14. Auf Herren Timothei Poli neugebornen Töchterleins Christinen ihr Absterben

1635 Mai 3.


Ists denn wieder schon verloren?
War es doch kaum recht geboren,
das geliebte schöne Kind!
Ja! So bald es vor ist kommen,
so bald ist es auch genommen.
Schaut doch, was wir Menschen sind!
Etwan wie ein Tausentschönlein,
das gemalte Lenzensöhnlein,
mit dem frühen Tag' entsteht,
welches, wie es mit ihm wachet,
mit ihm scheinet, mit ihm lachet,
so auch mit ihm untergeht:
also hastu dich verborgen,
Blümlein, um den sechsten Morgen,
liegest tot nun hingestreckt,
und hast durch das schnelle Scheiden
deinen frommen Eltern beiden
ein sehr langes Leid erweckt.
Klagt, Betrübte, wie ihr sollet!
Sie ist doch, wo ihr hin wollet.
Uns ist übel, ihr ist wol.
Ihr Geist, der ist voller Prangen;
nur ihr Leib ist hingegangen,
wohin Alles ist und soll.
Wo selbst die Natur hin stehet,
wo die große Welt hin gehet,
dem eilt auch die kleine zu.
Sterben und geboren werden
ist das stete Tun der Erden;
nur ihr Tod ist ihre Ruh'.
Babels Mauren sind versunken,
Rhodus sein Koloß ertrunken,
Nilus Werke giengen ein.
Sterblich waren alle Wunder
[276]
wie die Meister, wie itzunder
wir und künftig Alle sein.
Assur wurde teil den Persen,
diß dem Griechen. Dessen Fersen
folgte nach die ewge Stadt.
Doch, wie ewig sie gewesen,
kan man hören, sehn und lesen:
Schein ists, was sie Ewigs hat.
Alles wird darum geboren,
daß es wieder sei verloren.
Nichts bleibt allzeit, was so ist.
Alles, was sich angefangen,
gehet stets in dem Verlangen,
daß es seinen Tod erkiest.
Sterben ist der Weg zum Leben;
Phönix wird es Zeugnüß geben,
selbst sein Vater, selbst sein Kind.
Soll es morgen wieder tagen,
so wird Heute hin getragen,
wo viel' tausent' Gestern sind.
Es ist Alles Gottes Gabe.
Alles, was ich itzund habe,
hab' ich vormals nicht gehabt;
der irrt, der es ewig gläubet.
Wucher ists, so lang' es bleibet,
was uns unsern Sin erlabt.
Als Gott sie euch überreichet,
habt ihr euch mit ihm vergleichet,
daß sie dennoch seine sei.
Daß er, wenn er auch nur wolte,
sie hinwieder nehmen solte,
mußtet ihr ihm stellen frei.
Und die Warheit rauß zu sagen:
Neid ists, daß wir sie beklagen.
Wol dir, o du kurzer Gast!
Wol dir, die du in sechs Tagen
eines ieden Alters Plagen
gänzlich überstanden hast!
[277]
Kleine Tochter, sei nun seelig
und zeuch uns auch stets allmälig
nach dir auf und Himmel an,
daß auch wir der Zahl der Frommen
in die du bist aufgenommen,
balde werden zugetan!
Diesen Korb voll Anemonen,
der der Frost stets soll verschonen,
streuen wir auf deine Gruft.
Schlafe ruhsam in dem Kühlen!
Um dich her soll ewig spielen
die gesunde Maienluft.

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TextGrid Repository (2012). Fleming, Paul. Gedichte. Deutsche Gedichte. Oden. 2. Von Leichengesängen. 14. Auf Herren Timothei Poli. 14. Auf Herren Timothei Poli. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-ACBC-5