlich zu sein, obwohl doch seine Großmutter gestorben war, die er sehr lieb gehabt; und weil er niemand fand, mit dem er hätte fröhlich sein können, so ging er traurig, niedergeschlagen und gereizt umher.
Wenn wir das Leben eines Menschen betrachten, soweit es betrachtenswert ist, also seine Bildung, so kann es uns einmal so scheinen, als stelle es eine zusammenhanglose Reihe von Zufällen dar; in andrer Geistesverfassung erblicken wir in demselben Leben ganz deutlich eine planmäßige Führung durch Gott; und wiederum mögen wir einen unbeirrbaren Trieb sehen, der diesen Einzelnen durch die wirre Umwelt mit untrüglicher Sicherheit vorwärtsstieß, daß er durch diese Kraft sich das eine aneignete, das andre zur Seite ließ; endlich ist sogar eine bewußte Gestaltung des Lebens durch diesen Willen des betreffenden Menschen zu finden. Wer hätte nicht, wenn er über die Schicksale von Menschen nachdachte, schon diese merkwürdige Entdeckung gemacht, daß man von derselben Sache als derselbe Mensch vier so ganz verschiedene Meinungen haben kann!
Ein solches inneres Erlebnis, wie der Haß gegen manche Menschen [39] und das unbestimmte Gefühl gegen den andern Jungen, ist gewiß sehr wichtig für die Bildung. Aber wie soll man es deuten? Es ist wohl am besten, die Deutung ganz zu lassen.
Zur Schule ging Hans ins Dorf, etwa eine Viertelstunde den Berg hinunter. Ein Wässerlein rann aus dem Walde hinab auf dem Grunde eines langen und schmalen Tales; an diesem entlang waren die Häuser gebaut, und die Felder zogen sich in schmalen Streifen zu beiden Seiten den Berg in die Höhe. Sehr beschwerlich war das Pflügen auf diesen abhängigen Feldern, und am schwersten war es, den Dung hinaufzuschaffen; deshalb sahen die Leute alle verarbeitet aus und waren auch arm, aber sie hatten einen unverdrossenen Mut. In der Jugend lebte damals ein unruhiger Geist, denn die, welche gedient hatten und das leichte Leben draußen gesehen, litt es nicht mehr zu Hause; dadurch kam viel Unfriede in die Familien, weil die Alten nichts von der Fremde hielten und wollten, daß die Jungen zu Hause blieben.
Kirche, Pfarrhaus und Schulhaus waren eben solche hölzernen und unscheinbaren Gebäudlein wie die Bauernhäuser; nur daß in der Pfarre alle Fenster mit Blumenstöcken besetzt standen und vor der Schule sich ein schmales Gärtchen mit blühenden Stauden und Sträuchern hinzog. Der Lehrer war ein alter hagerer Mann mit rasiertem Gesicht und mit straffem weißem Haar und leuchtenden Augen, und hatte eine aufrechte Haltung. Wenn er auf dem Katheder saß in seinem schwarzen Rock vor der weißgetünchten Wand, so sah Hans einen Heiligenschein um seinen Kopf glänzen, von welchem Gesicht er jedoch zu niemand sprach. Am schönsten war die Schule in den dämmerigen Winterstunden, wenn biblische Geschichte erzählt wurde, solche, wie der Engel des Herrn zu Abraham kam und zu seinem Weibe Sara. Und sprach Abraham: »Herr, habe ich Gnade gefunden vor deinen Augen, so gehe nicht vor deinem Knechte über. Man soll Euch ein wenig Wasser bringen und Eure Füße waschen; und lehnet Euch unter den Baum.« Und eilte in die Hütte zu Sara und sprach: »Eile und menge drei Maß Semmelmehl, knete und backe Kuchen«, und lief zu den Rindern und holete ein zart gut Kalb und gab es dem Knaben; der eilete und bereitete es zu. Und er trug auf Butter und Milch, und von [40] dem Kalbe, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor, und traten sie unter den Baum, und sie aßen. Da sprachen sie zu ihm: »Wo ist dein Weib Sara?« Er antwortete: »Drinnen in der Hütte.« Da sprach er: »Ich will wieder zu dir kommen, so ich lebe, siehe, so soll Sara, dein Weib, einen Sohn haben.« Das hörete Sara hinter ihm, hinter der Tür der Hütte. Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und wohlbetagt, also, daß es Sara nicht mehr ging nach der Weiber Weise. Darum lachte sie bei sich selbst. Da sprach der Herr zu Abraham: »Warum lacht die Sara, und spricht: ›Meinst du, daß es wahr sei, daß ich noch gebären werde, so ich doch alt bin?‹ Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen, so ich lebe, so soll Sara einen Sohn haben.« Da leugnete Sara und sprach: »Ich habe nicht gelacht«, denn sie fürchtete sich. Er aber sprach: »Es ist nicht also, denn du hast gelacht.«
Bei solchen Geschichten hörten alle still zu, wie der Lehrer erzählte, und keines rührte sich, und die Dämmerung nahm zu in der Schulstube. Hans wußte alle diese Geschichten auswendig, Wort für Wort, weil er so viel in der Bibel las, und darüber lobte ihn der Lehrer oft. Auch im Lesen und Schreiben war er der Erste, nur im Rechnen ging es bei ihm immer schlecht, und in der Erdkunde.
In des Lehrers Garten stand ein Bienenhaus mit vielen Kasten voll Bienen, zu denen hatte Hans eine besondere Liebe. Wenn er die Erlaubnis bekam, so setzte er die Mütze auf, damit nicht ein Bienchen, sich in seinem Haar verwirrend, böse würde, und hockte auf die Erde nieder neben den Fluglöchern und sah zu, wie die Bienen eilig herauskamen aus dem Dunkeln und an den Rand des Flugbrettes liefen und sich in die Lüfte ließen, und wie die beladenen Arbeiterinnen zurückkehrten und schwer auf dem Brettchen niederflogen und langsam in den Stock zurückgingen, Honig und Blütenstaub dort abzulegen. Wenn ein rechter Arbeitstag war, und die Sonne schien warm, und vom Grasgarten her duftete der Klee, so war ein wunderbares Gesumm in der Luft, dann hätte er stundenlang zuhören mögen; voll mit fleißigen Bienen waren die Flugbrettchen besetzt, und die Wachtposten untersuchten eine jede, ehe sie in den Stock durfte, und ein Lichtstrahl fiel in das Dunkel des Kastens, in dem war gleichfalls ein Summen und Tosen [41] von fleißiger Arbeit. So saß Hans neben den Fluglöchern, und mit unbestimmten Träumereien dachte er an das Fliegen in der funkelnden und blitzenden Luft und stellte sich vor, wie es sein müßte, wenn er selbst so klein wäre und so flöge, wie unendlich groß und weit ihm dann alles erschiene, und wie die ganze Welt anders wäre; und ein sonderliches Behagen überkam ihn durch Sonnenschein, Bienensummen und Kleeduft.
Der Lehrer hatte ein Buch, darin waren alle Tiere abgebildet. Da war der Löwe, der Tiger, der Affe, und dann die Meerungeheuer, der Hammerfisch, der Sägefisch, der Walfisch; da war gezeichnet, wie die Menschen in einem kleinen Boot zu dem Walfisch heranrudern und die Harpune auf ihn schleudern; das war grausig anzusehen, wenn man dieses kleine Boot verglich mit dem ungeheuren Walfisch. Ach, so weit war die Welt, so weit! Unter den Bergen dehnte sich das flache Land hin mit großen Städten, Flüsse zogen, und das weite Meer war da und Inseln und andre Erdteile; hier aber war ein enges Tal, auf dessen Grund ein Wässerlein plätscherte, in dem wohnten Menschen; und er selbst, Hans Werther, wohnte oben, im Wald; aber noch höhere Berge gab es, über seines Vaters Hause, von denen man weit sehen konnte; das Forsthaus aber stand inmitten der Tannen und hatte keinen Ausblick.
Die Stunden beim Pastor hatte Hans gemeinsam mit Karl Gleichen, des Pastors Schwestersohn, den der alte Mann zu sich genommen.
Karl Gleichens Eltern waren schon lange tot, nach einem traurigen und schmerzenreichen Leben.
Der Pastor hatte mit einer Schwester zusammengewohnt, die war dreißig Jahre jünger wie er, welcher der älteste von den Geschwistern gewesen, und ein wahres Nesthäkchen, das geboren wurde, als zwei der Geschwister schon verlobt waren. Von allen der ganzen Familie wurde sie verhätschelt und verzogen, und sie hatte auch eine schwache Gesundheit; am meisten aber liebte sie der Älteste, der sie auch zu sich nahm, wie die Eltern starben, da sie eben aus den Kinderjahren gewachsen; er erzog sie völlig, wie er es verstand, als guter, wunderlicher und unbeweibter Mann, und sie befahl ihm und führte seine Wirtschaft. Ein [42] reizendes Mädchen war sie gewesen, immer fröhlich und zwitschernd, wie Milch und Blut war ihr Gesicht, und die schwere Last ihres Haares leuchtete gelb wie reifer Roggen. Und am besten stand ihr, daß sie so ein verzogenes Kind war, dem alles immer nach Wunsch gegangen, und sie wußte das auch, daß ihr das stand, und daß die Leute sich über sie freuten. Dazu hatte sie seltene Gaben in ihrem zierlichen Körperchen, das so recht war wie eine wehende Flocke; zu Weihnachten und zu den Geburtstagen dichtete sie niedliche und zarte Verschen, welche sie die kleinen Kinder im Dorf lehrte, daß sie bei einer gemeinsamen Aufführung sie im Pfarrhause aufzusagen wußten; einmal hatte sie zwei ganz Kleine als Lämmer verkleidet, die nur mit ihren Schwänzchen wackelten, weil sie noch nichts sagen konnten. Nun wohnte im Nachbarstädtchen eine Predigerswitwe, ein beständig klagendes und sich sorgendes armes Mütterchen. Die hatte einen einzigen Sohn, der ungeraten war und schon auf der Schule nicht hatte guttun wollen, sondern entlaufen war, und hatte sich als Schiffsjunge annehmen lassen. Wie es ihm aber auf der See nicht schmecken wollte, so war er bald in abgerissenem Zustand zu seiner Mutter zurückgekommen, und da gab sie ihn nach vielen Ratschlägen in ein Bankgeschäft zur Lehre, aber nach einem halben Jahre mußte sie einen großen Schaden vergüten, den der Junge angerichtet hatte, und erhielt den dazu wieder zurück. Nach diesem trieb sich der eine Weile in dem Städtchen herum, dann war er plötzlich verschwunden; und am Ende, nach Jahren, kriegte die Mutter einen Brief von ihm aus Amerika, daß er in einer großen Stadt als Kaufmann lebe und zu guten Verhältnissen gekommen sei; dann kam er selbst auch zum Besuch seiner Mutter, als ein hochgewachsener Mann mit blondem Kinnbart, der einen grauen Zylinder trug. Er sah nicht gerade wohlhabend aus, aber auch nicht armselig, und wenn er zwar wohl viel log und aufschnitt, so glaubten die Leute doch, daß er sich gebessert habe und zu derjenigen Ehrbarkeit gekommen sei, die einem Solchen erreichbar werde. Es stellte sich heraus, daß er drüben Soldat gewesen war und in einem Indianergefecht einen Schuß durch die Hand bekommen hatte, wofür er jeden Monat eine Pension bezog. Wie es sich mit seinen eigentlichen Geschäften verhielt, wurde nicht recht klar, indem er erklärte, die Verhältnisse seien [43] drüben anders, und sein Geschäftszweig, der eine Art Vertretung auswärtiger Häuser sei, könne nur Jemandem erklärt werden, der wie er in der Welt herumgekommen sei und nicht immer zu Hause gesessen habe.
Dieser Mann lernte des Pfarrers Schwester, die Friederike hieß, bei einem winterlichen Tanzvergnügen in der kleinen Stadt kennen und faßte gleich eine heftige Zuneigung zu dem Mädchen; und da er selbst auch etwas ganz Absonderliches war, und vornehmlich weil er einen bösen Ruf hatte, so erwiderte diese die Zuneigung in kurzer Zeit und ohne daß er viele Mühe aufwenden mußte. Dem guten Pastor wurde wohl hinterbracht, daß die Zwei Heimlichkeiten miteinander hatten; aber der lachte bloß und sagte, die Friederike sei ein Kind, und er kenne sie besser wie alle andern. Indessen ließ den Amerikaner sein böses Blut nichts auf ordentlichem Wege betreiben, und deshalb ging er nicht zum Bruder, wie es sich gehörte, ihm seine Pläne und Verhältnisse mitzuteilen, sondern er beredete die kleine Friederike, daß sie mit ihm heimlich entfloh, bis sie beide nach Hamburg kamen; und wie sie inzwischen Besinnung erlangte, so schrieb sie von da einen traurigen Brief an den Pastor, bat ihn um Verzeihung für das Leid, das sie ihm zugefügt, und gab als einzige Entschuldigung an, wie er ihr die Flucht vorgeschlagen habe, da sei es ihr gewesen, als ob sie ihm folgen müsse, und über nichts habe sie mehr nachdenken können, was solche Flucht denn bedeute und nach sich ziehe. Der gute Bruder reiste gleich und traf die beiden auch in der großen Stadt, wie sie auf ihr Schiff warteten. Da hatte er mit dem Amerikaner eine Unterredung, wie es nun mit ihm und Friederike werden solle; und zeigte sich, daß der Mensch gar nichts hatte, wovon er selbst und seine künftige Frau leben konnten, denn er war als ein Habenichts auf dem Zwischendeck nach Deutschland zurückgekommen, und jetzt lebte er von dem, was er von seiner Mutter mitgenommen, die ihm hatte sein geringes Erbteil auszahlen müssen. Er entschuldigte sich aber, indem er sagte, nachdem ihn das Schicksal als einen armen Menschen in die Welt geworfen, dürfte ihm doch niemand Vorwürfe machen, wenn er wenigstens Liebe begehre, auf die doch jeder Mensch Anspruch habe. Dem frommen und treuherzigen Pastor war es recht schwer, sich in die Geistesverfassung [44] des anderen hineinzudenken, indessen fand er, daß er selbstsüchtig sei; wie er aber das Friederike sagte und sie mit Tränen in den Augen bat, sie solle mit ihm zurückkehren, wurde die gekränkt über den geringen Vorwurf, den er dem Amerikaner machte, und sagte, wenn ihr Liebster arm und unglücklich sei, so sei ihr Platz erst recht an seiner Seite, und sie wolle ihm schon helfen und ihn fördern. Dergestalt erreichte der treue Bruder nichts, außer daß er sie wenigstens noch vor ihrer Abreise nach Amerika trauen durfte, nachdem sie sich vor dem Standesamt zusammengetan hatten.
Es verging nur eine ganz geringe Zeit, da kam aus Amerika ein schmerzensreicher Brief von der armen Friederike, und machte sich der Pastor wieder auf, fuhr selbst über das Wasser und holte sein Schwesterchen nach Hause, denn jetzt folgte sie ihm willig. Sie sah krank aus, wie sie kam, mit hohlen Backen und ungesund glänzenden Augen; die Haare trug sie kurz, denn ihre schönen Zöpfe hatte ihr der schlechte Mensch abgeschnitten und verkauft. Bald gab sie einem Kinde das Leben, einem gesunden und starken Jungen, der gleich recht unbändig schrie; aber von dem Kinde erholte sie sich nicht wieder, und nach einigen Monaten starb sie in gänzlicher Erschöpfung aller Lebenskräfte; wie sie im Letzten lag, rief sie in Liebe und Sehnsucht immer nach ihrem bösen Mann und bat, er solle ihr verzeihen, sie habe ihn lieb gehabt. Den Jungen behielt der Pastor und zog ihn auf, in Liebe nach Spuren von seiner Mutter Wesen in ihm suchend, und in Furcht, daß seines Vaters Art auf ihn vererbt sein könne. Dieser Junge war Karl Gleichen, der mit Hans zusammen in des Pastors Studierstube saß und die Anfänge des Lateins lernte.
Karl Gleichen wird den Hans Werther eine lange Weile begleiten, deshalb ist so ausführlich über seine Eltern geredet; denn aus deren Schuld und Art entstand sein Wesen, das in allem anders war wie Hansens Wesen. Karl war ein anmutiges und liebenswürdiges Kind, jeder Güte zugänglich und leicht nachgebend bei scharfem Zureden, offenherzig und gutmütig, und gern hätte er Allen geschenkt; sein Verstand faßte leicht auf und behielt schnell, und ohne Mühe zog er Schlüsse: jeder hatte ihn lieb und war gütig gegen ihn, weil er ein so begabtes, gut geartetes und sonniges Kind schien; aber er war erzeugt [45] durch Schwäche und Selbstsucht, und ein ernster Mann hätte in seinen Vorzügen vielmehr Fehler gesehen. Seine Güte entsprang nicht aus einer Stärke, sondern aus einer Kraftlosigkeit, weil er sich nicht wehren konnte gegen den Einfluß fremden Willens und schnell gerührt wurde und mitlitt; seine leichte Auffassung entstand dadurch, daß in ihm selbst nichts Eigenes und Starkes war, das sich gegen die fremden Gedanken wehrte, sondern leicht hielten diese fremden Gedanken bei ihm ihren Einzug, nahmen Besitz von den Kammern seines Verstandes und zeugten hier Kinder; zwar blieben sie immer nur Fremde, und wenn eine neue Einwanderung kam, so mußten sie bald weichen. So geschah es, daß er selbst Auswendiggelerntes nach längerer Zeit, wenn er es nicht gebraucht, plötzlich spurlos verloren hatte, als habe er es nie gehabt. Seine Offenheit hatte denselben Grund, denn weil nichts Eigenes und Unbewegliches in ihm war, so entwickelte sich nicht die Scham des Gedankens, die oft scheinbar törichte Äußerungen von sich gibt, aber auch bei der größten Torheit immer Eignes und Starkes anzeigt. Solche Menschen sind dann leicht anmutig, weil sie so ohne Zwang und Not im Innern leben, und liebenswürdig sind sie, weil sie sich einem freundlichen Entgegenkommen sogleich öffnen. Auf solcher Schwäche ruhen aber zuletzt die Selbstsucht wie die Eitelkeit, denn weil die nötige Kraft nicht genügend vorhanden ist, muß ein solcher Mensch mit seinem Wollen haushalten, um nur bestehen zu können; während dagegen ein starker Mensch überflüssige Kraft hat und daher selbstlos ist, indem er in Stolz und Freude von seiner Kraft andern mitteilt, mag er in äußeren Dingen dem Oberflächlichen auch karg scheinen, weil er keine leichte Hand hat. Aber Liebe bei den Menschen haben mehr die Kinder vom Schlage Karls; Hans war verschlossen, unliebenswürdig, ängstlich im Verkehr, hart, hielt seine Sachen fest und spendete nicht, lernte schwer und zog schwer Schlüsse aus dem Gelernten, und außer seiner Eltern befolgte er niemandes Ermahnungen.
In des Pastors Studierstube saßen die beiden Jungen. Hans übersetzte, mit oft stockender Stimme und in großer Anstrengung, die Stirn finster faltend; Karl dachte träumend an Hansens Kaninchen und bedachte bei sich, ob der Oheim ihm wohl erlauben werde, daß er [46] sich auch ein Pärchen halte; denn wenn er nur die erste kleine Erlaubnis hatte, so wollte er wohl mit der Zeit noch mehr bekommen und einen Stall haben, der viel schöner wäre wie Hansens.
An den Wänden herum standen auf den Gestellen viele alte Bücher, denn der Pastor war ein Freund ehrwürdiger Folianten in Schweinsleder und Pergament; da waren des teuren Gottesmannes Luther sämtliche deutsche Bücher in acht Foliobänden, des Tabernämontani Kräuterbuch und Gesneri Tierbuch; daneben Spangenbergs Adelsspiegel und Mansfeldische Chronika, und noch manche andre alte Chronik. Das war ihm eine Freude, wenn er dem kleinen Hans diese Bücher zeigte; langsam holte er den Band aus dem Börd, strich liebkosend über den gepreßten Pergamentdeckel, auf dem etwa ein sächsischer Kurfürst oder eine menschliche Tugend abkonterfeit war; dann öffnete er die Schließen und schlug den Band auf vor Hans, dem das Herz klopfte. Oft wunderte er sich, woher der Junge diese Freude an Büchern geerbt habe, denn der stammte von Förstern und Bergleuten ab und nicht wie er, der Pastor, von einer langen Reihe von Gelehrten und Dienern des Wortes; war doch in den Lutherschriften vorn eine Eintragung eines Vorfahren, der auch Pfarrer gewesen, und hatte diese Schriften gekauft und binden lassen, und kam ihn der Band auf einen Karolin zu stehen nach damaliger Münze, was für einen armen Pfarrherrn mag eine stattliche Ausgabe gewesen sein. Dafür aber hatten so viel Jahrhunderte diese Bücher in den Studierstübchen der Nachkommen gestanden und hatten viele geistliche Moden erlebt, Bärte und Perücken und rasiertes Gesicht und eignes Haar; und die letzten Pfarrherren waren alle starke Raucher gewesen, davon die Bücher endlich ganz mit Tabakrauch durchdrungen waren, also daß er einem in die Augen biß, wenn man sie aufschlug.
Noch andre Freuden hatte der Pastor, die er mit Hansen teilte, weil der so nachdenklich war. In einem Glasschrank stand ihm ein Straußenei und eine Kokosnuß und viele fremde Muscheln; dazu Pfeile von wilden Völkern, ein großer Bergkristall und die Fingernägel eines vornehmen Herrn in Siam; denn die adeligen Siamesen beschneiden ihre Nägel nicht, aus Stolz, sondern lassen sie lang wachsen, daß sie wohl fünf Zoll erreichen und mehr und sich wunderlich[47] krümmen. Zu Winterzeiten hielt der Pastor allwöchentlich eine Missionsstunde ab, in welcher er vieles erzählte von dem Leben der Wilden, daß die nackt herumlaufen, wie sie Gott geschaffen hat, und sich gegenseitig verzehren und Götzen anbeten, die sie selbst gemacht aus Stein oder Holz; so elend ist der natürliche Mensch. Da zeigte er dann auch seine Seltenheiten herum, das Straußenei und die Kokosnuß, die Pfeile und die grausamen Fingernägel aus Siam; und war um diese Missionsstunden eine große Liebe für die armen Heiden in der Gemeinde, und viel wurde geopfert. An Hans hatte der Pastor eine große Freude, daß er so offenen Herzens war für alle solche Kenntnis, und deshalb erzählte er ihm vieles, was ihm auf dem Herzen lag. Er erinnerte ihn aber ganz an seinen Vater, den Förster. Der war zu ihm gekommen, wie er selbst Student war, als ein armer Junge, der eine Waise war und schon in den Wald gehen mußte auf Arbeit, um das Brot für sich und seine Mutter zu verdienen; denn das Gnadengeld, das die Mutter bekam für ihren toten Mann, betrug nur zehn Silbergroschen die Woche, und das reichte nicht aus für die beiden; hatte also den Studenten gebeten, er möge ihm Stunden geben in der Mathematik, des Abends, wenn er aus dem Wald nach Hause käme, weil er nicht Arbeiter bleiben wollte, sondern wollte einmal Förster werden, und gestand, daß er nur einen halben Groschen zahlen könne für die Stunde. So war er denn ins Pfarrhaus gekommen um acht Uhr in der Dunkelheit und hatte sich in des Studenten Dachstübchen an den Tisch gesetzt und gelernt. Aber weil es warm war in dem Studierstübchen, und er hatte den Tag über fleißig gearbeitet in der Kälte, so wurde er müde, und die Augen fielen ihm zu wider Willen, mitten während eines Beweises. Da hatte der Student Mitleiden gehabt mit dem armen Jungen, hatte ihn schlafen lassen und derweilen, eine lange Pfeife rauchend, in Bengels Gnomon studiert, bis der wieder aufwachte, sich besann und weiterhin aufmerksam folgte, wie sein Meister lehrte. So lange war das nun her, und jetzt wollte der Sohn dieses armen Jungen selbst einmal Student werden und später ein Prediger, und das geschah darum, weil der Junge von damals so fleißig und treu gewesen war. Auch für des Pastors Blumen hatte Hans viel Liebe und Staunen. Vornehmlich an Topfpflanzen hatte sich der [48] Pastor gefreut, wenig am Garten, als ein rechter Stubenhocker, der den lieben Sonnenschein so recht genoß durch die kleinen Scheiben seiner blumenbestandenen Fenster und zu Winterszeiten im warmen Schlafrock sein geheiztes Stäbchen liebhatte.
Da standen merkwürdige Pflanzen, besonders viele Kaktuspflanzen; dabei war auch eine Königin der Nacht, die nur einmal im Jahr blühte, und dann nur eine Nacht. Wenn diese Nacht war, so lud der Pastor den Förster, den Lehrer und den Amtmann zu sich ein, die Frau Pastorin setzte Wein und Torte vor, und dann wurde abgewartet, wie sich die Blume öffnete. Eine ganz sonderbare Geschichte erzählte der Pastor von einer andern Pflanze, die er »japanische Rose« nannte. In früheren Jahren hatte er einen solchen Topf von einem Amtsbruder geschenkt bekommen, der zwei Stücke besaß, die er selbst aus Stecklingen großgezogen. Lange Jahre wuchs, grünte und blühte das Gewächs; aber mit einem Male fing es an zu kränkeln, nahm ab und ging endlich ein; und zu der gleichen Zeit starb der Amtsbruder, von dem der Pastor den Topf erhalten. Diese Geschichte durfte Hans nicht weitererzählen wegen der menschlichen Schwachheit, weil Manche in der Gemeinde sich noch mit abergläubischen Gedanken trugen.
Der Pastor war ein Letzter einer langen Reihe, und weil er mit seiner Frau keine Kinder hatte, so schien es, als wolle die Natur nicht, daß er seine Art fortführte. Was so viele Generationen seit Jahrhunderten in innerlicher Arbeit erstrebt hatten, das war in ihm ein wirkliches Bild geworden; er wußte nichts von Schlechtigkeit oder bösem Wesen, und kam ihm etwas Schlimmes nahe in seiner Gemeinde, so machte er ein erschrecktes und betrübtes Gesicht, und dann lächelte er ungläubig, und seine Mienen zeigten an, daß er vor einem Fremden und Unverständlichen stand und keinen Rat wußte; bald aber fand er sich wieder und meinte, ein Irrtum sei das und eine falsche Auslegung der Wirklichkeit. Zwar, er predigte von der Erbsünde und von der natürlichen Bosheit des Menschengeschlechtes; aber in seinem Herzen wußte er nichts von diesen Lehren, er sprach da nur Worte, die er nicht verstanden. Mitten unter einer harten Bevölkerung lebte er, unter kleinen Bauern und Holzarbeitern, die wohl tüchtige und ordentliche Leute waren, unter denen keine Liederlichkeit oder Faulheit vorkam; [49] aber ihr Leben floh hin bei dürrer Berechnung von Besitz und Erwerb, bei zähem Halten am kleinen Vorteil, der nicht ohne geringe Betrügereien war, wie sie bei solchen Leuten als ordnungsmäßig betrachtet werden. Die fanden bald heraus, daß der Pastor vom wirklichen Leben nichts wußte und keine Ahnung hatte von dem, was in ihnen vorging; deshalb hielten sie ihn für dumm, oder wie sie sich das vorstellten, für »überstudiert«; und indem sie nun mit allem, was sie unmittelbar anging, sich fern von ihm hielten, vermehrten sie noch seine Täuschung über die Wirklichkeit, die ihn umgab.
Aber auch in der Seele solcher Menschen, die ganz beschränkt auf Irdisches und Bürgerliches sind, gibt es doch ein höheres Leben. Zwar gewinnt es scheinbar keinen Einfluß, denn es wird rasch bedeckt durch das Überwuchern des Wirtschaftlichen; aber vielleicht ist das ganz gut so, und wenn es anders wäre, würden solche Manschen Schwätzer und scheinheilige Salbader. Deshalb hatte der Pastor doch eine große und segensreiche Bedeutung für seine Gemeinde; sie wußten alle, daß er nicht an sich dachte und das Evangelium vom Rock erfüllt hatte; ja, es gab sogar eine Geschichte über ihn von einem Paar neuer Stiefel und einem wandernden Handwerksgesellen; sie wußten, daß hier keine Lüge, keine Gier, kein Betrug war, keine Habsucht und kein unlauteres Wesen, sondern ein reines und frommes Herz und ein klarer und guter Sinn; und in dem bedrängten und beladenen Leben, das sie führen mußten, bei harter Arbeit und schweren Sorgen um das tägliche Brot und Kämpfen um die Ehrbarkeit des Wandels hatten sie an dem Pastor ein Bild wie das eines glücklichen und frohen Engels, der auf Erden wohnt, nichts weiß von Sünde und Schuld und Sorge und mit dem Finger zum Himmel weist, als zu einem freien und leichten Leben, das als Ziel uns allen vorschweben sollte. Und was bedeutet das für einen beladenen Menschen, der mühselig dahin geht, den Blick auf die Erde gerichtet! Aber es ist gut für uns, daß solche Menschen selten sind.
In ihrer Art ebenso merkwürdig wie der Mann war die Frau Pfarrerin.
Sie war frühzeitig Waise geworden und hatte von ihren Eltern ein ziemliches Vermögen geerbt; ihres jetzigen Mannes Vater, der [50] alte Pastor, der ein entfernter Verwandter war, wurde ihr als Vormund bestellt und nahm sie zu sich ins Haus, sie mit seinen Kindern zusammen zu erziehen.
Schon als kleines Mädchen faßte sie eine Neigung zu dem ernsten Ältesten, weil er ein liebes und gutes Wesen hatte und in vielen kleinen Dingen besorgt werden mußte wegen seiner Zerstreutheit. Das hatte ihm eine Schwester einmal gesagt, da war er rot geworden und schämte sich, denn er dachte, sie wolle ihn hänseln. So behielt sie ihre stille Neigung, wie er von Hause fortkam auf die Schule und wie er erwachsener wurde und auf die Universität ging; aber weil sie eine herbe und verschlossene Natur war und ohne Zutunlichkeit, so verspürte niemand etwas von dem, was sie heimlich bei sich dachte. Und auch der Student seinerseits, der durch seine Jahre selbstbewußter geworden war, wie er als Junge gewesen, dachte viel an sie mit Liebe und Hoffnung, nur hatte er noch so viel Schüchternheit, daß er ihre Begegnung mied, und spann sich noch mehr in seiner tabaksqualmigen Dachstube ein, wie er es sonst getan hätte ohne seine liebende Gesinnung.
Wie er seine Examina bestanden und hoffen durfte, daß er in wenigen Jahren eine Pfarre bekommen werde, da dachte er wohl, daß er nun wagen dürfe, mit ihr zu sprechen über das, was er im Herzen hatte. So geschah es, daß er einst an einem Sonntagnachmittag nach der Predigt mit ihr durch die Felder ging, und auf beiden Seiten stand der hohe Roggen, untermischt mit Kornblumen und roten Kornrosen. Und wiewohl er ihr nur ganz alltägliche Dinge erzählte aus Scheu, so spürte sie doch durch ein geheimes Überfließen seines Herzens, was er sagen wolle; aber da überfiel sie mit einem Male eine namenlose Angst und eine heftige Scham, und das spürte er sofort, und zwar hatte er in seinem Herzen eine Bewegung, die das richtig deutete, und er hatte Lust, sie in seinen Arm zu nehmen und an die Brust zu drücken, aber da überkam ihn aus einem andern Winkel seiner Seele plötzlich ein lähmendes Mißtrauen und eine Furcht, so daß sich alle Gefühle in ihm zurückzogen als erschreckt, und ihm ganz starr wurde im Herzen.
So redete er mit stockender Aussprache weiter, was er Gleichgültiges angefangen, und ging neben ihr her; und ihre bebende Hand streifte einmal über das hohe Korn; da sah er, daß ihre Hand bebte, und [51] es begann wieder lebendig zu werden in ihm; aber die Erstarrung war bei dem feinen Menschen zu groß, er wurde ihrer doch nicht wieder Herr, und so blieben die Worte ungesprochen zwischen den beiden, nach denen ihrer beider Herzen sich sehnten, und sie gingen stumm nach Hause.
Da war aber eine Schicksalsstunde versäumt, die in langen Jahren nicht wiederkam. Sie dachte, daß sie sich wohl geirrt habe in ihrem Gefühl, daß er zu ihr neige, und er habe überhaupt keine wärmere Liebe für sie, nur für die andern; und er meinte traurig, für sie, die große, feste und herbe Jungfrau mit den geschlossenen Lippen sei er zu gering, und sie könne ihn nicht lieb haben, sondern müsse ihre Liebe auf einen andern richten. Ohne Eifer dachte er das und mit tiefer Trauer.
So vergingen Jahre ihnen beiden in stillem Sehnen, bis jenes Unglück über ihn kam mit seiner Schwester. Wie er von Hamburg zurückkehrte, da trieb es ihn, daß er zu ihr gehen mußte, die schon längst für sich gezogen war und allein hauste; sie waren aber nun beide Menschen weit über die vierzig; da erzählte er ihr alles, davon er doch manches gar nicht recht verstand, weder die blinde Leidenschaft der Schwäche seiner kleinen Schwester, noch die rohe Habgier der Schlechtigkeit bei dem Manne. Und wie er geendet und sie anblickte, ohne Rat und Trost, da sah er, daß in ihren Augen Tränen standen, die sie vergeblich zurückhalten wollte. »Weinst du über sie?« fragte er. »Nein, über dich!« rief sie in Selbstvergessenheit. Da vergaß auch er alles und fragte, als ob er träume, und lächelte dabei wie ein Kind: »Hast du mich denn lieb?« Aber eine Erwiderung in Worten wurde nicht gegeben, sondern sie kamen zusammen mit ihren Herzen, und ihr Gesicht, das sonst unbeweglich und fest war, lag an seiner Brust und wurde von vielen Tränen überströmt.
So hatten sich die beiden gefunden, nachdem sie des Lebens Höhe schon überschritten und sich seit frühen Jahren nacheinander gesehnt; und als sie sich dann heirateten, da war es, als ob alles Glück, das für sie bestimmt gewesen und nicht verbraucht war in den langen Jahren, als ob das sich angesammelt habe und nun um sie sei, und verging kaum ein Tag, daß sie nicht darüber staunten, wie glücklich sie waren, [52] und machten sich selbst aufmerksam auf dieses oder das in ihrem Leben, und freuten sich über sich selbst.
Und das war sonderbar, daß, wer die beiden allein sah, hätte gemeint, diese ernste Frau mit dem festgeschlossenen Mund müsse dem kindlichen Mann überlegen sein, auf dessen reiner Stirn nur die einfachen Gedanken zu lesen waren, die ihn bewegten; und sie konnte auch nicht gut mit Kindern umgehen, während dem Mann alle Kinder anhingen und ganz mit ihm sprachen wie mit ihresgleichen, welches der stärkste Ausdruck kindlicher Zuneigung ist. Wenn aber die beiden zusammenstanden, dann kam niemand mehr auf den Gedanken, der Mann könne schwächer sein wie die Frau, sondern das natürliche Verhältnis von Mann und Weib war offenkundig vorhanden, obwohl sie in vielen Dingen für ihn sorgte, daß er hätte ganz unselbständig scheinen müssen; so schnitt sie ihm bei Tisch das Fleisch vor.
Das Pfarrhaus hat für die Leute auf dem Lande etwas Festtägliches, durch die Ruhe, die wenigen Menschen in den vielen Räumen, die blitzenden Fensterscheiben mit den weißen Gardinen dahinter, die sandbestreute Diele und die frommen Sprüche, die im Flur angebracht sind. Und die beiden Leute waren festtägliche Leute dazu, das empfanden die Arbeiter und Bauern; und noch mehr empfand es der kleine Hans Wenn sich die Haustür in der Pfarre hinter ihm geschlossen hatte und die Klingel lange nachschellte und er auf den Zehenspitzen über die Diele ging mit dem knirschenden Sand, der ein so lautes Geräusch zu machen schien, so schlug ihm jedesmal das Herz; und in Freude verwandelte sich die Ehrfurcht erst dann, wenn er dem freundlichen Pastor die Hand gab. Was sollen wir viel erfahren von dem, was äußerlich vorging in diesen Jahren? Auf Hans wirkte das Wesen der Alten, und das Wesen Karls hatte Einfluß auf ihn, zu den Wirkungen und Einflüssen, die er zu Hause hatte und im Wald; ganz wenig wirkten auf ihn die Jungen in der Schule und die Schule überhaupt, obwohl die einen großen Raum in seinen Erlebnissen einnahm; aber was er hier hatte, war nur ein Kennenlernen der Dinge, die ein Mensch gebraucht zu seinem äußeren Leben; diese aber sind für unsere Absichten gleichgültig.
[53] Wie Hans in sein zwölftes Jahr kam, mußte er des Pastors Unterricht verlassen und in die Stadt gehen, das Gymnasium zu besuchen; mit ihm ging Karl Gleichen.
Hans wurde auf den Löwenhof gebracht, zu einem Ackerbürger, namens Löwe. Hier bekam er ein Dachkämmerchen mit einem Bett zum Schlafen, den Tag über mußte er sich in der Wohnstube der Leute aufhalten, an deren Tisch aß er auch; nur die Woche über war er hier. Sonnabends, wenn die Schule beendet war, pilgerte er durch das alte Stadttor hinaus, durch die Felder hinauf in den Wald nach Hause, und Montag früh ging er wieder zurück in die Stadt. Seine Mutter hatte abgemacht, daß sie für die Woche einen Taler bezahlen wollte an die Wirtsleute, den trug er Montags in der Tasche bei sich.
Diese Löwes waren alteingesessene Leute, deren Voreltern fleißig und sparsam gewirtschaftet hatten, bei ihnen aber ging alles auf, und es war wohl zu sehen, daß sie ihrer einzigen Tochter einst nichts hinterlassen würden. Das geschah aber so, daß sie nicht eigentlich liederlich waren, auch nicht wirklich verpraßten; nur war der Mann von langsamer Art und ein Schläfer, und die Frau, wiewohl flink und gewandt, liebte sehr das Essen, mehr aus Liebe zur Kochkunst wie aus Leckerei, denn es freute sie am meisten, wenn es andern schmeckte. Sonst aber waren sie ordentliche und gute Leute.
Um vier Uhr des Morgens weckte die Frau den Mann; der öffnete dann die Kammerfenster und rief die Knechte und die Magd wach; darauf sagte er, daß er erst wieder warm werden wolle und ging ins Bett zurück, aus dem er dann nicht vor sieben Uhr aufstand. Da pflügten die beiden Knechte schon lange auf dem Acker, und die Magd hatte längst gemolken; wenn aber des Herrn Auge nicht wacht, so geht der Pflug nicht tief und wird das Euter nicht leer, und vieles wird vertan und verworfen in der Wirtschaft. Die Frau ging in die Küche und sagte, sie fühle sich so schlecht im Magen, ihr sei, als müsse sie etwas Besonderes genießen; und so briet sie schon am frühen Morgen sich allerhand Leckerbißlein, davon sie auch, als eine kleine Person, dick und rund wurde, indessen der Mann mit dem verschlafenen Gesicht mager und lang war.
Wohl sahen sie selbst ein, daß sie auf diese Weise immer mehr zurückkamen, [54] und namentlich an den Quartalsterminen wurde ihnen das klar. Aber sie vermochten nichts an ihrem Leben zu ändern; wenigstens muß man rühmen, daß sie sich nicht gegenseitig Vorwürfe machten. Nur heimlich klagten sie wohl einem andern ihr Leid, und zu solchem Vertrauen erwählten sie sich ihren Kostgänger Han.s So rief ihn etwa die Frau in die Küche, briet eine schmackhafte Gänseleber, schob ihm die zu und sprach: »Iß, sie ist mit ungesalzener Butter gebraten«, und erzählte dann von ihrem Leben, daß sie viele Anbeter gehabt habe, die sie zur Frau gewollt hätten, aber sie habe nun zu ihrem Unglück diesen Mann genommen; der sei zwar gut zu ihr und trinke auch nicht, aber er sei träge und schlafe zu viel, und sie könne allein das Wesen nicht halten, so viel Mühe sie sich auch gebe; dazwischen erzählte sie, daß sie in die Nudeln, mit denen die Gans gestopft wird, buchene Asche nehme, rühmte auch wohl die gebratenen Kartoffeln und erzählte, von welchem Landstück man die Kartoffeln zum Braten nehmen müsse, und von welchem sie als Salzkartoffeln oder in der Schale am besten schmeckten; und am Ende weinte sie in die blaue Schürze und sagte, wenn sie noch einmal heiraten sollte, was ja Gott verhüten möge, denn ihr Mann sei ja gesund und wohl, aber unmöglich sei doch nichts, so werde sie sich besser in acht nehmen. Und der Mann rief den Hans zu sich, nahm die kurze Pfeife aus dem Mund, tippte ihm damit auf die Brust und erzählte, was er für ein Kerl gewesen sei in seinen jungen Jahren, und was er für Mädchen hätte heiraten können, lobte dann seine Frau, daß sie ja gut sei und auch flink, aber sie sei zu sehr auf das Essen und Trinken, und darüber gehe das Haus zugrunde. Aber, meinte er, man könne ja nicht wissen, wenn seine Frau einmal sterben sollte, so werde er sich in seiner zweiten Ehe ganz besonders vorsehen; und so waren beide schon recht in die Jahre gekommen und meinten doch, nach unbedachter Leute Art, daß sie ihr Leben immer noch vor sich hätten und es nach ihrem Gefallen lenken könnten.
Die Tochter der beiden war wenige Jahre älter wie Hans, gutmütig und still, und hatte der beiden Eltern Eigenschaften in sich vereinigt, schlief viel und aß gern und war in ihren jungen Jahren auch schon artig aufgegangen zu einem kugelrunden und zufriedenen Fräulein.
[55] Hans aber hatte es gut in der Familie und wurde rechtschaffen gefüttert für seinen Taler.
In der Schule war ihm das Einleben recht schwer. Da bestand eine allgemeine Verschwörung gegen die Lehrer: alle Schüler hielten zusammen, logen sich gegenüber dem Lehrer heraus, betrogen diese auch, untereinander aber logen und betrogen sie nicht. Hätte einer sich dieser Ordnung nicht gefügt, so hätten sie ihn alle verachtet.
Karl fügte sich sehr schnell in die Verhältnisse, sah in seines Nachbars Hefte und hatte beim Abfragen ein Buch unter der Bank liegen; und wie der Lehrer einmal eine Aussage von ihm wollte, log er mit offener und heiterer Miene. Hansen war es nicht möglich, sich so zu geben, gleichwohl aber sah er wohl ein, daß er nicht gegen die andern auftreten konnte, und so stritten das alte Pflichtbewußtsein und das neue, das er hier bekam, eine lange Zeit in ihm miteinander, bis er endlich einen Ausweg fand, indem er selbst zwar keine Betrügereien mitmachte, aber willig seine Hefte und Bücher hergab, wenn die andern sie benutzen wollten. Als einmal sein Nachbar beinahe ertappt wurde und der Lehrer ihn befragte, wurde er sehr rot und verlegen und sagte ängstlich, er wisse von nichts.
Die Lehrer hatten allerhand Spitznamen, mit denen die Schüler sie unter sich nannten; allmählich gewöhnte er sich auch daran, sie so zu nennen, immer aber behielt er dabei noch eine gewisse Scheu und Unbehaglichkeit.
Zwar nahmen die Schüler im ganzen und großen seine Art ruhig hin ohne besonderes Nachdenken, einmal aber kamen sie doch auf den Gedanken, sie möchten ihn hänseln, weil er anders war wie sie, und fiel ihnen ein, sie wollten ihn auf den Klassenschrank setzen. Da wich er erst zurück und zog seine Arme fort, an denen sie ihn anfassen wollten, aber wie sie ihn endlich umringt hatten, und weil er sich aus Verlegenheit nur ungeschickt und schwach wehrte, da hoben sie ihn bald unter lautem Geschrei auf den bestimmten Thron. Wie er da saß, standen ihm vor Kummer die Tränen in den Augen, aber wie er auch Karl unter der Schar seiner Peiniger erblickte, da faßte ihn ein heftiger Gram, und es überkam ihn eine besinnungslose Wut, und er ergriff eine zusammengerollte Landkarte mit Stäben, die da oben lag, [56] und hieb unbarmherzig mit aller Kraft auf die Köpfe unter ihm ein. Die Jungen schrien auf, und der Schwarm wickelte sich schnell auseinander, er aber sprang mit seiner Waffe vom Schrank herunter und verfolgte die andern, die vor ihm flohen, bis sie zuletzt alle zur Tür hinausliefen und diese von außen zuhielten, damit er ihnen nicht nachkommen solle, denn sie waren in heftige Furcht gekommen. Nach diesem Vorkommnis ließen sie ihn in Ruhe, ohne sich übrigens besondere Gedanken über den Grund zu machen; er aber überlegte sich das Ganze reiflich und kam zu dem Schluß, daß einer, wenn er sich nicht fürchtet, gar keine Gefahr läuft und wohl dreißig in die Flucht schlagen kann.
Fünf Jahre mußte er auf dem Gymnasium verbringen, das waren die fünf schlimmsten Jahre seines Lebens. Damals fühlte er wohl den Druck und hatte das unbestimmte Gefühl, als sei er Gefangener in einem Zuchthaus, aber weil alle um ihn herum in derselben Weise lebten und dieses Leben ganz natürlich und angenehm fanden, so kam ihm sein Unglück nicht zum Bewußtsein, und er litt nur dumpf. So hatte er es später leichter, wie er schwere Zeiten durchmachte, in Gewissenskämpfen und Sorge um das tägliche Brot, denn da fühlte er sich innerlich doch immer froh, wenn er dachte, daß das alles, was man als das Schlimmste hinstellt, doch nicht so schlimm war wie dieses Leben in der Schule, das damals allen natürlich und angenehm erschien, wenn auch alle litten gleich ihm.
Vieles wurde gelehrt, was ein jugendliches Herz wohl hätte begeistern können; aber was die Lehrer sagten, und was gelernt werden mußte, war gleichgültig und eine gemeine Arbeit ohne Sinn, wie sie ein Holzarbeiter verrichten mag, der denkt: am Sonnabend habe ich meinen Lohn verdient; und einen andern Sinn hat seine Arbeit nicht für ihn. So war auch in der Schule alles Arbeiten nur aus dem Zwecke zu verstehen, daß man solche Dinge wissen mußte, wenn man das Examen bestehen wollte; das mußte man aber bestehen, sonst durfte man nicht studieren; deshalb freuten sich auch alle auf die Universität, denn sie hofften, daß sie da das Zweckvolle und Sinnreiche sehen würden. Aber weil die Arbeit allen zuwider war, und weil alle das gleiche wissen mußten, Kluge und Dumme, so kam zu dem noch hinzu, daß die Dinge, die man wissen sollte, so lange wiederholt wurden und breitgetreten, [57] bis sie auch bei dem Dümmsten und Gleichgültigsten festsaßen. Traurig und matt saßen die Jungen auf ihren Bänken, sahen sehnsüchtig aus dem Fenster, wo die Schneeflocken wirbelten und eine frische Kälte war, oder starrten auf die tintenfleckigen und zerschnitzten Tische und die beschmierten Bücher, indessen die gelangweilte Stimme des Lehrers schläfrig an ihr Ohr klang, der nun schon seit Stunden eine einfache Konstruktion erklärte, die jeder sofort verstanden hätte, wenn er nur Lust hätte bekommen können, sie zu verstehen; den einen oder andern ermahnte der Lehrer, er solle aufpassen und nicht träumen, und wenn er dann einen fragte, ob er jetzt die Sache wiederholen könne, so zeigte sich der gänzlich verständnislos, und die Erklärung mußte von neuem angefangen werden. So wurde an einem einzigen Satz von Cicero eine ganze Stunde übersetzt.
Es ist zu sagen, daß diese Bildung der Schule weder unsern Hans noch irgend einen andern Jungen gebildet hat, sondern nur die Bedeutung eines Wissens von allerhand Dingen bekam, das zum Teil sehr schnell wieder vergessen ward, und so erhielten alle diese Schüler ihre wahre Bildung neben und außer der Schule, weshalb über diese sowohl wie über die Lehrer hier weiter nichts zu sagen ist.
Kinder sehen die Dinge nahe, scharf und gewissermaßen in einer einzigen Fläche; aber wenn ein Junge in die Zeit kommt, die man die Flegeljahre nennt, so ändert sich unmerklich dieses Sehen, und damit werden auch die Gefühle verändert, die er in sich hat; denn es legt sich ihm ein Schleier über alles, daß die Umrisse verschwinden und die Dinge, die früher allein standen, sich zu einem einheitlichen und untrennbaren Bild zusammentun, und dieses Bild bekommt dann Tiefe, Vordergrund und Hintergrund, seine Seele aber erfüllt sich nun mit einer unbestimmten und undeutlichen Sehnsucht, welche die Bilder immer weiter in den Hintergrund treibt, damit sie dort goldigere Farben annehmen und duftigere Umrisse; er kriegt Erinnerung und Hoffnung, und der Gegenwart vergißt er, und weil so vieles eine neue Bedeutsamkeit erlangt hat, die er früher nicht geahnt, so geht ihm nun oft bei einer Kleinigkeit das Herz auf als bei einem tiefsinnigen Symbol, dessen Bedeutung ihm nicht in Begriffen beifällt, sondern nur in einem dunkeln Gefühl; und kommt alles das rein und ungestört durch [58] Äußeres aus dem Innern heraus, bei dem einen so, bei dem andern so. Außerdem, während das Kind noch das Gefühl hatte, daß alle andern Kinder, ja selbst die Tiere, ihm gleich seien und deshalb noch keine Scham kannte, überfällt jetzt den Jungen eine heftige Schamhaftigkeit, weil alles Neue nur ihm allein gehört, und kann sich diese Schamhaftigkeit aber nicht äußern, wie es ihr entsprechen würde, weil der Junge sie selbst nicht versteht, deshalb kommt sie zutage als Trotz, Ungezogenheit und auch als Lüge; so nennt unsre liebe keusche Muttersprache dieses Alter recht schön die Flegeljahre.
Welche von den vielen Zügen, in denen sich diese Wandlung äußerte, soll der Erzähler nun wohl herausheben? Es ist etwa zu erzählen, wie Hans an einem Mittwochnachmittag in der Stube seiner Wirtsleute sitzt, wo hinterm Ofen der Bauer im Halbschlaf träumt, und hat eine alte Zigarettenschachtel, die er geschenkt bekommen, die klebt er an allen Seiten sorgsam mit Kleister zu, daß kein Licht hinein kann, und träumt in der Art wie einst, da er zu Hause unterm Tisch saß, wie heimlich es wäre, ganz klein zu sein und in solcher verklebten Schachtel zu sitzen. Wäre ein andrer in der Stube gewesen und nicht bloß der verschlafene Wirt, so hätte er sich geschämt, solches Spiel zu treiben.
Durch Schule und Umgang werden derartige Neigungen auf bestimmte Wege gelenkt, und so kam Hans darauf, sich eine Pflanzensammlung anzulegen. Dazu hatte er den stärksten Trieb im Frühling, denn wenn der Rasen noch überall vergilbt und schmutzig war, so erschienen die gelben Blumen des Huflattich, die dann im Sommer die großen Blätter nachtreiben, darauf kamen die Schneeglöckchen, und endlich begrünten sich die Wiesen, erst an den feuchten Stellen, wo die Dotterblume ihre dicken Knospen aufbrach und glänzende Blätter entrollte; und wie es überall grün war, da beblümte sich die Wiese mit Marienblümchen, Veilchen, Männertreu, Vergißmeinnicht, Hahnenfuß, Frauenmantel, Löwenzahn, Schaumkraut und Storchenschnabel, in den Wäldern aber wuchsen die Zankblümchen, Maiglöckchen und blauen Leberblumen. Das alles war so, daß das Herz weit wurde, und schien, als könne diese Zeit nie aufhören und müsse die Wiese immer weiter blühen und der Fuchsschwanz sich heben und [59] Sauerampfer stehen und Kälberkropf sich breiten, und es werde niemals gemäht. Alle diese Blumen kannte Hans schon früher, aber jetzt sagten sie ihm eine Sehnsucht und eine Freude, die ihm bis dahin unbekannt gewesen, und einmal, wie er ganz allein war, und niemand ringsum zu sehen inmitten der blühenden Wiesen, da wagte er es, daß er aufjauchzte; aber der Ton war ihm so sonderbar, daß er gleich wieder verstummte, aus Schrecken.
Aus dieser Zeit blieb ihm ein Erlebnis für sein ganzes Leben in der Erinnerung, das äußerlich zwar nichtig schien: er war ausgegangen, Pflanzen zu suchen und trat aus dem Wald und sah vor sich ein Bauernhaus, bei dem ein großes, abgezäuntes Weidestück war; weil aber der Frühling eben seine ersten Tage schickte, so lag noch in einem schattigen Winkel etwas schmutziger Schnee, jedoch mitten durch das Stück floß ein Wässerlein, eilfertig und geschäftig, wie diese Wässerlein im frühen Frühling dahinplaudern, und an dessen Rändern war das Gras schon grün und einige Büschel Narzissen standen da, in deren einem eine Narzisse aufgeblüht war, diese Blume, die für den Oberflächlichen kalt und leer scheint und in Wahrheit doch eine fast unheimliche Leidenschaft in sich schließt. Wie Hans diese einsame Blume sah, war es ihm, als bliebe vor einer sonderbaren Wonne sein Herz stehen, und erst viel später, wie er schon erwachsen war, wußte er, daß da damals ein heftiges Glücksgefühl gewesen, und verspürte einen goldenen und sanften Abglanz davon auch nachher immer noch, wenn er in seiner Sammlung die gepreßte Blume betrachtete. Mit geringerer Stärke hatte er solche Gefühle auf andern Gängen, die er einsam machte und für sich; so, wenn er am Waldrand dahinschritt, wo knorrige Wurzeln vorragten und die Zweige sich weit überbogen, indessen das Korn ruhig stand mit Mohn und Kornblumen, oder er wandelte einen schmalen Pfad zwischen den Kornfeldern, und rechts und links streiften ihn die schweren Ähren, die überhingen, und eine Lerche stieg schmetternd in die Höhe aus der Mitte der unbewegten goldenen Frucht und wurde zu einem kleinen Punkte oben im Blau, von dem es herabjubelte; ja selbst der Strohduft in seines Vaters dämmernder Scheune vermochte eine Sehnsucht und glückliche Freude zu erwecken. Der Grund bei allem diesem aber war wohl, daß es ihm schien, weil seine Brust sich [60] weitete, so fließe er zusammen mit dem andern und gehöre zu ihm, so daß alles eins sei.
Nur ein dunkles und drohendes Gefühl stand auch in solchen Stunden immer im Hintergrund, das sich an die Schule knüpfte; da waren unbekannte Gedanken, daß er eigentlich arbeiten müsse, und daß er nicht seine Pflicht erfülle, und daß er niemals das schwere Abiturientenexamen werde bestehen können, denn trotzdem er unter den Ersten saß, war er sich doch bewußt, daß er lange nicht wußte, was man wissen mußte; und allerhand Vorwürfe machte er sich dann, wenn er an seinen Vater dachte, wie fleißig der war und sich keine Freude gönnte, nur damit er selbst lernen sollte. So schwer war diese Last, welche die Schule auf seine Seele legte, daß er auch nach vielen, vielen Jahren sie noch spürte, wie er schon längst erwachsen war und verheiratet und Kinder hatte.
In der Schule hörte er von Lehrern wie von Schülern etwas ganz anderes über den lieben Gott, wie er bisher gehört. Die Religionsstunde hatten die Jungen bei einem Lehrer, dem ein langer, blonder Bart gewachsen war, und der oft einen kleinen, runden Taschenspiegel vorzog, den er auf den Katheder legte und darin seinen Bart betrachtete; auch putzte er sich die Nägel so sorgfältig, daß sie glänzten wie poliert, und wenn er sich setzte, so zog er vorher mit zwei Fingern die Hosenbeine in die Höhe, um sie zu schonen, weil sich die Knie sonst aus den Hosen herausarbeiten. Die andern Lehrer sprachen gar nicht vom lieben Gott, sondern sie redeten so von den Göttern der alten Griechen und Römer, daß es war, als glaubten sie an die, was natürlich bloß so schien. Und die Jungen dachten eigentlich gar nicht an Gott; das war so, daß er sich geschämt hätte, vor ihnen den Namen Gottes zu gebrauchen, denn er hatte das Gefühl, daß das nicht hierher paßte.
Mit Karl hatte er einmal ein Gespräch über diesen Punkt. Da sagte dieser, heute glaubten überhaupt die meisten Menschen nicht mehr an Gott, und die es doch täten, wären entweder Heuchler wie die Pfaffen, oder sie seien Dumme. Wie Hans ihn fragte, was dann sein Onkel sein sollte, verstummte er zuerst, und dann erklärte er, der sei »hinter seiner Zeit zurückgeblieben«. Solche Meinungen schienen Hans ganz schrecklich, und er hatte großes Mitleid mit Karl; der aber[61] lachte und sagte, er wolle ihm ein Buch borgen, in dem sei das alles ganz klar bewiesen. Zuerst wollte Hans das Buch nicht lesen, dann aber meinte er, daß er Karl vielleicht auf bessere Wege bringen könne, wenn er ihm solchen Widersinn klar mache, wie in dem Buche geschrieben sein werde, und deshalb studierte er es durch.
Da war nun aber plötzlich alles anders geworden. Karl hatte recht, in dem Buch war ganz klar nachgewiesen, daß es keinen Gott gab und daß nur die Schlechtigkeit der Menschen, insbesondere der Pfaffen, die von der Dummheit der Menschen ihren Vorteil zögen, noch die falschen Ansichten aufrecht erhielte. Gar nichts konnte man gegen die Beweise des Buches vorbringen. Das fiel ihm nun schwer aufs Herz, denn erstlich sollte er jetzt in einigen Wochen konfirmiert werden und mußte bekennen, daß er an die christliche Lehre glaubte, und das konnte er nun nicht. Wie er Karl fragte, was der tun werde, da konnte ihm der auch keinen Trost geben, sondern meinte, das sei nur eine Formsache mit dem Glaubensbekenntnis und man könne es nicht Lüge nennen, wenn einer dazu sein »Ja« sage, denn jeder wisse ja doch, was von diesen Dingen zu halten sei. Diese Meinung schien Hans nicht richtig, und er beschloß deshalb, einen Erwachsenen zu fragen, wiewohl er eine große Scheu hatte, wie wenn er etwas Verbotenes getan habe; aber weil es sein mußte, so überlegte er sich lange, wen er angehen solle, seinen Vater oder den guten Pastor, und er entschloß sich endlich, zu seinem Vater zu gehen. Der aber erwiderte ihm nichts auf das, was ihn bekümmerte, sondern wurde nur ärgerlich und sprach, er solle keine törichten Bücher lesen, sondern sich an seine Schulsachen halten und die ordentlich betreiben, so werde sich alles Weitere später schon von selber finden. Das war das erstemal, daß ihm auf eine Bitte keine Gabe wurde von seinem Vater, wiewohl nur deshalb, weil der ihn nicht verstanden, und von da an verschloß sich das Herz des Kindes vor dem Erzeuger und kam viel Kummer und schwerer Kampf aus solcher Entfremdung. So sehr aber hatte die Antwort ihn zurückgetrieben, daß er nun noch weniger wagte, zu seinem alten guten Pastor zu gehen.
Wohl wußte er, daß der Satan derlei Anfechtungen schickt, daß wir nicht glauben können, und daß wir dann siegen, wenn wir recht heftig zu Gott beten und Gott die Hilfe abringen; aber er sah auch [62] ein, wenn es nun keinen Gott gab, so war ja auch diese Lehre eitel Torheit; und das schien ihm so klar, daß es keinen Gott gab, daß kein Mensch mehr zweifeln konnte, nachdem er das Buch gelesen; es hieß aber »Kraft und Stoff«.
Und die Sorge um die Konfirmation war nur das Nächste. Weiterhin tat sich ihm dann die Furcht auf, wenn er nun die Schule zu Ende besucht hatte, so sollte er Theologie studieren nach dem Willen seiner Eltern; das konnte er aber doch alsdann nicht, denn er wäre doch dann auch einer von denen geworden, die das Volk betrügen und die Wahrheit verhehlen. Auch über diesen Punkt urteilte Karl ganz leichtfertig, indem er meinte, diese Sorge habe noch lange Weile, und vorerst brauche man sich um sie nicht zu bekümmern.
Für einen jungen Menschen bedeutet der Glaube an Gott noch wenig; er hat noch so viel andern Glauben an sich und an die Menschen und an die Zukunft und an die ganze Welt, daß er jenen entbehren kann, ohne daß etwas in ihm zusammenbricht. So empfand Hans seine Wandlung im Grunde gar nicht tief, sondern nur als eine Beunruhigung für seine Ehrlichkeit; erst in seinem späteren Ringen ging ihm wenigstens ein Teil der großen Fragen auf, um die es sich hier handelt. Diese erste Anfechtung fand ihn in der Gedankenlosigkeit, die der glücklichen Jugend eigen ist und geziemt.
Gerade in den Wochen, wo diese Gedanken einander am heftigsten anklagten und entschuldigten, kam noch eine zweite Angelegenheit zu ihrem Höhepunkt. Hans hatte nämlich eine Liebe gefaßt, wie das bei Knaben seines Alters geschieht, und in dieser ereignete sich etwas über alle Maßen Grausiges.
Das Städtchen war bis zum Deputationshauptschluß reichsunmittelbar gewesen; dazu führte bis zu dem großen Umschwung im sechzehnten Jahrhundert hier der Handelsweg vorbei, und die Bürger trieben wichtige und weite Geschäfte bis tief nach Asien hinein. So waren sie reich und stolz geworden und hatten ein Rathaus gebaut noch in den romanischen Zeiten aus den gewaltigen Blöcken des dort vorkommenden Syenitgesteins, das Funken sprühte, wenn man ihm einen Stahl anschlug, und waren in der wuchtigen Wand die kleinen Fenster verteilt, die das Licht von hoch herab in große Säle warfen, und [63] vorn führte eine steile und schwere Freitreppe zum Stock; am Eingang stand ein uralter und ungefüger Steinblock, an dem des Kaisers Schwert und Handschuh hingen. Jetzt spielten Kinder in luftigen Sommerkleidern auf der alten Treppe. Noch andre alte Häuser erhoben sich am Marktplatz, stolz und trotzig wie Burgen wehrhafter Ritter, aber mit hohen Dachräumen, in denen einst reiches Kaufmannsgut gelagert.
Als der Handel damals andere Wege einschlug, hatten die klugen und vorsichtigen Kaufherren einen verständigen Ersatz gesucht im Geldgeschäft und Beteiligung am Bergbau, und war eine zweite Blüte der Stadt gekommen aus diesen Gewinnen, die noch stolzer war wie die erste; aber die großen Staatsbankerotte, die Wandlungen des Metallwertes und die Zerstörungen des Dreißigjährigen Krieges hatten diesen Wohlstand von Grund aus vernichtet. Seitdem kamen kleine Bürger auf in den stolzen Häusern, die in Läden Handwerksgeräte, Kleiderstoffe und allerhand geringe Kaufmannswaren verkauften an die Leute aus dem Gebirge oder die Bauern vom Lande, die an den Sonnabenden zur Stadt kamen, hier einzuhandeln, wessen sie bedurften bei ihrem kleinen Wesen. Und außer den alten Häusern zeugten nur noch in der Kirche zu Sankt Blasien alte Wappen in den Fenstern, finstere Familienstühle mit sonderbaren Schnitzereien und prunkvolle Grabtafeln an den Wänden von den stolzen Geschlechtern, die einst hier gelebt, ehe die freisinnig gesinnten Kleinbürger in der Stadt hausten.
Nur eine der alten Familien hatte sich erhalten in sicherem Reichtum an Grund und Boden in den Dörfern; deren Letzte bewohnten noch das alte Haus aus schweren Quadern mit kleinen Fenstern und gewaltigem Giebel, den oben die große eiserne Rolle zierte, mit welcher einst die fremden Warenballen herausgewunden wurden. In den reichsstädtischen Zeiten war aus diesem Hause immer der regierende Bürgermeister gewählt und der Iktus, aber wie die Freiheit verloren ging, hatten sich die Herrschaften von allem zurückgezogen, und nun führten sie ein hochmütiges und abgeschlossenes Leben, die Männer in Verwaltung ihrer Güter und allerhand verschollener Gelehrsamkeit, die Frauen in Sorge für das Haus, Wohltun und Frömmigkeit; seit [64] dem dreizehnten Jahrhundert wies die Hauptkirche Stiftungen von ihnen auf, angefangen mit einem Stück guten schwarzen Tuches von acht Ellen, für die Armut bei den Beerdigungen als Sargdecke zu nehmen. Damals nun lebte Herr Jobst Riemenschneider mit seiner Frau und einem einzigen Töchterchen Johanna in dem alten Hause. Herr Jobst war ein durchsichtig blasser und feiner Mann mit einem verzehrten Gesicht, der Scheu hatte vor Menschen und alles Geräusch fürchtete, und ganz im verborgensten Winkel des Hauses hatte er seine Studierstube, deren Türen waren gepolstert, damit kein Laut sie durchdringen sollte. Hier forschte er in alten Akten und Archivstücken über die frühere Geschichte seiner Stadt; denn seit langen Jahren schon arbeitete er an einem Werke, das doch nie fertig zu werden schien, weil ihm immer neue Zweifel kamen, wenn er glaubte, er habe etwas festgelegt, und dann mußte er immer von neuem untersuchen. Unterdessen wurde in der allgemeinen Wissenschaft draußen ein heftiger Kampf geführt über die Anfänge des Städtewesens und die ersten Zeiten der Gilden und Zünfte und über die frommen Genossenschaften; das alles betraf seine Arbeiten, aber er verspürte von diesen Kämpfen nichts, denn seit seinen Universitätsjahren hörte er nichts mehr von heutiger Wissenschaft, sondern lebte nur seiner beschränkten Aufgabe, die doch von Jahr zu Jahr luftiger wurde und weniger zu fassen. Die Frau war bei der Heirat ein fröhliches junges Ding, von der niemand wußte, woher sie stammte, und es wurde heimlich erzählt, ste sei eine Schauspielerin gewesen. Damals lebte noch des Herrn Jobst alte Mutter, eine kalte und fromme Frau mit scharfen, grauen Augen. Die mag das junge Ding wohl sehr in die Zucht genommen haben, denn man merkte ihr an, wie sie sich veränderte und traurig aussah und oft verweint. Das einzige Töchterchen, das sie Johanna nannten, wurde ihnen erst nach Jahren geboren. Damals, als Hans seine Berührung mit diesen Manschen hatte, war die Frau schon lange leidend, und es hieß, sie müsse in den Süden gehen. Johanna wuchs auf in dem alten Hause, in dem es noch ein Zimmer gab, das ganz mit blauweißen Kacheln ausgelegt war, auf diesen Kacheln sah sie Schiffe und Windmühlen, Schlösser, Ruinen, Fischer, Kirchtürme, Chinesen und allerhand sonstige Dinge abgebildet, die man sich denken mochte. Dann [65] waren da große, geschweifte Schränke, die vier Türen hatten, und Kommoden mit wunderlichen Griffen, seltsam geschwungene Stühle, uralte Bilder, die ganz dunkel geworden waren und etwa einmal ein gespenstisch blasses Antlitz mit blitzenden Augen sehen ließen; Treppenstufen gingen zu Zimmern in die Höhe; Kronleuchter hingen seit Jahrzehnten eingehüllt, und vergoldete Stühle hatten festgebundene Bezüge. And auf den Böden stand unter Staub vielhundertjähriges Altertum, eingelegte Truhen, Spinnräder aus Mahagoniholz mit Elfenbein, alte Bücher in Schweinsleder mit messingenen Beschlägen, Rechnungen der Urahnen in Bändeln, Medizinflaschen von längst vergessenen Toten und sonstiges Krankengerät, Wiegen und Kinderspielzeug, darunter ein Puppentheater aus der Rokokozeit und ein großer Ballen sorgfältig gesammelter alter Leinwand, von der an arme Wöchnerinnen geschenkt wurde, wie seit Jahrhunderten schon geschehen in diesem Hause.
Johanna war ein blasses Mädchen mit schwermütigen, dunkeln Augen und langlockigem Haar; ihr Mund war schweigsam, aber ihre Augen vermochten ein tiefes und heftiges Gefühl zu erregen. Als sie Hans zum ersten Male ansah, war es ihm, als überfalle ihn eine ganz schreckliche Angst; über die dachte er lange nach, und zuletzt wurde es ihm sicher, daß er das Mädchen liebe. Wie er darüber klar war, beschloß er, mit Karl zu sprechen; aber kaum hatte er dem den Namen genannt, da machte er ein glückliches Gesicht und begann zu erzählen, wie sie die Tochter seiner Wirtsleute besucht habe, mit der sie zusammen zur Schule ging, denn er wohnte bei einem Oberlehrer, und es sei eines Sonntagnachmittags gewesen, und sie hätten Pfänderspiele gespielt; da hätte sie ihn mehrmals angesehen; und er wisse genau ihren Schulweg und habe eine Rose abgepflückt und sei vor ihr gegangen, daß sie ihn habe sehen müssen, und dann habe er die Rose für sie in einen stillen Winkel hingelegt, und sie habe die Rose genommen, und seitdem lege er ihr jeden Morgen eine Rose hin, und sie nehme und trage die.
Wie Karl das erzählte, schämte sich Hans für ihn, sowohl um die Frechheit, daß er die Rose hingelegt, wie auch, daß er ihm das erzählte, und wurde ihm auch sehr traurig im Herzen, in weiter und unbestimmter Weise. So sprach er nichts mehr und suchte, daß er bald nach [66] Hause kam, ging auf sein Dachkämmerchen und begann heftig zu weinen; der Wirtsleute gutherziges Töchterlein aber, das ein, zwei Jahre älter sein mochte wie er, als sie nebenan das Schluchzen hörte, kam sie zu ihm und wollte ihn trösten, riet auch gleich, daß er wohl verliebt sei. Da sprach sie recht verständig und wie eine ganz erwachsene Person, daß er doch noch ganz jung sei, und verloben könne er sich noch lange nicht, und überhaupt sei das alles nur Unsinn. Wie aber Hans, obwohl er sich schämte wie ein Dieb, doch immer heftiger zu schluchzen anfing, da konnte sie in ihrer Gutmütigkeit sich nicht mehr halten, denn sie hatte nahe ans Wasser gebaut, und fingen auch ihr an die Tränen über ihre runden Bäckchen zu rollen in dicken Tropfen. So saßen die beiden auf Hansens Bettkante; und kam ihr am Ende eine Erinnerung aus einem Buche, das sie gelesen, und sagte sie Hans, sie wolle seine Schwester sein, küßte ihn auf den nassen Mund und ging fort.
Nach wenigen Tagen hatte sie sich schon an Johanna heranzumachen gewußt und wurde mit ihr recht befreundet. Da dachte sie dann, Hansen guten Trost zu bringen, denn Johanna hatte ihr gesagt, sie möge Karl gar nicht leiden und habe Hans viel lieber; aber Hans glaubte ihr nicht, sondern meinte, sie wolle ihn nur trösten durch solche Botschaften. Einmal jedoch besuchte Johanna seiner Wirtsleute Tochter, und da sprach sie auch mit ihm einige Worte und sagte ihm zuletzt, weil es schon so dunkel sei und das Haus so abgelegen, so möge er sie doch eine Strecke begleiten, und wie er das tat, sagte sie ihm auf dem Wege dasselbe über Karl.
Da bekam er einen so wilden Haß auf den, daß er darüber erschrak, denn er hatte ein solches Gefühl noch nicht verspürt, und war es ihm besonders heftig, wenn er Karl lachen sah, denn da hätte er ihn mögen umbringen. Und weil er in diesen Tagen keinen Halt mehr fand in seinem Gebet, so geriet er in Trübsinn und tiefes Unglück, und ihm war, als sei er in einem Tal, aus dem es keinen Ausweg gibt, weil er vorher gemeint, es gebe einen Weg nach oben, der in Wahrheit nicht da war. So geschah es das erstemal, daß er dieses Gefühl hatte, das ja die meisten Menschen durch ihr ganzes Leben begleitet; sie wissen es sich nur zu verbergen, daß sie es haben, denn wenn sie das nicht täten, so vermöchten sie ja nicht zu leben.
[67] Während diese Dinge nun solchergestalt liefen neben den Dingen der Erwachsenen, die meinten, daß ihre Dinge wichtiger seien, spitzte sich in der Heimlichkeit eine andre Sache in Beziehung auf Johanna zu.
In Hansens Klasse war ein Schüler, dessen Jahre weit über den Durchschnitt seiner Mitschüler hinausgingen, und der von diesen nicht sonderlich geachtet wurde wegen seines törichten Wesens, denn er ahmte in geckenhafter Weise die Erwachsenen nach in seiner Tracht, Haltung und Benehmen; so hatte er dem Religionslehrer abgesehen, daß er eine große Silbermünze an der Uhrkette trug, was damals neu und elegant war, und hatte sich einen steifen Hut gekauft, wie die jungen Kaufleute haben, und trug Stege an den Hosen. Sein Vater war ein reicher Gutsbesitzer, der wenige Stunden von der Stadt entfernt wohnte, und von dem erzählt wurde, daß er habsüchtig sei und Geld auf hohe Zinsen ausleihe.
Als Hans an einem Morgen in die Klasse kam, sah er, wie dieser Mensch allein auf seinem Platze saß und scheinbar eifrig in einem Buche studierte; alle seine Nachbarn waren von ihm gewichen, und in einer Ecke des Schulzimmers wurde von einigen heftig gestritten und erzählt; von denen erfuhr Hans, daß Ecker, denn so hieß jener, bei einem Freunde einen Ring gestohlen habe, der dessen Mutter gehörte; und diese, in der Meinung, daß ein Dienstbote die Tat begangen, habe der Polizei Nachricht gegeben, und als Ecker den Ring beim Goldschmied zum Verkauf bringen wollte, sei er festgehalten und erkannt worden. Wie der Lehrer in die Klasse trat, gingen alle schnell auf ihre Plätze; der Lehrer aber rief Ecker an und sagte, es sei bereits Meldung über ihn eingelaufen, und er solle bis auf weiteres aus der Schule bleiben. Da richtete sich Ecker auf mit einem blassen und verzerrten Gesicht, daß alle erschraken, denn sie hatten ihre Blicke auf ihn gewendet, und machte sonderbare Bewegungen mit den Händen und stieg unbeholfen auf die Bank und den Tisch; und indem noch alle erstaunt waren, was dieses bedeuten solle, da zog er ein Terzerol aus der Tasche, wie es wohl Jungen heimlich für ihr Taschengeld kaufen, setzte sich das auf die Brust, schoß ab und stürzte vornüber auf die Bänke und Tische hin, wo die andern entsetzt wegstoben, ehe sie noch wußten, weshalb sie erschrocken waren.
[68] Hans war es, als höre er einen Fall eines schweren Geschirrstückes auf die Erde, denn er hatte die Handbewegung nicht verstanden, und wie Ecker fiel, wußte er noch gar nicht, was das bedeute. Als ihm das aber klar wurde, stieß er einen lauten Schrei aus vor Entsetzen, und nach einer kurzen Weile schrie er nochmals und anhaltend. Viele versammelten sich um ihn, und er wurde nach Hause gebracht.
In den nächsten Tagen wurde erzählt, wie alles zusammenhing. Der Tote hatte allabendliche Zusammenkünfte mit Johanna gehabt in der schlechtesten Straße des Städtchens, und hatten sie Leute da zusammen stehen und sprechen sehen. Um diese Liebe hatte der junge Mensch allerhand Ausgaben gemacht, die an sich wohl gering waren, aber doch sein Vermögen überstiegen, und so war er zu dem letzten verzweifelten Streich gekommen.
Für Hans war es, als ob er das alles in einem schweren Traum erlebe, bei dem man das Bewußtsein hat, daß doch nichts Wirkliches geschieht, sondern nur Erträumtes, und daß alles wieder in Ordnung ist, wenn man aufwacht. Und kam ihm zwar nicht zu rechter Klarheit, was innerlich bei ihm vorging, aber es ward ihm bewußt, daß alle Neigung zu Johanna plötzlich erloschen war, und ihm geschah, wie wenn ein verschönender Schleier plötzlich von ihrem Gesicht weggenommen war; so fiel ihm als häßlich auf, daß sie über dem Nasensattel kleine Sommersprossen hatte, die sie vorher ihm besonders liebreizend gemacht, und klang ihm auch ihre Stimme mit einem Male scharf und widerwärtig. Sie besuchte seine Wirtstochter und sprach wieder mit ihm, daß über sie viel gelogen werde, und sie sei jetzt nach jenem Todesfall so allein, deshalb dürfe er sie nicht auch verstoßen. Aber ihm war das alles abscheulich und ganz kalt.
Wie oft die Letzten untergehender Geschlechter zeigte Johanna das unheimliche Auftauchen längst vergessener Triebe der Urzeiten, denn nicht gestorben ist ja in uns das Blut unserer Vorväter, die im Steinalter und in der Bronzezeit düstere Höhlen bewohnten und mit bodengesenkten Blicken auf Raub und Vernichtung zogen, und es wird immer wieder regsam in uns selbst zu gewissen Zeiten, wenn die klare Vernünftigkeit schwach ist, die unsre Vorfahren errungen im jahrtausendlangen Kampf um das Freie, Hohe und Gute, und manche [69] Menschen erfüllt es gänzlich; die wissen dann nichts von sittlichen Geboten und folgen einer Selbstsucht, die wir nicht glauben, geben plötzlich sinnlos und ohne Gedanken einer auftauchenden Begier nach und machen uns vielleicht verwundern durch die Schärfe ihrer Sinne und die merkwürdige Kenntnis der Regungen in andern Menschen, wie durch die Fähigkeit, diese Kenntnis zu ihrem Nutzen zu verwenden.
Hans war dem geheimnisvollen Zwange der Natur unterlegen, welche die ehrbaren und braven Menschen treibt, daß sie sich an solche unehrlichen und schlechten hängen müssen, und scheint in der frühen Jugend, wo die Liebe noch ganz geistiger Art und dunkle Sehnsucht der Seele ist, dieser Zwang noch ärger zu sein wie im späteren Alter der zwanziger Jahre. Des halb muß man wohl sagen, daß Liebe etwas Furchtbares und Grausiges ist, und der Mensch ist glücklich zu preisen, den das Geschick davor behütet, in ihre Tiefen zu sehen. Aber bei Hansen war das nicht ein Sehen oder ein Verstehen, sondern ein ganz tiefes, heftiges Gefühl, das stärker war wie alle klare Äußerung des Geistes; und so tief in ihm war der Kampf vor sich gegangen, daß ihm nichts davon in sein Bewußtsein kam und er vielmehr erstaunte, daß seine Meinungen, Gedanken, Träume und Liebe so plötzlich umgeschlagen hatten. Aber mit einem Male überfiel ihn nun das Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit in der Welt. Das war den Sonntag vor seiner Einsegnung.
Da wurde ihm zum ersten Male klar, daß wir zwischen den Menschen wandeln wie zwischen den wesenlosen Larven, welche die Wüste erfüllen; sie weichen zurück, wenn wir auf sie zugehen, und wenn wir ihre Hände drücken wollen, so fühlen wir bloße Luft, und ist nichts in der großen Wüste lebendig, denn wir allein.
Es geschah aber in einem Wäldchen, weil er sich sammeln wollte und ohne Reden der Menschen sein, daß ihm diese Klarheit kam, und geschah, wie er eine Ameise betrachtete auf dem Wege, die sich abmühte um etwas, das für ihn selbst ein Nichts war. Da dachte er an sein Losungsbüchlein, welche Losung ihm das geben müsse für diesen Tag; und siehe, da stand geschrieben: »Ich wache und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.« Über diese Worte kamen ihm die Tränen und stürzten in großen Mengen aus seinen Augen, und faltete die Hände, [70] und wiewohl er keine Worte zu sagen wußte oder denken konnte, so betete er doch, und im Bitten schon hatte er noch Tröstung, Sicherheit und Ruhe.
Zwar bereits auf dem Heimwege kamen ihm wieder die alten Gedanken, daß es doch keinen Gott gebe, und daß deshalb solche Erfahrungen, wie er eben gemacht, ein Selbstbetrug seien; aber da half ihm wieder ein Buch, nämlich er hatte Doktor Martin Luthers Tischreden zu Hause liegen, die ihm der gute Pastor geliehen, in einer schönen, alten Folioausgabe, unbekümmert um die Derbheiten und starken Ausdrücke des Buches; denn er meinte, was aus einem reinen Munde kommt und in ein reines Herz geht, das kann keinen Schaden tun, und die heutigen Menschen sind übermäßig verzärtelt in ihren Worten, da sie doch in Gedanken und Taten unreiner sind wie früher. In diesem teuren und herrlichen Buche schlug Hans auf den Zufall hin auf, da stieß er auf die Stelle: »M. Antonius Musa, damals Pfarrherr zu Rochlitz, hat auf eine ZeitD. Martino herzlich geklagt, er könne selbst nicht glauben, was er andern predige. Gott sei Lob und Dank (hat D. Martinus geantwortet), daß andern Leuten auch so gehet, ich meinte, mir wäre allein so. Dieses Trostes hat Musa sein Lebenlang nicht vergessen können.«
Hierüber wurde Hans fröhlich und zufrieden, und schien ihm alles, was er Gelehrtes gelesen gegen Gott, dummes Zeug zu sein. Und beim frohen Blättern kam ihm noch eine andere Stelle unter die Augen:
»Als über D. Martini Lutheri Tische disputieret ward, wie ein lieblich Ding der Tau wäre, sprach D. Martinus: ›Ich hätte es nimmermehr gegläubet, daß der Tau so ein herrlich lieblich Ding wäre, wenn nicht die Heilige Schrift den Tau selbst hoch gelobt hätte, da Gott saget: Dabo tibi de rore coeli, ich will dir vom Tau des Himmels geben. Ach, Creatura ist ein schön Ding, wenn wir sollen Creationem glauben,tum balbutimus et blaesi sumus, und sagen Cledo für Credo, wie ein Kindlein spricht Lemmel für Semmel. Die Worte sind wohl stark, aber das Herz sprichtCledo; sed per hoc salvamur, quia cupimus credere. Ach, unser Herrgott weiß wohl, daß wir arme Kindlein sind, wenn wirs auch nur erkennen wollten. Sagen doch die Apostel selbst: Dominus adauge nobis fidem. Aber wir sind alle [71] klüger denn unser Herrgott, wir könnens nicht verstehen, nisi per filium, id est, Christum. Das ist alle seine Predigt, daß er spricht: per me, per me, per me, ihr könntet's nicht tun, wenn ihr euch gleich zerreißet, durch den Sohn werden wir zum Vater bracht. Darum, wenn wir nur glaubten, daß unser Herrgott klüger wäre, so wäre uns schon geholfen.‹«
Hans wurde mit Karl zusammen eingesegnet, nicht in der Stadt, sondern zu Hause in dem kleinen Dörfchen bei dem guten und frommen Pastor, der ihn in den ersten Jahren unterrichtet.
Es saßen zusammen zehn Kinder auf den Bänken der Konfirmanden, sechs Knaben auf der einen Seite und vier Mädchen auf der andern; und hatten die Mädchen das alte Dorfkirchlein mit seinen hellen Fenstern und weißgetünchten Wänden durch Kränze und Blumengewinde verziert, mit den vollen und farbigen Herbstblumen, vornehmlich Georginen und Astern, und der Boden war mit Tannengrün bestreut, das die Knaben den Tag vorher aus dem Walde geholt hatten unter fröhlichen Gesängen und wichtigen Reden darüber, wie sie sich morgen würden mit der kurzen Pfeife sehen lassen auf der Dorfstraße, und daß sie zum Erntefeste tanzen durften. Sie dachten wohl mehr an die Freuden der natürlichen Menschen bei der Feier; aber der natürliche Mensch und der geistige waren bei ihnen ja nicht so getrennt, wie wir meinen; und wenn ein Junge, der jetzt zur Seite ausspuckt, wie er es bei den erwachsenen Burschen gesehen, und vom Tanzboden spricht mit überlegener Miene, wenn der erst durch sein Leben gepilgert ist, durch Jugendtorheiten, Verliebtheit, Heiraten, Kindererziehen, Sorgen, Arbeiten und Kummer und als ein Greis im Hochalter vor seiner Hütte in der Sonne sitzt, dann denkt er auch wohl einmal an seine Einsegnung, und da verspürt er, daß er in Wahrheit doch noch andre Gedanken gehabt wie an die kurze Pfeife und das Tanzen. Es ist wohl recht lächerlich, daß auch Hans nicht die rechten Gedanken hatte; ihm fiel immer die Uhr ein, die ihm der Vater geschenkt, nebst der stählernen Kette, und der schwarze Anzug beengte ihn, und dann fürchtete er sich, daß er weinen werde. Karl saß neben ihm und war in sich versunken und hatte schwere Gedanken.
[72] Die Kirche war ganz voll. Da saßen unten die Frauen, voran die Bäuerinnen mit ihren Töchtern, dann die Frauen der Holzarbeiter, und hinten die Tagelöhner. Vorn sah man feste, ruhige und glatte Gesichter, denen man Sicherheit, Ordnung und Fleiß anmerkte und gute Gesundheit. Dann kamen Gesichter, in denen man viele Mühe und Not las und Sorge um das tägliche Leben, aber dabei doch Würde und Ehrbarkeit, und zuletzt sah man Übermut und niedergedrücktes Wesen, fahrigen Sinn, Unterwürfigkeit und gedankenloses Dahinleben. Auf dem Rang saßen die Männer, glattrasiert die alten und mit Bärten die andern, und sie hatten nicht so ihre geordneten Plätze wie die Frauen unten. Hansens Eltern waren auch zugegen und saßen im Pfarrstuhl, und der Vater trug die grüne Gala-Uniform mit dem Hirschfänger an der Seite und sah groß und stattlich aus, und neben ihm die Mutter, die mit der Frau Pfarrerin die einzigen Frauen in städtischer Tracht waren.
Wie die Gemeinde das Eingangslied gesungen, kam der gute Pastor und las das Evangelium, und seine Stimme tönte schön und tiefklingend wie eine wohllautende Glocke; und nach dem zweiten Lied folgte dann die Predigt.
Die wendete sich fast nur an die Kinder und ihre Eltern; der alte Mann sagte, daß sich nun das Tor auftat zum Leben, und rühmte Gottes Güte, daß der uns die Gabe verliehen, durch dieses Tor zu gehen nur mit Hoffnung und Freude; und siehe da, als er diese Worte sprach, wurden einer harten und strengen Frau die Augen naß, der reichsten Bäuerin, und zog ihr Taschentuch hervor und weinte still vor sich hin, und die Tagelöhnerfrauen hinten stießen sich an und sahen nach ihr mit Erstaunen. Der Prediger fuhr fort und sprach von der Schuld, wie die sich jetzt anspinnt, in diesen Jahren, wenn sie nicht schon älter ist, und wie sie größer wird und größer und unversehens so groß, daß sie uns überragt und uns beherrscht wie einen Sklaven. An dieser Stelle wurde Karl bleich und schaute verzweifelt vor sich hin, daß Hans erschrak, wie er durch Zufall zur Seite blickte und in sein verfallenes Gesicht sah. Vieles verstanden die Leute nicht in der Predigt, so die Worte, daß das Gute leichter sei wie das Böse, und daß man das Gute tue als ein froher Herr und das Böse als ein ingrimmiger[73] Knecht; aber es war auch wohl nicht nötig, daß die Leute alles verstanden, denn für sie konnten die Worte ja doch nicht Mahnung sein, sondern nur Trost, und den faßten sie auch so, selbst wenn zu dem andern ihre Gemüter nicht genug licht waren. Und nahm jeder den Trost in seiner Weise, denn die stolzen und lebensklugen Bauern hatten doch einen Winkel in ihrer Seele, wo die Sicherheit nicht war, der wurde nun erhellt, und die bekümmerten Holzarbeiter, die sich sorgten, wie sie die Ihrigen rechtschaffen durch das Leben brachten, fanden eine Hoffnung auf ein Leben, da es keine Sorgen und Kümmernisse gab, aber die oberflächlichen und prahlerischen Tagelöhner wurden wohl aus ihrer Selbstzufriedenheit erweckt, doch schwieg gleichzeitig der Stachel des Neides, der sie sonst quälte, und auch sie wurden fröhlicher.
Wie der Glauben bekannt wurde, sprachen die andern zaghaft und leise, Hans aber rief sein Ja laut und jubelnd, daß ihn der gute Pastor freundlich ansah; und unter bangem Herzklopfen folgte dann die Abendmahlfeier, bei der ein unbegreifliches Geheimnis unsern Glauben mit den urältesten Hoffnungen, Furchten und Gedanken der Menschen verbindet und so auch in Leichtfertigen und Gedankenlosen einen Schauer erzeugt, der ernst macht.
Danach sang die Gemeinde das Ausgangslied, und währenddem gingen die Eingesegneten einer nach dem andern zu dem Pastor in die Sakristei, brachten ihm, eingewickelt in Papier, ihren Beichtgroschen, wie es Sitte war seit undenklichen Zeiten, und niemand nahm daran einen Anstoß, und erhielten einen Spruch auf ihren Lebensweg; Hansen aber sah der Pastor mit einem frohen Lächeln an, dann nahm er seine Hand, legte ihm die Rechte aufs Haupt und sprach: »Halte, was du hast.« Das war in einer kleinen Sakristei, die getünchte Wände hatte, und stand da ein Tisch aus gestrichenem Holz, und darauf lag Bibel und Gesangbuch, davor das Kruzifix und ein Strauß Herbstblumen in einer blauen Glasvase; das Fenster war geöffnet, und von draußen kam das Murmeln der gehenden Menschen und herbstlicher Sonnenschein, der in Tropfen durch das Laub eines Baumes fiel. Wie Hans in die Kirche zurückkam, wartete da eine Taufgesellschaft, und war die Mutter früher Dienstmädchen bei der Herrschaft gewesen, die einen Waldwärter geheiratet, und hatten das erste Kind. Die Frau [74] saß in einem Kirchenstuhl, mit verlegenem und glücklichem Gesicht, und rosig und lächelnd und hielt das Kindchen auf einem Kissen im Arm und schaukelte es, damit es nicht schreien solle, das Kind aber wollte gar nicht schreien, sondern sah erstaunt nach dem großen Hängeleuchter, der mitten in der Kirche von der blauen, goldgesternten Wölbung herabhing. Der Vater stand aufrecht daneben in straffer Haltung, als ein früherer Soldat, und trug einen Bart rund ums Gesicht, in dem Oberlippe und Kinn ausrasiert waren, so daß nur der Kranz blieb; und auch er blickte glücklich und stolz auf das Kind, doch suchte er unbeteiligt auszusehen und wollte seine Gefühle verbergen, als unpassend für einen gräflichen Beamten. Die beiden Großeltern sollten Pate stehen, denn die Eltern mochten keine Patengeschenke von Fremden betteln. Die saßen gleichfalls, und ließ der Großvater seine Uhr an der härenen Kette baumeln, und wunderte sich, daß das Kind gar nicht auf die Merkwürdigkeit achten wollte, indessen die Großmutter zur Seite geschäftig in allerhand Linnenzeug kramte.
Wie der Pastor in die Kirche zurücktrat, erhoben sich die Sitzenden und traten alle zum Taufbecken. Die Mutter sah den alten Pastor an, der auch sie einst getauft, dann eingesegnet und endlich getraut hatte, und wurde noch röter, und ihr frisches Gesicht strahlte und wollte gewiß sagen, daß er das Kind bewundern solle, wie groß es war und verständig, aber sie besann sich noch zu rechter Zeit, daß das unpassend gewesen wäre, und in ihrer Verlegenheit schoß ihr eine ganz feurige Welle über das Gesicht, und machte einen Knicks vor dem geistlichen Herrn, wie es ihr früher beigebracht war, wenn sie auf dem Schlosse etwas der Herrschaft zu übergeben hatte, und reichte ihm das Kind. Der alte Mann lächelte freundlich, nahm es ihr ab, faßte ihm die Bäckchen und gab es der Großmutter, indem er der ganz verwirrt gewordenen Mutter zunickte.
Indem goß der Kantor das Wasser in das Taufbecken und prüfte mit dem Finger die Wärme; dann fand die Taufhandlung statt, bei der das Kind sich artig und ruhig hielt, dank der unermüdlichen Bewegungen der Großmutter, denn nur wie es die dreimalige Benetzung verspürte, schien es erstaunt und schlug die Augen über sich, und der Großvater, welcher der Stolzeste schien, rühmte es durch ein leises [75] Wort dem Vater; am Ende kniete die Mutter nieder, und der Pfarrer erteilte ihr den Segen. Karl erwartete Hansen, denn er hatte ihm Wichtiges zu sagen und wollte seine Seele erleichtern durch Erzählen. Schon seit etlicher Zeit hatten sich die beiden entfernt, unmerklich und ohne sichtbaren Grund, wie sich zwei Baumstämme trennen, die, im Meer treibend, einander gefunden hatten und zusammen dahinschwammen, eine lange Weile. Wenn sie sich trafen, hatten sie sich nichts zu sagen, trotzdem doch sonst der Jugend das Herz leicht überfließt von dem vielen Neuen, das durch Auge und Ohr hereinkommt und gebildet wird durch den schöpferischen Verstand, und deshalb sprachen sie Gespräche wieder, die sie vorzeiten geführt, wiederholten Worte, die damals lebten und nun tot waren, und wunderte sich im stillen ein jeder, wie wenig er zu sagen wußte. Aber heute war in Karl eine alte Liebe erwacht, und sein Herz sehnte sich nach einem teilnehmenden Gesellen. So feinfühlig sind wir, ohne daß wir es ahnen, daß das Fremde, das in uns gekommen, auf beiden Seiten wirkend, uns trennt; erst als seine Reue die Schuld hinauswarf, waren sie wieder zusammen wie vorher.
Karl erzählte aber von Johanna und seiner Liebe zu ihr, und wie er sich bisher nicht frei machen konnte, trotzdem er sich selbst verachten müsse, und er sehe klar, daß er immer niedriger und schlechter werde durch seine Zuneigung; heute aber habe er einen festen Entschluß gefaßt, daß er sich befreien wolle aus seiner Untertanschaft. Nicht so sprach er, wie hier mit abgezogenen Worten geschrieben ist, sondern er redete als ein Halbwüchsling; und ein Mensch, der nicht weiß, welche Bedeutung die Handlungen des Menschen haben, hätte seine Erzählung für kindisch gehalten und sein ganzes Erlebnis. Aber das ist eine oberflächliche Meinung, die durch die äußere Gestaltung, welche einer Handlung Alter und Bildung und sonstige formgebende Dinge anziehen, sich bewegen läßt in ihrem Urteil, und einen sittlichen Kampf belächelt, weil er in dem siegfriedhaften Wesen eines unerfahrenen Gemütes vor sich geht und um Dinge, die einem Erwachsenen unbedeutend erscheinen; da doch solche Vorgänge wichtiger sind, weil sie auf die weitere Bildung des Charakters einwirken, wie scheinbar bedeutsame Ereignisse in späteren Jahren.
Es kann ja kein Mensch trösten, denn es gibt keinen Trost, außer [76] den einen, den jeder schon weiß, daß wir Vergangenes nicht ändern können; aber in der bloßen Erzählung war ein Trost für Karl; denn indem er alles genau seinem Freunde schilderte, wußte er, daß er ein Zeichen von sich gab dessen, daß er nicht wieder zurückkehren würde zu dem, was zu verlassen er sich vorgenommen. So gelangte er ans Ende seiner Geschichte frohen Mutes, und auch Hans war fröhlich, und beide freuten sich einer neuen Freundschaft, die ihnen leuchtete wie ein Ährenfeld nach einem erquickenden Sommerregen, wenn die Sonne sich in tausend frischen Tropfen spiegelt und die Erde einen nahrhaften Geruch ausströmt, denn die Gedanken junger Leute laufen noch mit eiligen Kinderfüßen, und besonders laufen sie eilig vom Trüben zum Trostreichen. Aber wer zu urteilen wüßte über Menschen und Schicksale, ahnen könnte aus ihrem Wesen, der hätte gesehen, daß Karl wohl guten Willen hatte und einer guten Leitung folgte; aber in seinem Innern war doch Zuchtlosigkeit und Schwäche, und auf irgendeine Weise mußte Schwäche einmal sein Schicksal entscheiden. Jetzt war es so, daß einmal und für einen flüchtigen Augenblick und unverstanden aus den grauenhaften Tiefen, die wir ja alle haben, in ihm der Gedanke auftauchte: er möchte Hansen töten; das war ein nichtiger Gedanke, wie uns tausende durch den Kopf gehen, ohne Folgen und selbst ohne Möglichkeiten von Folgen; es war nur ein leises Lebenszeichen des Bösen in ihm, das sich des Vertrauens schämte und Haß empfand gegen den Mitwisser der Schwäche.
Die beiden waren im Walde gegangen durch raschelndes Buchenlaub; wie sie zurückkehrten und zwischen den Bäumen hervortraten, standen sie oberhalb des Dörfchens, das sich lang das Tal in die Höhe dehnte; die Kirchenglocke läutete zur Beerdigung, und auf dem Kirchhofe predigte der Pastor vor einem offenen Grabe, an dem die Leidtragenden standen.
Der Verstorbene war ein recht unglücklicher Mensch gewesen; denn schon seine Eltern hatten im Armenhause gelebt und als leichtfertiges und träges Volk, und wie er noch ein ganz kleines Kind war, hatte ihn die Mutter einmal im Zorn auf die Erde geworfen, davon er sich die Hüfte verrenkt, und war ihm das Bein verdorrt, so daß er sich nur mit mähseligem Humpeln weiterschleppen konnte; hierdurch [77] erhielt er den Namen Hinkeding. Wie er etwa sieben Jahre alt sein mochte, starben seine beiden Eltern, und die Gemeinde gab ihn dem Abdecker in Kost, der außerhalb des Dorfes lebte; bei dem hatte er es noch übler wie bei den rohen Eltern, denn er erhielt nur schlechte Nahrung und geringe Pflege und mußte trotz seines Gebrechens und seiner Jugend doch viel arbeiten, das er zwar willig tat. Die böse Dorfjugend beschimpfte ihn um diese Arbeit noch weiter und nannte ihn Wasenmeister, und mochte sich darum kein andres Kind mit ihm abgeben, auch hätten die Eltern es denen verboten, wenn sie es getan hätten. So wuchs Hinkeding roh und tückisch heran, nur mit dem alten Wasenmeister und seiner bösen Frau hatte er zu sprechen, die in schlechtem Rufe standen, außer ihrem ordentlichen Geschäft, daß sie allerhand Zauberei und Aberglauben treiben sollten. Beim Konfirmandenunterricht mußte er allein auf einer Bank sitzen, denn der damalige Pfarrer war zu schwach und unverständig, um dem Unwesen zu steuern, und nach den Stunden fielen oft die andern über ihn her und schlugen ihn, wiewohl er sich wehrte mit allen Mitteln, indem er trat und kratzte, und einmal zog er selbst ein Messer. Niemals durfte er auf den Tanzboden kommen, und auch die geringsten Mädchen wendeten sich von ihm mit Verachtung, denn selbst einer Gutsmagd uneheliche Tochter, die bei einem Bauern diente und ein Auge verloren durch einen Stich mit der Heugabel, mochte nicht mit ihm sprechen. In solchen Lebensverhältnissen hatte sich in ihm eine besondere Bosheit ausgebildet, daß er die Kinder erschreckte, indem er plötzlich eins faßte und ihm unheimliche Dinge sagte, die er vielleicht auch ausgeführt hätte, wenn er es gewagt, oder daß er den Mädchen bösartigen Schabernack antat, um den er dann wieder von den andern mit Grund gehaßt und verfolgt wurde. Später warf er sich darauf, allerhand Bücher zu lesen, die er bekommen konnte, denn wiewohl er in der Schule nichts gelernt hatte, weil in den Zeiten, wo er jung war, sich um solche Kinder niemand bekümmerte, wußte er sich allerhand Künste doch aus seinem eignen Geiste zu lehren und hatte auch ohne Anleitung das Lesen gelernt. Aus diesen Büchern kam ihm nun viel verwirrtes Zeug in seinen Verstand, denn er verschmähte einfache und schlichte Schriften, die er hätte verstehen können, sondern wollte Bescheid [78] wissen, wie die Welt geschaffen, und weshalb das Böse in die Welt gekommen, und wie weit der Himmel von der Erde entfernt sei und solche Dinge, denn es hatte wohl seine arme, umdüsterte Seele ein Sehnen nach Gott und nach Gerechtigkeit; denn wenn auch die Liebe dem natürlichen Menschen nicht eigen ist, so hat er doch ein Streben nach Gerechtigkeit. Dergestalt kam er auf eigne Gedanken, daß es keinen Gott geben könne, weil da ein Stern war, dessen Licht erst nach viertausend Jahren zu uns kam, weil er so weit entfernt von der Erde war. Und bei dieser Meinung blieb er; wie er aber nichts weiter hatte, an das er sich halten konnte, so wurde er hochmütig auf seinen Verstand und verachtete alle andern Menschen und verhöhnte sie, und diese hinwiederum beharrten in ihrem alten Spott und Haß und vermehrten nur ihr Lachen, wie sie von seinen Ansichten merkten; und wenn er auch allen andern Spott fühlte, so spürte er hier doch nichts davon, daß sich die jungen Burschen über ihn lustig machten, wo sie ihn fragten, wie lang und breit der Himmel sei und ähnliches, sondern erklärte ihnen seine Meinungen, achtete gar nicht ihres Lachens, sondern hielt dieses wohl gar für Anerkennung und verhöhnte sie wegen ihrer Dummheit und Unbildung. Und so groß war sein Eifer, wenn er dergestalt lehren und sich rühmen konnte, daß er gar nicht merkte, wie er Hinkeding Wasenmeister genannt wurde, welche Namen ihn sonst zu heftigem Zorne bringen konnten.
Wie der jetzige Pfarrer seines Vaters Stelle erhalten, war es schon zu spät gewesen, noch auf den armen Menschen einzuwirken, denn die Bosheit war schon ganz unausrottbar in ihm gewurzelt, und seine Meinungen hatten sich so in ihm befestigt, daß sie nicht mehr vernichtet werden konnten. So war es mit ihm denn immer schlimmer geworden, daß er am Ende ein gefährlicher Mensch war, der nur durch ein Wunder noch kein schweres Unheil angerichtet, vielleicht weil ihn seine Unbehilflichkeit an vielem hinderte. Denn weil sein eignes Gemüt schlecht war, und weil gegen ihn alle Menschen sich schlecht gezeigt hatten, so bildete er sich die Gedanken, es gebe gar keine Güte im Menschen, und sei auch allen alles erlaubt, nur daß sich immer einer vor dem andern fürchte.
Dieser unglückliche Mann war nun im Hochalter gestorben; und [79] wiewohl die Leute im Dorf gewollt hatten, daß er beigescharrt werde wie ein Tier, wegen seiner Lästerungen und Bosheiten, hatte der Pastor doch verlangt, daß er ehrbar geleitet wurde, und nun hielt er ihm selbst eine Predigt.
Jetzt stand der Mann vor Gottes Thron und wartete auf sein Urteil. Und sein Ankläger brachte ein großes Buch vor, in dem standen geschrieben die vielen Schmähungen und Lästerungen, Bosheiten und schamlose und niederträchtige Handlungen. Denn als eine im tiefsten Innern böse Person hatte er sich selbst an den unschuldigen Tieren und an jungen Bäumchen vergriffen. Aus bloßer Lust hatte er viele hundert junger Bäume abgeschnitten, die in Fröhlichkeit sich in der Frühlingsluft zu strecken gedachten, und Tiere hatte er nicht nur geworfen und geschlagen, sondern einmal hatte er einem jungen Hunde, der ihm treuherzig gefolgt war, ein Auge ausgestochen, und einem Pferd hatte er brennenden Schwamm unter den Schwanz gebunden. Nichts konnte sein Verteidiger erwidern, wie daß er erzählte von seiner elenden Kindheit und jämmerlichen Jugend, und daß er nur Schlechtes gesehen hatte in seinem Leben und nie Gutes ihm erwiesen war. Aber vor Gott gibt es keine Entschuldigung aus diesen Dingen, denn er sagt, daß er den Menschen eine reine Sonne an den Himmel gestellt hat, zu der sollen sie aufschauen. Da erzählte der Verteidiger zuletzt eine Geschichte, die einzige, die er hatte aufzeichnen können in seinem Buch.
Vor langen Jahren, der Mann war noch ein Jüngling gewesen, hatte er einmal an einem Raine unter einem Quitschenbaum gesessen und an einem hölzernen Löffel geschnitzt, denn er erhielt sich durch Anfertigung und Verkauf von allerhand Holzwaren. Da kam ein kleiner dreijähriger Junge zu ihm, dessen Eltern im Feld arbeiteten und durch einen geringen Hügel verdeckt waren, nannte ihn und bat, er solle ihm eine Pfeife machen; er konnte aber noch nicht alle Buchstaben sprechen, deshalb sagte er zu ihm Inkeding. Da sah Hinkeding das Kind an, stieg auf den Baum, der hoch war und glatt, schnitt ein passendes Reis ab und machte dem Kind eine Pfeife, indem er beim Klopfen das Liedchen sang, welches er selbst als Junge oft gehört, aber nie über seine Lippen gebracht hatte, weil er allein war und keine Pfeife haben mochte.
[80] Er war noch ein Jüngling gewesen damals, und als er älter wurde, schnitt er die Bäumchen ab und stach dem kleinen Hund ein Auge aus; aber Gott sieht nicht in der Zeit wie wir, sondern ohne die Zeit; was wir Menschen auch tun sollten, wenn wir uns herausnehmen, in sittlichen Dingen zu urteilen; und weil er keine Seele von sich läßt, die auch nur eine Ahnung des Guten hat, denn er meint, daß durch Güte sich Güte vermehrt, was freilich nur für den Himmel paßt, und nicht für dieses irdische Gefängnis unsrer Seele hienieden, so nickte er dem Manne freundlich zu und nahm ihn auf in sein ewiges Leben.
In dem Augenblicke hatte der Pfarrer seine Rede am Grabe beendet, und der eine oder andre der Umstehenden nahm sich vor, er wolle künftig seinen Kindern verbieten, solche Menschen zu verspotten, und wolle ihnen selbst ein Beispiel geben. Und die beiden Jünglinge oben am Waldesrande, die auf den Gottesacker niedersahen, dachten, daß sie eben froh gewesen waren, und daß ein Mensch begraben wurde, der unglücklich gewesen in seinem ganzen Leben.
Nun hatte Hans die Schule durchgemacht und das Examen bestanden; so sollte er jetzt die Universität beziehen. Bis dahin war er nie ganz von Hause weg gewesen, denn wenn er auch in den Wochentagen im Löwenhof in einem Dachkämmerchen war und in der Schule auf den Bänken saß zwischen den andern, so pilgerte er doch jeden Sonnabend nach Hause, durch den hohen Tannenwald, an stillen Holzhauerdörfchen vorbei zu seinem Vaterhaus, das auf einer umschlossenen Waldwiese stand, in schwarzen Schiefern, und krausen Rauch schickte es in die helle Luft. Aber nun sollte er weit fort reisen mit der Eisenbahn, aus den Bergen in das ebene Land, und erst nach Monaten kam er wieder in die Heimat; und wenn er dann seine Studien beendet, wer weiß, in welche Ferne er dann gehen mußte.
Da rief ihn die Mutter zu sich und ging mit ihm in die Schlafkammer oben, um ihm ungestört ihre Abschiedsworte zu sagen.
Sie machte ein Gleichnis und sprach: Wenn du einen Tropfen Essig schüttest in ein Faß edlen Weines, so wird der Essig zu Wein; und umgekehrt, wenn du einen Tropfen Wein gießest in ein Faß mit Essig, so verliert er seine Natur und wird zu Essig. Also ist auch der [81] Menschen Natur, denn wenn ein guter Mansch kommt in böse Gesellschaft, so verliert er alsbald seine Art und nimmt schlechte Art an, gleichwie ein Böser, der in gute Gesellschaft kommt, sich zu guter Art schlägt. Dieses bedenke und hüte dich vor lockeren Buben, die du viele treffen wirst auf der hohen Schule und in der großen Stadt. Denn wir, ich, dein Vater, deine Großmutter und unsre Magd Dorrel haben uns getreulich bemüht, daß du ein guter Mensch werdest; jetzt aber müssen wir dich ziehen lassen, mit Furcht und Sorgen, daß du uns nicht verdorben werdest und zurückkehrest als ein nichtsnutziger und verkommener Mensch. Und laß dich auch nicht verführen durch Neugierde und Eitelkeit, daß du zu tun bekommst mit solchen Buben, und du meinst, es soll nur auf kurze Zeit sein, nachher aber gedenkst du sie zu meiden; sondern denke, daß das Böse sich an den Menschen hängt wie Kletten, auch durch leise Berührung, und schwer ist es, daß sich einer wieder befreit von dem Unkrautsamen an seinem Gewande. Besonders aber warne ich dich vor der Eitelkeit; denn du weißt wohl, daß die Bösen spotten über die Guten und ihnen vorwerfen, sie seien unfrei, weil sie nicht tun wie sie und hören auf erfahrene Leute, dahingegen doch die Bösen selbst unfrei sind, denn wohl tun sie die ersten Schritte ohne Zwang, alle weiteren aber als Knechte ihrer früheren Taten; ein Trinker kann nicht mehr lassen vom Trinken und ein Hurer vom Huren, sondern ihr Teufel zieht sie hinter sich her an ihren Haaren. Du mußt aber wissen, daß dieses die besondere Verblendung des Satans ist, daß er macht, daß seine Knechte sich für frei halten; denn sie lügen nicht, wenn sie der andern spotten, sondern reden aus ihrer wahren Meinung.
Und wirst du nicht bloß böse Buben finden, sondern auch schlechte Mädchen, die dich verführen wollen zu Unkeuschheit und Werken der Wollust. Dazu wird deine eigne Begierde wach werden, denn du bist jetzt in die Jahre gekommen, da der Mann sich nach dem Weibe sehnt, und geschieht diese Verführung aus dem natürlichen Menschen und ist deshalb stärker wie die andre zum Trinken, Spielen und Balgen. Deshalb denke, daß du keusche und reine Eltern gehabt hast, denn dein Vater ist in das Ehebett gestiegen als ein unbefleckter Jüngling, gleichwie ich als reine Jungfrau. Und denke ferner, daß du einst ehelichen [82] wirst und Kinder haben; aber was für Kinder wirst du bekommen, wenn du deine Kräfte ausgibst in jungen und unfertigen Jahren! Wenn du dich vergleichst mit deinem Vater, so wirst du finden, daß du einmal größer und stattlicher sein wirst, wenn du in dein Alter kommst, obwohl du viel in der Stube und über Büchern hast sitzen müssen; dessen Ursache ist das ehrbare und ordentliche Leben deines Vaters, der sich zusammengehalten hat in seiner Jugend, damit sein Sohn einst tüchtig sein solle.
Aber wenn du diese beiden Gefahren vermeidest, so wird dir eine dritte begegnen. Denn du wirst in der Stadt Mädchen finden, die sind zwar ehrbaren Wandels und ordentlichen Herkommens, und man kann ihnen nichts nachsagen; aber sie mögen nicht an sich selbst schaffen, sondern sind leichten Herzens und denken nicht an die Zukunft, und meinen, alles sei gut, wenn sie nur einen Mann haben, den sie lieb haben können. Hüte dich, daß du dich mit solchen Mädchen einläßt und etwa denkst: ich will mich verloben jetzt, und wenn ich fertig bin mit meinen Arbeiten, so will ich sie heiraten, und denkst: ich habe sie lieb, und sie hat mich lieb, und wir werden ein gutes, christliches Ehepaar sein, ehrlich leben und unsre Kinder gut aufziehen. Dieser Liebe sollst du mißtrauen, obwohl sie mit großer Schmeichelei deiner Natur und Seele daherkommt. Denn ein junger Mensch hat keine Erfahrung und weiß nicht, wie schwer es ein Hausvater hat, und was ein Haus kostet, und wie tüchtig ein Mädchen sein wird als Hausmutter. Deshalb öffne deine Augen und betrachte die Menschen, die sich frühzeitig verloben und verheiraten; da wirst du finden, daß das alles ein leichtes Volk ist, das sich freut ein Jahr lang, und das andre Leben bringt es hin mit Sorgen und Borgen. Auch ich, deine Mutter, habe eine Liebe gehabt, wie ich achtzehn Jahre alt war, zu einem jungen Kaufmann, und wie mein Vater nichts wissen wollte von dieser Liebe und der Bewerber traurig von ihm ging, da meinte ich, daß ich sterben müßte vor Kummer, und wäre ins Wasser gegangen, wenn ich nicht Gottes Wort gehabt hätte. Heute segne ich meinen Vater im Grabe, daß er hart gegen mich war aus Liebe, denn der Mann ist leichtsinnig gewesen und hat sein Vermögen vertan durch törichtes Bauen und übermäßige Erweiterung seines Geschäftes, weil er etwas Besonderes vorstellen [83] wollte. Dann harrte ich sieben Jahre, und da kam dein Vater; das war eine andere Liebe, die ich zu dem hatte, denn ich ward ruhig durch ihn und stark. Er hat mir keine süßen Worte gegeben und mich nicht gerühmt; aber seit ich seine Ehefrau bin, habe ich keine andre Sorge gehabt als die, welche Gott jedem Menschen auferlegt, nämlich um ihn in seinem Beruf, das ihm nicht ein Unglück geschieht, und um dich, mein geliebter Sohn, daß du gesund und gut aufwachsest; und ein bös Wort habe ich nie von ihm gehört.
Darum habe ich dir das erzählt, wiewohl es mir eine schwere Aufgabe war, weil diese dritte Versuchung die schwerste ist. Denke an meine Worte, wenn du vermeinst, daß du ein Mädchen getroffen habest, von der du nicht wieder lassen kannst. Vergiß nicht, daß erst das Weib den Mann zum Manne macht, deshalb darf der Mann kein Jüngling mehr sein, und deshalb soll er sein Weib auswählen, nicht bloß nach dem Gefühl der Liebe, wie es von den heutigen Dichtern beschrieben wird, sondern mit Ernst und Furcht.
So sprach die Mutter zu Hans. An manchen Stellen ihrer Rede färbte die Scham ihre Wangen; aber sie sprach ruhig und sicher, als eine Mutter zu ihrem Sohn. Und der Sohn ward bewegt in seinem Herzen und fühlte, wie er seine Mutter liebte, die stattlich und stolz vor ihm stand mit dem glatten und blonden Scheitel.
Hans antwortete, daß er ihre Worte behalten wolle. Und er glaube, daß er keine großen Anfechtungen erleiden werde. Denn es ist wohl ein unchristliches Gefühl, das ich habe, aber ich glaube doch, daß meine Meinung richtig ist: ich denke nämlich, daß ich besser bin wie alle andern jungen Leute, die ich bis jetzt gesehen, und deshalb muß ich mich zusammennehmen, damit ich später auch etwas leisten kann, wenn ich ausgelernt habe. Und ich will mich auch hüten, daß ich nicht hochmütig werde, denn ich kann ja nicht so viel für mich, sondern das meiste habe ich von Natur, nämlich von euch.
Nach diesem Gespräch war ein neues und andres Leben zwischen Hans und die Mutter gekommen; er war freier gegen sie und offen, wiewohl er ihr auch früher nichts Besonderes verheimlicht hatte; aber er hatte das Gefühl, daß er jetzt zu ihresgleichen herangewachsen sei, gleichwie er vor Jahren zu Dorrel herangewachsen und ihr gleich, bald [84] dann auch ihr überlegen geworden war. So blieb jetzt nur noch der Vater über ihm. Gegen den Vater hatte er noch die alte kindliche Scheu; gegen die Mutter aber hatte er eine neue Scheu bekommen, wie er sie etwa gegen seine Braut gehabt hätte, und eine neue Liebe seit jener Bewegung im Herzen, die mehr zärtlich war wie früher. Solches sind die Ringe unsrer wachsenden Seele; und wenn unsre Seele in Gesundheit und Kraft zunimmt, so setzt sie solche Ringe einen nach dem andern an, und unser innerer Kern wird immer heimlicher und verborgener vor dem Ahnen der andern Menschen.
Aber wie die Mutter mit Hans gesprochen hatte, da nahm ihn auch Dorrel mit sich auf ihr sauberes Dachkämmerchen, wo ihr hochaufgetürmtes Bett stand mit rot und weiß gewürfeltem Bezug, und ein blankgescheuerter hölzerner Stuhl, und ein großer Koffer, mit bunten Blumen bemalt.
Den Koffer öffnete sie, zeigte ihm, was darinnen war, und sprach, daß er einst erben solle, was sie besitze, denn sie habe nur einen Bruder gehabt, der sei nach Amerika gegangen und habe dort eine Bauernstelle erworben, seit langen Jahren aber habe sie nichts mehr von ihm gehört und wisse gar nicht, ob er noch lebe und Kinder habe; in fremde Hände aber solle ihr Gespartes nicht fallen. »Aber wenn du einmal heiratest, so schenke ich dir dieses Tischtuch und zwölf Servietten; dazu habe ich den Flachs selbst gesät, gezogen, gebrochen, gehechelt und gesponnen, und vom Weber habe ich ihn mir weben lassen mit künstlichen Figuren von Bäumen und Tieren und einem Jäger. Jetzt ist das Leinen zwar noch hart und sieht grau aus, aber wenn es erst ein Jahr lang im Gebrauch gewesen ist, so wird es weich, weiß und glänzend. Nur hüte dich vor den faulen Wäscherinnen, die in der Apotheke fressende Gifte kaufen, die verderben dir deine gute Leinwand, und du hast am Ende nur Lumpen.« Danach zeigte sie ihm ihr Sterbehemd, das hatte sie auch selbst gesponnen und mit schönen Spitzen besetzt und wollte sie mit ins Grab nehmen; ihre übrige Wäsche aber, die gebraucht ist, welche er nicht behalten wollte, sollte er verschenken, einem armen und ordentlichen jungen Dienstmädchen, das sich noch nichts hat anschaffen können,und dem damit geholfen ist; »aber es muß ein ordentliches und fleißiges Mädchen sein, die meine Sachen trägt mir zu [85] Ehre und sie sauber hält, nicht so ein faules Bettlergesindel, das in Lumpen umhergeht.«
Am Ende zog Dorrel noch ihre besonderen Kostbarkeiten hervor, an denen ihr Herz am meisten hing. Da war erstlich ein gestickter Tabaksbeutel, den hatte ihre Mutter ihrem Vater einst als Braut geschenkt und hatte derzeit zwei Taler gekostet, war auch nie gebraucht von ihrem Vater, aus Ehrfurcht, weil er so teuer gewesen. Den hatte ihr Bruder damals mitnehmen wollen nach Amerika, aber sie hatte ihn nicht hergegeben, weil sie dachte, in Amerika könne er in schlechte Hände kommen und zu Leuten, die nicht verstünden, wie kostbar er ist. Er war aber aus grüner Seide gehäkelt und waren Rosen, Vergißmeinnicht und Veilchen aus Perlen darauf, und in der Mitte war ein Wort »Souvenir«, das war auch aus Perlen, aber aus goldenen; gefüttert war er mit guter Schweinsblase. Dorrel sagte, wenn Hans erst Pastor sei, dann werde er sich das Rauchen aus einer langen Pfeife angewöhnen, und natürlich hätte er dann seinen Tabak in einem Kasten, aber wenn er einmal auf Besuch gehe, dann müsse er einen Tabaksbeutel haben, da solle er dann diesen nehmen; denn für einen Pastor schicke sich wohl so ein teures Stück, aber nicht für einen Tagelöhner, und eigentlich sei es ein rechter Unsinn gewesen von ihrer Mutter, ein solches Geschenk zu machen. Dann zeigte sie ihm einen geschnitzten Stockknopf aus Knochen. Der stammte desgleichen von ihrer Mutter her, welche als Mädchen in einem großen Hause gedient. Der Knopf hatte auf einem Rohr gesessen, das der Herr zu tragen pflegte, und wie das Rohr einmal zerbrochen war, wurde der Knopf mit fortgeworfen, Dorrels Mutter aber hatte sich ihn ausgebeten, abgeschraubt und sorgfältig aufgehoben. Jetzt sollte ihn nun Hans kriegen, wenn er erst eine Pfarre hatte, und da sollte er sich ein gutes Meerrohr mit ordentlicher Zwinge beim Drechsler kaufen und an den Knopf andrehen lassen; denn der Knopf war zwar altmodisch, aber von guter Arbeit, und weil die Mode sich immer ändert, so kommt es gewiß auch einmal wieder auf, daß die Männer von Ansehen solche Art Stöcke tragen.
Zuletzt hatte sie noch einen Hund aus Gußeisen, der für einen Briefbeschwerer dienen sollte, und hatte noch eine ganz andre Geschichte.
[86] Auch Dorrel war einmal ein hübsches junges Ding gewesen mit prallen Backen und lustigen Augen, aber brav und ordentlich war sie auch schon, wie sie erst ihre achtzehn Jahre hatte. Da war da ein junger Knecht bei der gräflichen Herrschaft auf dem Hofe, der verliebte sich in sie und sie in ihn, und wie Kirmes war, tanzten sie viel zusammen, und er bezahlte für sie Himbeerwasser, und weil sie sich so recht glücklich fühlten, wollten sie sich etwas schenken, was sie später einmal brauchen konnten in der Wirtschaft. So kaufte Dorrel ihrem Schatz eine Samtweste, die mit bunten Blumen bestickt war, und er kaufte ihr den eisernen Hund, denn er sagte, wenn sie sich später erst etwas gespart hätten, so müßten sie sich einen Glasschrank kaufen, und in dem würde sich der eiserne Hund gar prächtig machen. Wie sie aber nach Hause ging, hatte sie schon Angst vor ihrer Frau, denn sie war damals schon bei Hansens Großmutter von der mütterlichen Seite, was die zu ihrer Liebschaft sagen würde; und in Wahrheit bekam sie auch starke Schelte, und die Frau hielt ihr vor, daß sie selbst nichts habe, und er habe zehn Geschwister, und wenn sie heirateten, so komme Hunger und Kummer zusammen, vornehmlich, wo sie sich so läppisch zeigten und sich so einfältige Geschenke aufschwatzen ließen von den Krämern, denn wenn die Dummen zu Markte gehen, so lösen die Krämer Geld. Darum solle sie ihr nicht wieder kommen mit einer Liebschaft, ehe sie nicht fünfundzwanzig Jahre alt wäre. Da seufzte und weinte Dorrel die Nacht durch, aber bedachte sich doch, daß die Frau recht hatte, und daß ihr Liebster erst noch zu den Soldaten mußte. Deshalb sagte sie zu ihm, was die Frau zu ihr gesprochen, und versprach, daß sie auf ihn warten wolle, und sie müßten ihre Zeit ausharren und sich erst anschaffen und sparen. Da schimpfte der Mann wohl recht auf ihre Frau und sagte, die solle ihm nur einmal in den Weg kommen, der wolle er schon die Wahrheit sagen, aber am Ende mußte er sich geben, sah auch wohl ein, daß Dorrel recht hatte. Weil er indessen wohl ein guter Kerl war, aber einen leichten Sinn hatte, ließ er sich mit einer andern ein; als er in der Stadt bei den Soldaten stand, heiratete die auch, zog fort und kam nachher in großes Elend. Dorrel aber brauchte lange, bis sie die Gedanken an ihn verwand; und wie sie wieder so weit war, daß sie dachte, sie möchte wohl heiraten, da [87] schien ihr keiner recht, denn sie war inzwischen etwas altjüngferlich geworden, hatte große Besorgnis, daß dieser liederlich werden möchte und jener krank und der dritte faul; später hätte sie wohl auch einen Witmann bekommen können, aber da bedachte sie, daß sie es doch zu lange gut gewohnt war bei ihrer Herrschaft und fürchtete sich vor den Sorgen und der Not; und so geschah es, daß sie ledig blieb, und die Liebesgeschichte mit dem Knechtlein, wo sie den eisernen Hund geschenkt kriegte, war ihre einzige.
Diesen Hund nahm sie nun hervor, wickelte ihn sorgfältig aus dem Papier und reichte ihn dem Hans, indem sie sagte, weil er jetzt als Student so viel schreiben müsse, so solle er den Briefbeschwerer gleich haben, denn sie schreibe ja doch nicht, weil sie niemand habe in der Welt. Die Geschichte erzählte sie ihm zwar nicht, wie sie zu dem Hund gekommen, aber wie sie an die alte Zeit dachte, da kamen ihr die Tränen in die verrunzelten Augen; sie war aber auch gerührt, weil sie sich recht lebhaft vorstellte, wie es erst wäre, wenn Hans nicht mehr am Sonnabend nach Hause käme, da streichelte sie ihm mit ihrer rauhen Hand seine Backe, und die Hand zitterte; dem Hans aber stieg das Wasser auch in die Augen, wiewohl er sich schämte und unwillig war; und so brummte er etwas, schlug seinen eisernen Hund wieder ins Papier und stolperte die Treppe hinunter.
Den Koffer nahm ein Holzfuhrmann mit nach der Stadt und gab ihn bei der Eisenbahn ab, indessen Hans selbst den Weg zur Bahnstation zu Fuß machen wollte; so verabschiedete er sich von der Mutter und von Dorrel, und der Vater warf die Büchse über die Schulter und sagte, er wolle ihn eine Strecke begleiten.
So gingen die beiden. Sie sprachen über die neue Art von Tannen, die der Graf hatte kommen lassen, welche ein sehr schnelles Wachstum haben sollten, und der Förster zweifelte, ob das Holz so wertvoll sein werde, wie die gegenwärtigen Arten, das zu Fußbodendielen zersägt wurde, weil es besonders fest war durch das langsame Wachsen der Bäume auf dem felsigen Boden. Hans wunderte sich, daß sein Vater so mit ihm sprach.
An einem Seitenwege machte der Vater Halt, weil er zu seinen Arbeitern mußte, gab dem Jungen die Hand und sagte: »Sei fleißig [88] und schreibe bald. Wenn dein Geld nicht reicht, so mußt du schreiben.« Dann wendete er sich zur Seite, und Hans ging weiter.
Aber der Hund, den der Förster an der Leine führte, hatte aus allen früheren Anstalten gemerkt, daß etwas Besonderes geschehe und Hans auf länger fortging wie sonst; so legte er sich auf den Boden, stemmte sich mit aller Kraft fest und begann zu winseln. Der Förster zog ihm das Ende der Leine über, aber der Hund winselte nur mehr und ließ sich nicht von der Stelle ziehen. Da wendete sich der Vater zurück und rief hinter Hans her: »Der Hund will Abschied nehmen.« Da tanzte der Hund bellend und winselnd auf den Hinterbeinen, und wie Hans zurückkam, leckte er dem ungestüm die Hände, heulte und bellte. Hans liebkoste ihm den Kopf und mußte sich zusammennehmen, daß er nicht weinte. Am Ende sprach der Vater: »Nun gehe, du versäumst den Zug«, und da wendete sich Hans und ging; der Hund aber wich auch jetzt nicht von der Stelle, bis Hans durch eine Biegung des Weges unsichtbar wurde, dann beschnupperte er noch einmal seine Fußspur, und dann erst folgte er seinem Herrn auf den Nebenweg und war traurig und niedergeschlagen.
So schritt nun Hans seine Straße fürbaß. Das war die alte Straße, die er so manchen Sonnabend heimwärts gegangen war frohen Mutes und in Trauer stadtwärts Montags früh, wenn die Vögel ihr Morgenlied sangen. Eine gute, feste Chaussee war es; zu den Seiten standen Ahornbäume, deren Laub färbte sich schon herbstlich, und Quitschen mit roten Beeren; im Winter fressen die Drosseln diese Beeren und bekommen davon ein angenehm schmeckendes Fleisch. Und auf der Chaussee fuhren Holzwagen; an einem sehr großen Stamm kam Hans vorbei, den zogen zwei schwere Pferde mit Mühe und war wohl bestimmt zu einem Mastbaum; der sollte auch in die weite Welt hinaus. Der Fuhrknecht in manchesternen Kniehosen und blauem Kittel grüßte.
Nicht weit von der Straße war die Elsgrube, Hans bog ab und ging dahin. Die kleinen, schiefgeschnittenen Äcker waren abgemäht, und die Stoppeln sollten noch umgepflügt werden; der Kartoffelacker war umgewühlt, und in der Mitte war ein runder Aschenfleck, wo das Kartoffelfeuer gebrannt hatte. Merkwürdig trostlos sah das alles [89] aus. Das stille, kreisrunde Wasser glänzte grün inmitten des kahlen Wesens; einige geknickte Binsen hielten sich am Rande. Hans dachte, wie gern er als Kind nahe gegangen wäre an das Wasser, um vielleicht in der Tiefe den Turm der versunkenen Burg zu sehen; jetzt hätte ihm niemand verboten, so nahe an den Rand zu treten, wie er wollte, aber er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Turm in der Tiefe. In kindischem Tiefsinn dachte er: »ja, das ist ein Symbol unsres Strebens«; und er meinte, das sei wahrhaftig seine Ansicht. Aber seine wirklichen Gedanken waren ganz anders.
Die waren wie die Tannen, die sich den steilen Bergabhang in die Höhe strecken gleich einem Heer, das eine feindliche Befestigung stürmt; mannhaft stehen sie in Reih und Glied, klammern sich mit ihren Wurzeln über Felsen und Steine. Nach oben streben sie, nach Sonne, Freiheit und Licht; ihre unteren Zweige lassen sie trocken werden, denn sie mögen nichts mehr zu tun haben mit dem Dunkel, wo Ameisen geschäftig laufen. Eilfertig plätschert ein kleines Wässerlein den Berg hinab, aufblitzend in einem verlorenen Sonnenstrahl; das muß ihre Wurzeln tränken. Aber tiefer dringen ihre Wurzeln, sind nicht zufrieden mit des muntern Bächleins klarem Wasser; sie gehen bis zu der Tiefe, von wo die Bergquelle in die Höhe steigt. Die schaut aus der Erde zwischen Moos und Tannennadeln, wie ein dunkles Auge, und kleine Sandkörnchen tanzen in dem quellenden, kristallklaren Dunkel. Rührend ist es, wie diese Sandkörnchen da tanzen, unermüdet. Wenn man ruhig harrt und hört das leise Rauschen und Plätschern, so spürt man, wie der Wald wächst, im Herzen spürt man es, und man weiß, daß man zusammengehört mit dem Wald und aus einem herauswächst mit ihm, und alles ist eins und gehört zu einem, die leise wankenden Tannenwipfel und das dunkle Auge des Bergquelles, der moosbewachsene Felsblock und das spritzende Wässerlein und das heimliche Wesen der Wälder mit seiner starken, gesunden Luft. Eine Minute nur währt solche Verzückung; aber für den inneren Menschen bedeutet die Zeit ja nichts, denn Jahre können träge vorübergehen, ohne daß sie uns einen Eindruck machen, aber der Eindruck jener Minute ist immer noch in unsrer Seele. Die Straße ging in Windungen bergab bis zum Städtchen, wo die Bahnstation war; [90] da wartete der Zug, der bestand aus zwei Personenwagen und vielen Wagen mit Brettern, Wellen, Stempeln und Balken, denn Holz war die Hauptware, die von hier verschickt wurde. Ein häßlicher Kohlengeruch lag über dem Bahnhofe und stumpfe und schmutzige Farbe, aber für einen Augenblick drang der Duft des frischgeschnittenen Holzes durch, daß Hansen ein heftiges Heimweh ergriff.
Da fuhr der Zug; und er fuhr erst durch Täler, auf deren Grund Wiesen waren, die in der Mitte, wo Wasser floß, noch Grün zeigten, sonst aber schon grau und braun schienen, und auf den Höhen standen Wälder, aber nur noch vereinzelte Tannen, denn nun begann der Buchenbestand; und schon waren die Blätter farbig, und eine vereinzelte Eiche leuchtete rot aus dem stumpferen Braun. Bald aber wurde das Tal breiter und die Hügel flacher, die Wälder verschwanden, und es zogen sich Stoppelfelder in die Höhe, und ab und zu winkte ein Dörfchen mit einem Kirchturm.
Dann tat sich die Ebene auf, die ganz weit war und durch die Trübe des Himmels begrenzt wurde. Hier war die Station, wo Hans den Zug verlassen mußte; die Wagen mit den Brettern und Stämmen blieben zurück, das letzte von der Heimat; und nun wurde alles anders und wurde fremd, denn selbst die Wagenabteile waren größer wie die früheren, und es schien, als wenn in den andern noch etwas heimische Luft und Helligkeit gewesen sei; dazu sprachen die Leute eine andere Sprache, redeten über andere Dinge, und ihre Gesichter waren Hansen nicht mehr vertrauter Art.
Dahin raste der Zug. Die Telegraphendrähte an der Seite flogen auf und ab, die Stangen blitzten vorüber, und lange, schmale Felder tanzten, wie wenn sie sich im Kreise um einen Mittelpunkt bewegten, der in Hansens Wagen lag. An großen Rübenbreiten kamen sie vorbei, wo eine Herde Polenmädchen mit nackten roten Beinen mitten in der Nässe stand und Rüben herausholte, und Wagen mit breiten Rädern wurden beladen, schwere Pferde zogen mit Anstrengung durch den nassen Acker, und der Wagen hinterließ eine tiefe Spur. Nun kamen wieder ganz andere Menschen in den Wagen, Leute, die sich breit machten und über Hansen wegsprachen und unhöflich drängten. Sehnsüchtig blickte er zum Fenster hinaus, dachte bei sich, er hätte doch [91] lieber mögen zu Hause bleiben, im Wald, und mit der Flinte auf dem Rücken gehen, und alle Manschen kannte er da und alle Wege, und in der Fremde war ihm das Herz schwer und wußte auch nicht, was eigentlich die Universität war, und was er tun sollte, wenn er nun auf dem Bahnhof stand in Berlin. Immer weiter eilte der Zug und fuhr über Sandboden, wo häufige Kiefernwälder kamen, die schienen Hans natürlich zu sein; dann kamen wieder Äcker und große flache Seen, daß es war wie eine Überschwemmung; solche Art von Wasser kannte er nicht, das war so glatt und flach. Bald senkte sich auch die Dunkelheit; ein Reisender zeigte ihm in der Ferne eine schwere Dunstwolke in der Luft, das war Berlin. Das war Berlin, was unter dieser Dunstwolke lag. Wie er das sah, war ihm das Heimweh plötzlich vergangen.
Nun hielt der Zug, die Türen der Abteile wurden hastig geöffnet, und alle Manschen liefen schnell und hastig, eilten, drängten und stießen sich, und Hansen überholten sie alle, daß er als letzter eine ungeheuer breite Treppe hinunterschritt, die von einem Stein war, der Hansen Granit schien, und waren die sehr breiten Stufen immer aus einem Stück geschlagen, was sehr teuer gewesen sein mußte. An Hans vorbei eilten andre in die Höhe, hinter ihm kam ein neuer Menschenstrom herab, und unten in der Vorhalle wimmelte und kribbelte es von eilfertigen Menschen. Diese Vorhalle war außerordentlich hoch, aber eine häßliche Luft war da, und schien alles schmutzig, so daß Hansen ein plötzlicher Ekel ankam, denn ihm war, als sei auch er mit einem Male ganz schmutzig.
So stand er am Ende draußen auf dem Platz, und vor ihm war Berliner Leben.
Einen Rock trug er, den der Schneider in der kleinen Stadt verschnitten hatte, denn er war ihm vorn zu eng; auch sahen seine langen und knochigen Hände weit aus den Ärmeln, und sein Hut war von ganz alter Mode, denn er hatte ihn sich bei einem kleinen Hutmacher zu Hause gekauft, und Kragen und Schlips paßten nicht zueinander und verschoben sich beständig, und seine Füße waren in großen, plumpen Stiefeln, und die Hose hatte ausgeweitete Knie. In der einen Hand trug er einen baumwollenen Regenschirm, in der andern eine gestickte Tasche, auf der stand: »Glückliche Reise«; sein Großvater [92] hatte sie gekauft, wie er als junger Mensch zum ersten Male von zu Hause weg mußte. So beschaffen waren Hans Werthers Kleider, wie er zum ersten Male auf dem Berliner Pflaster stand. Dazu war seine Gestalt unglaublich mager, lang und knochig, und aus seinem hageren Gesicht, das mit langen, blonden Stoppeln dicht besetzt war, starrten ratlos zwei hellblaue Augen. Im Bergwald war Hans eine schöne und jugendlich männliche Erscheinung; aber hier, auf der Königgrätzer Straße, sah er recht komisch aus.
Eine ganz auffallend gekleidete junge Dame ging dicht an ihm vorüber, blickte ihm verwundert ins Gesicht und lachte ihn aus. Er sah hinter ihr her und wunderte sich, daß eine solche Dame so unpassend sein konnte, denn sie trug einen Hut mit so großen Federn, wie Hans noch nie gesehen, schwang einen nadeldünnen Schirm in der Hand und trällerte vor sich hin.
Dem Hans wurde schwach im Herzen, und seine Sehnsucht nach der Heimat war mit einem Male wieder ganz heftig, daß sie ihm weh tat, denn er fühlte sich gänzlich verlassen von diesen eiligen Menschen, die nur alle gerade vor sich hinsahen.
Da aber gedachte er, daß er ja keine unrechten Dinge vorhatte, und fiel ihm der Gesangbuchvers ein, den er oft mitgesungen in der kleinen Dorfkirche, vor deren Fenstern die Linden standen:
Eine wunderbare Tröstung und Zuversicht überkam ihn, so daß er rüstig ausschritt durch das Treiben und Ziehen der Menschen hindurch, denn es schreckte ihn nicht mehr die Leere ihrer Gesichter, und daß sie gestorbene Seelen hatten, welches ihm bewußt geworden war, ohne daß er Klarheit über dieses Wissen hatte.