[189] Das letzte Lied

Auf der Rosinenkiste, welche seine ungedruckten Gedichte und Dramen enthielt, saß der Dichter. Vor ihm stand Silvie und suchte ihn zu erheitern. Sie sagte: »Man hat es für dasselbe Geld, ob man lustig oder traurig ist; und weshalb soll man da traurig sein?« Der Dichter aber schüttelte den Kopf und antwortete: »Heute früh habe ich meinen Körper betrachtet. Er sah so armselig aus, daß er mir leid tat. Nun bin ich über fünfzig Jahre alt, und ich kann alle meine Rippen zählen. Wozu habe ich eigentlich gelebt? Der Direktor hat meine Stücke aufgeführt, ihr habt alle in ihnen gespielt, aber wenn ein Stück abgespielt ist, so ist es vergessen. Ist das wert, daß ich gehungert und gefroren habe? Was bleibt von mir, wenn ich tot bin?« Silvie antwortete: »Ganz Rom hat sich über deine Stücke gefreut, sogar der Heilige Vater hat sie gelobt. Das ist nur so eine traurige Stimmung bei dir, die vorübergehen wird«; dann versuchte sie zu lachen, um ihn zu erheitern; aber es war ihr selber traurig zumute, denn der Dichter sah krank aus. Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich habe heute in meinen alten Arbeiten geblättert. Es ist ja alles schlecht, was ich geschrieben habe, und es ist richtig, daß es zugrunde geht. Was wäre denn, wenn ein Verleger meine Werke gedruckt hätte! Dann hätten die Leute später nur gesagt: ›Im Jahre sechzehnhundert hat in Rom ein schlechter Dichter gelebt.‹« Hier flossen ihm die Tränen über das magere Gesicht. Silvie kniete vor ihm hin, nahm seine Hände, legte ihre Wange an seine, streichelte ihn; sie weinte selber. »Du hast mich doch glücklich gemacht,« sagte sie, »und wenn du einmal Geld hast, so bekomme ich doch auch ein neues weißes Kleid.«

Aber ehe er ihr noch antworten konnte, da klopfte es an die Tür, und es trat jemand ein, ein großer, breiter Diener, dem [190] man es ansah, daß er jeden Tag seine Makkaroni hatte, der gesund war und frisch und der nie Sorgen gehabt hatte oder Not.

Man muß aber wissen, daß der damalige Heilige Vater ein großer Freund der Dichtkunst war, und wenn er von einem Dichter hörte, dem es schlecht ging, so gab er ihm ein Jahresgehalt, oder wenn er geistlich werden wollte, eine gute Pfründe. Nun geht es ja allen Dichter eigentlich schlecht, und natürlich half der Heilige Vater nur den guten Dichtern. Aber man weiß ja, daß in Sachen der Kunst das Urteil sehr schwierig ist; der Eine sagt: dieser ist ein guter Dichter, und der Andere verurteilt denselben Mann auf das Schärfste, und Jeder glaubt, daß er selber recht hat, und der Andere nichts von der Sache versteht. Wir wollen uns nicht in solche Streitigkeiten mischen, denn es kommt nichts bei ihnen heraus; nur müssen wir sagen, daß Viele behaupteten, der Heilige Vater habe gar kein Urteil und schade nur durch seinen Eifer, indem er immer den schlechten Skribenten helfe, die ohnehin mehr Macht haben als die guten Dichter.

Wie es sich damit verhalten mag, ist uns also gleichgültig; jedoch müssen wir zugeben, daß diese Leute in einem Fall sicher recht hatten, und das war der, welchen diese Geschichte mit betrifft. Ein junger Mann aus einer vornehmen Familie, welcher dem Klerus angehörte, hatte aus Rücksichten der Karriere dem Heiligen Vater eine poetische Übersetzung der Psalmen in lateinischer Sprache gewidmet, die dem Heiligen Vater so gefallen, daß er den Verfasser zum Bischof machte. Nun hatte der junge Mann die Übersetzung mit der Hilfe seines alten Lehrers verfertigt, welcher vorzügliche lateinische Verse machen konnte, und dieser Lehrer starb bald darauf. Da der Heilige Vater ihn immer drängte, doch weitere Werke seines Geistes herauszugeben, so versuchte unser Bischof von jetzt an allein zu arbeiten; aber es stellte sich heraus, daß er in seinen [191] Versen bei den Füßen sich immer verzählte, und seine Freunde rieten ihm deshalb davon ab, diese neueren Arbeiten drucken zu lassen. Der Heilige Vater wurde inzwischen ungeduldig, und endlich sagte er zu seinem Schützling, er wünsche innerhalb einer Woche eine Elegie von ihm zu sehen; und als der arme Bischof, weil er immer dachte, es liege am Lateinischen, betroffen stotterte, daß seine Muse sich jetzt lieber auf den Gefilden der italienischen Sprache ergehe, und weil er jetzt immer wegen seines Mißgeschicks traurig war, hinzufügte, er denke in dieser Zeit beständig an den Tod; da erwiderte er ihm, das sei um so besser, er liebe auch die italienischen Verse mehr als die lateinischen, und erwarte also eine italienische Elegie, und weil der Tod ein für einen Geistlichen angemessener Gegenstand sei, eine Elegie auf den Tod. Der Unglückliche schloß sich in sein Arbeitszimmer ein, stellte eine Flasche Falerner auf den Tisch, weil er gehört hatte, daß der Falerner ganz besonders zum Dichten begeistere, und versuchte nun italienische Verse zu machen; aber da glückten ihm noch nicht einmal solche, wie er in der lateinischen Sprache zustande gebracht, und er vermochte überhaupt gar nichts mit der feinen Rabenfeder auf das goldumrandete Papier zu schreiben, das er vor sich gelegt hatte.

Wie er nun so verzweifelt dasaß, kam ein treuer Diener zu ihm, der den Grund seiner Traurigkeit erkannte, tröstete ihn und sagte, daß vornehme Leute überhaupt nicht für solche Dinge geschaffen seien, und er wisse von einem Mann, der ihm für einen Dukaten gern eine Elegie auf den Tod schreiben werde, so lang er sie wünsche, und da die Sache geheim bleiben müsse, so wolle er gern selber mit diesem Menschen sprechen. Das war nun für den Bischof eine Erlösung; er gab dem Diener Auftrag, in der Art, wie er ihm vorgeschlagen, zu verhandeln, und erwartete getrost das Weitere. Dieser Diener nun war der Mann, der bei dem Dichter eintrat.

[192] Der Dichter sowohl wie Silvie waren in einer besonders gespannten Stimmung gewesen. Nun sah der Diener so vornehm aus, war ihnen ganz unbekannt, redete so geheimnisvoll, verbot, von seinem Besuch zu erzählen, lobte die Werke des Dichters, die er doch, außer die Dramen, gar nicht kennen konnte, wenn er nur ein Mensch war, er sprach davon, daß wir alle einmal sterben müssen, fragte, ob der Dichter auch schon einmal an den Tod gedacht habe, und als der Dichter bejahte, trug er ihm auf, eine Elegie auf den Tod zu schreiben. Dann hob er warnend den Finger und sagte mit Beziehung: »Wenn es Abend wird, erscheine ich wieder.« Damit ging er.

Der Dichter bat mit sanfter Stimme Silvien, ihn eine Weile allein zu lassen. Sie sah ihm in die Augen, sie mußte ihm gehorchen und ging. Dann nahm der Dichter weißes Papier aus der Rosinenkiste und begann zu schreiben.

Er sah auf das Fenster; da saß außen ein Sperling und schrie. Mit einem Male war ihm, als ob aller Kummer von ihm abfalle. Er faltete die Hände und dachte: Wenn das denn ein Engel des Herrn war, der mich auf den Tod vorbereitet, so will ich nicht ungeduldig sein, will die Elegie schreiben und erwarten, was da geschehen wird am Abend, wenn er wieder erscheint. Und dann dachte er, daß er noch eben über sein Leben sich beklagt hatte; und nun sah er, wie schön sein Leben doch gewesen war; daß er immer mit Menschen zusammen hatte sein dürfen, die nie zu lange traurig sind, und die nicht an morgen denken und die leben wie die Lilien auf dem Felde; und er dachte daran, wieviel er gelacht hatte in seinem Leben, und daß es nun, wo er sterben mußte, doch ganz gleich war, ob er viel Geld gehabt oder wenig. Da mußte er lächeln, wie er das dachte, und er sagte bei sich, daß er doch sein vergangenes Leben mit keinem andern Menschen hätte tauschen mögen.

[193] In solchen Gefühlen und Gesinnungen schrieb er die Elegie. Er arbeitete den ganzen Tag an der Dichtung, und als der Abend kam, war sie fertig. Da klopfte es wieder, und der Diener trat ein und fragte: »Nun?« Der Dichter gab ihm die Blätter; der Diener sah sie mit strengem Gesicht an, aber er konnte nicht lesen. Darum griff er nachlässig in die Westentasche und gab dem Dichter einen halben Dukaten, und dann ging er mit einem ernsthaften Gruß.

Und wie der Dichter noch mit dem halben Dukaten in der Hand nachdachte, da kam auch schon Silvie zurück und fiel ihm um den Hals, er drückte ihr mit listigem Lächeln das Geld in die Hand und sagte: »Dafür kaufst du dir das weiße Kleid«, und sie erstaunte sehr.

Der Bischof ließ die Elegie auf großem Büttenpapier drucken, und ein berühmter Künstler mußte ihm Vignetten stechen, die wurden dazu gedruckt, und dann überreichte er die Elegie dem Papst. Wir wissen nicht, ob sie gut war, vielmehr wir enthalten uns des Urteils; sie gefiel jedenfalls dem Papst so, daß er sich selber sehr lobte über die Entdeckung des jungen Mannes, und bei sich beschloß, ihn demnächst zum Kardinal zu machen.

Silvie kaufte sich den Stoff zu dem weißen Kleid und noch einige Rüschen, die sie darauf setzen wollte, denn einen großen Teil der Zutaten hatte sie schon, und nun setzte sie sich hin, trällerte und begann zu schneidern. Der Dichter aber sah ihr fröhlich zu, während sie nähte, und plötzlich sagte er: »Mir wird so sonderbar«, und da legte er sich auch schon zurück und war tot. Silvie drückte ihm die Augen zu und weinte um ihn, alle Schauspieler und der Direktor kamen und waren traurig, daß er gestorben war, und dann wurde er begraben.

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TextGrid Repository (2012). Ernst, Paul. Erzählungen. Komödianten- und Spitzbubengeschichten. Das letzte Lied. Das letzte Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A2DB-4