Das Familienalbum

Hüstelnd, ganz in sich zusammengesunken, sitzt die alte Dame in dem tiefen, weichgepolsterten Lehnstuhl. Von schwarzem Seidenkleid umhüllt ein kleiner vertrockneter Körper. In schneeweißer Spitzenhaube, deren grell eigelbes Band sich schreiend von dem grünen Plüsch des Sessels abhebt, ein zartes faltenreiches Gesichtchen.

Neben der Greisin der Tod, ein älterer gutmütiger Herr mit hellem Beinkleid, schwarzem Tuchrock und goldner Brille. Er hat den rechten Arm auf die Lehne des Sessels gelegt und blättert, leicht vornübergeneigt, mit der Linken langsam, ganz langsam, Blatt für Blatt eines auf dem Schoß der Greisin ruhenden großen Albums um. Es liegt etwas rührend Rücksichtsvolles in der Art des alten Herrn, dessen Erscheinen das kleine Stubenmädchen vorhin mit dem ihr schon geläufigen »Der Herr Doktor« gemeldet hatte.

Die alte Dame betitelte ihn dann auch beständig Herr Geheimrat.

»Einen Augenblick, Herr Geheimrat. Dieses Bild noch. Meine selige Schwester.«

»Hier mein lieber seliger Mann. Sie kannten ihn ja, Herr Geheimrat.«

Und gutmütig geduldet sich der alte Herr, bis die Greisin sich satt gesehen. Langsam, ganz [13] langsam, Blatt für Blatt, wendet er um. Nach dem letzten Bild – die Betrachtende kann sich schwer davon trennen, immer kommt sie wieder darauf zurück: »Meine süße Agnes, Herr Geheimrat. Sie musste so jung sterben, kaum achtzehn Jahre. Ein so liebes, begabtes Kind« – nach diesem letzten Bild klappt er leise den silberbeschlagenen Deckel des dicken Buches zu.

»Nun ruhen Sie sich aber aus, gnädige Frau.«

»Ja, ja, es hat mich doch angegriffen – die Augen – – die Augen – – –«

Ein Hüsteln unterbricht das feine Stimmchen. Und die Augen schließend, sich ganz zurücklegend, in sich zusammenfallend, gehorcht sie der empfangenen Mahnung. Wie im ruhigen Schlummer sitzt sie da.

Leise, auf den Zehen, geht der alte Herr durch den kleinen Salon. Vor der altmodischen Stutzuhr auf dem niedern Kaminsims bleibt er stehen, zieht seine schwere goldne Taschenuhr und tippt, die Zeit vergleichend, zwei, dreimal sachte, wie spielend mit dem Mittelfinger der rechten Hand auf das Stundenglas der Stutzuhr. Dann nimmt er vom nächsten Stuhl Hut und Handschuhe.

In der Thür wendet er sich noch einmal nach der Ruhenden um. Wie befriedigt nickt er, und ein unendlich gutmütiges Lächeln verschönt sein Gesicht.

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TextGrid Repository (2012). Falke, Gustav. Gedichte. Mynheer der Tod. Mynheer der Tod. Das Familienalbum. Das Familienalbum. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-A4F9-0