[6] Wiegensegen
[6] In der Pfarre von Werben hat man den letzten freien Ausblick in das Tal, das sich von da ab zur Aue verflacht. Der Garten umzieht nach drei Seiten das Haus; gegen Mittag trennt es nur ein Fußpfad von dem rebenbepflanzten steilen Uferhange; rasch bewegt strömt unten der Fluß; seine jenseitigen Ränder steigen, mit Laubwald bedeckt, mählich empor hinter saftigen Wiesenflächen, die rings das untere Dorf nebst dem Talgute umschließen, während auf der nördlichen Hochfläche unübersehbare Korngebreite sich dehnen. Die Kirche, vom Friedhof umschlossen, wie auch weiterhin das Oberdorf, liegen eine Strecke rückwärts im freien Felde; das Schloßgut aber, mit seinen sich zum Fluß absenkenden Terrassen, steht nur auf halber Uferhöhe und zieht die Auffahrt zu ihm sich entlang einer Schlucht, deren beide Seiten von ärmlichen Frönerhütten eingefaßt sind. Die alleräußerste, die allerärmlichste von ihnen, wie ein Nest an den Felsen geklebt, ist die des Gemeindehirten, das Hutmannshaus.
So hat man in der Pfarre den Blick weder zum Grunde hinab noch zum Himmel hinan beschränkt; sie bildet ein herzerquickendes Lug ins Land; ein Odem gesunder Frische und Fülle umweht sie von allen Seiten, und gesunde, herzerquickende Menschen sind es auch, die sie bewohnen.
Es ist Johannisnachmittag; sieben Kornblumenkränze vor den Fenstern deuten den Kindersegen an, der dem Hause entsprossen ist; der Vater mustert im kleinen Vorgarten seinen Rosenflor; Stock für Stock werden die vollreifen Blüten abgeschnitten, auf daß die Knospen sich zu entfalten Saft und Raum gewinnen und die gesammelten Blätter, in der Wäschtruhe verduftend, mitten im Winter an die köstlichste Blumenzeit gemahnen.
In der Weinlaube, dicht neben der Haustür, sitzt die [7] Frau Pastorin; der Strickstrumpf ruht in ihrem Schoß und der Blick auf dem jüngsten der Sieben, das vor ihr in der Korbwiege schlummert. Es zählt erst vierzehn Lebenstage, und wäre heute nicht das Fest des Täufers, an welchem jegliches Unternehmen zum Segen gedeiht, hätte es wohl noch ein Weilchen sich in der verhüllten Wochenstube gedulden müssen. Es ist ein unruhiges, spärliches Geschöpfchen; nun aber hat die hohe, stille Junisonne und hat die Würze der Rebenblüte es dem kleinen Unhold angetan; er schläft seit einer Stunde nach Wiegenkinder Art und Pflicht.
So zart und bläßlich das Kind, so rund und rotbäckig ist die Mutter; und sie ist keine junge Mutter mehr. Sie könnte gut und gern schon Großmutter sein, und daß sie mit den Freuden und Sorgen einer Kinderstube nicht kärglich bedacht worden ist, bekunden die Johanniskränze an ihrem Haus. Dennoch hat sie den kleinen Spätling sieben Jahre lang mit Sehnsucht erwartet und sich seiner Anmeldung wie der eines Erstlings erfreut. Denn die sechs Vorläufer sind Mädchen, lauter Mädchen, und nun sollte und mußte die Siebenzahl durch einen Knaben abgeschlossen werden.
Nicht um ihrer selbst willen; Frau Hanna Blümel fühlte sich von Grund aus eine Töchtermutter, meinte auch – es ist ein Menschenalter her, daß sie also meinte, und die Meinungen ändern sich in einem Menschenalter –, dazumal aber meinte sie, daß doppelt so viel Mädchen leichter zu erziehen und dereinst leichter zu versorgen seien als halb so viel Knaben. Nein, nicht sich selbst, aber ihrem Gatten hätte sie doch so herzlich einen Sohn gewünscht, mit dem er wiederum so jung werden konnte, wie sie es zwischen ihren Töchtern geblieben war; wiederum jung werden, indem [8] er ihn durch die Reihen seiner geliebten alten Heiden und Christen führte. Und nun war es zum siebenten Mal ein Mädchen, das kein Vater durch alte Heiden- und Christenreihen zu führen Verlangen trägt, und Frau Hanna Blümel fühlte sich nahezu beschämt, als hätte sie ihren irdischen Beruf nur zur Hälfte erfüllt. Zwar hatte der fromme Herr ob der Enttäuschung weder gemurrt, noch geklagt, noch auch nur geseufzt. Er hatte einfach geschwiegen. Es gibt aber ein sehr beredsames Schweigen, und für Pastor Blümel gab es ein speziell beredsames.
Pastor Blümel war Blumist; von allen Gottesgeschöpfen liebte er keine zärtlicher als die, welche lautlos am Boden erblühen; – die, wenn auch mitunter etwas allzu lauten Menschenblüten selbstverständlich ausgenommen. »Zwischen Kindern und Blumen ist Wohlsein,« sagte er gern. Nachdem er daher seine älteste Tochter, die noch während der Leidenszeit der hehren Königin geboren ward, auf deren Namen und die beiden nächstfolgenden auf die ihrer Großmütter getauft hatte, wußte er für die drei nachfolgenden, – da seine Hanna, häuslicher Verwechslungen halber, auf eine Namensteilung verzichtete, – keine ansprechenderen zu wählen als einen von denen seiner Blumenkinder; die kluge Hausfrau aber ließ sich neben dem Luischen, Lorchen und Dorchen eine Liane, Balsamine und Erika bereitwillig gefallen. Sie sah ein Liebeszeichen in der Wahl, und das botanische Namenserbe für den Hausgebrauch gätlich in ein Linchen, Minchen und Riekchen umzuwandeln, war ja so leicht.
Nun aber hatte der Vater sein Letztgeborenes noch nicht ein einziges Mal auf seine Blumenverwandtschaft hin angeschaut, sich keine Blumenpatenschaft für dasselbe auserkoren. [9] Tauftag und Taufzeugen waren festgestellt. Die älteste Tochter sollte das Schwesterchen über das heiligende Wasser halten; der Amtsbruder Kurze in Bielitz und Frau Amtmann Mehlborn, die Gutspächterin, sollten ihr zur Seite stehen, und weil dieser guten Freundin Geburtstag heuer just auf den sechsten Sonntag nach Trinitatis, will sagen auf den Perikopentag von dem brüderlichen Versöhnungsopfer, Pastor Blümels Leibtext fiel, war es seiner Gattin leicht geworden, ihn zum Verschieben des Weiheaktes bis auf diesen Festtag zu bestimmen. Als sie nun aber auch den Namen des Täuflings in Erwägung stellte, da hatte der Vater lächelnd erwidert: »Wähle ihn nach deinem Gefallen, liebe Hanna!«
»Nach ihrem Gefallen!« deutlicher hätte er doch wahrhaftig seine Gleichgültigkeit nicht ausdrücken können! Und das inmitten des üppigsten Juniflors! Er hatte in seinem Treibbeet zum ersten Male eine neue Sommerpflanze zum Blühen gebracht; wäre es ihm beigekommen, sein Töchterchen nach ihr Gloxinia zu taufen, Frau Hanna würde kein Wort dagegen erhoben und für den Hausgebrauch dem Linchen und Minchen ein Sinchen angereiht haben. »Nach deinem Gefallen!« sie empfand die Kränkung ihres unschuldigen Lämmchens bis in den Muttergrund hinein, ja als sie heute, zum ersten Male seit zwei Wochen, den hartherzigen Töchtervater mit so viel Sorgfalt zwischen seinen Blumenkindern walten und dabei so achtlos an der kleinen Menschenblüte in der Wiege vorüberschlendern sah, da hätte sie vor Entrüstung Tränen vergießen mögen; und Frau Hanna Blümel hatte wohl schon manchmal Kummertränen und öfter noch Freudentränen geweint, eine Träne der Entrüstung aber hatte ihr noch nie die guten, klugen Augen getrübt. Sie beugte sich über die Wiege und küßte ihr [10] kleines Mädchen so ungestüm, als ob sie es durch doppelte Zärtlichkeit für den Abbruch an Vaterfreude entschädigen müsse.
Aber die Liebe macht schlau und Mutterliebe am schlausten. Als sie den grausamen Vater sich wieder einmal der Laube nähern hörte, zog Frau Hanna das Gesicht hastig unter dem Wiegenhimmel hervor, lehnte sich auf der Bank zurück und setzte ihre Stricknadeln in Bewegung. In ihrem anschlägigen Haupte war ein verwogenes Stratagem reif geworden; in heller Kampfeslust hatten die Wangen sich noch eine Schattierung höher als in Friedenszeiten gefärbt, und aus den blauen Augen blitzte ein lächelnder Trotz: »Dir soll und wird zu deinem Recht verholfen werden, du unschuldige Kreatur!«
Die unschuldige Kreatur unterstützte die mütterliche Kriegslist durch verdrießliches Gemurr. Ob sie der Schlummerruhe, die durchaus nicht in ihrem Temperament zu liegen schien, überdrüssig, ob sie durch den ungestümen Kuß vor der Zeit aus derselben geweckt worden war: kurzum sie murrte, und das Murren schlug in Greinen um, just als der Vater herantrat, seine Rosenernte darzubieten. Frau Hanna beachtete weder das Greinen noch die Ernte; die Stirn in krause Falten gezogen, strickte sie mit Vehemenz.
»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna,« mahnte der Vater. Frau Hanna nahm die fünfte Stricknadel zwischen die Lippen, zog die Brauen in die Höhe und zählte die Maschen ihres Strumpfes.
Pastor Blümel schob das schwarze Käppchen von der Stirn zurück, wischte die Brillengläser mit dem Taschentuche ab und blickte in hellem Wunder auf das befremdliche Gebaren. Er stand noch mehr wie seine Gattin in dem [11] Alter, wo Elternfreuden, selber bei einem Landpfarrer, Ausnahmen werden; er schaute auf eine mehr als zwanzigjährige Ehe zurück, aber noch nie hatte er sein frohgewilltes Weib ärgerlicher Laune gesehen, noch niemals seine Stirn gefurcht und die Lippen mißmutig herabgezogen wie heute. Und das umwogt von Balsamdüften und bei einem Anlaß, der das Mutterherz zu inbrünstigem Danke stimmen mußte!
Das Kind schrie jetzt jämmerlich; die Mutter schien über dem Klappern der Stricknadeln taub geworden zu sein.
»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna!« wiederholte der Vater mit ängstlicher Miene.
Sie biß die Lippen übereinander und strickte, als ob es auf der Welt nichts so Wichtiges wie eine Strumpfhacke fertigzubringen gäbe. Der Vater setzte sich an ihre Seite und begann die Schaukel der Wiege zu treten; das Kind schrie und strampelte merklich mit den Beinchen.
»Die Kleine verlangt nach dir, Hanna!« sagte der Vater zum dritten Male, diesmal mit vorwurfsvollem Klang.
»So laß doch den Schreihals!« versetzte die Mutter, ohne aufzublicken. »Mädchen querelen allemal ärger als Knaben!«
Pastor Blümel schüttelte den Kopf und trat die Schaukel immer eifriger. Er beugte sich über die Wiege, versuchte die Bänder des Wickelbettchens zu lösen und betrachtete aufmerksam das kleine, vom Schreien kirschrote Gesicht. »Ein herziges Püppchen!« meinte er nach einer Weile. »Es sieht dir ähnlich, liebe Hanna.«
»Mir?« widersprach sie. »Dir ists wie aus den Augen geschnitten, Konstantin.«
Der Pastor schüttete seinen Rosenkorb über die Wiegendecke [12] und kitzelte das kindliche Stumpfnäschen mit einer Zentifolie; die Kleine ward für einen Moment still, nieste dann und verzog die Lippen zu einem Lächeln, was bei Wickelkindern ein Zeichen des Unbehagens ist und einen demnächstigen Ausbruch gewärtigen läßt. Der Vater aber erwiderte das Lächeln, nickte seinem Töchterchen zu und sagte:
»Die Kleine spürt wahrlich schon den Rosenduft! Oder meinst du, Hannchen, daß sie auf dem Weiß der Decke die bunten Farben unterscheidet?«
»Sie wird eine Blumennärrin werden,« spottete die Mutter. »Derlei unnütze Steckenpferde sind fast immer ein Tochtererbe. Wäre es ein Knabe – –«
»Würde er jetzt schon mit Stricknadeln spielen, gelt?« unterbrach sie lächelnd der Vater. »Wie vereitelte Wünsche dich doch betören, Hanna!«
»Dich etwa nicht, Konstantin?«
»Gott verhüte es! Nun ja, warum sollte ich es leugnen? Ich habe bei jeder Aussicht auf Elternfreuden, also siebenmal, einen Sohn erhofft. Hatte der Vater sein Genügen, so hätte der alte Pädagog doch gern mit einem Knaben seinen Plutarch noch einmal vorgenommen, der Diener im Amt sich gern einen Nachfolger herangezogen. Mir war mitunter, als ob ich vor der Zeit – wie soll ich nur sagen? – nun ja, zusammenschrumpfe, als ob bei der Bildung eines Sohnes, – ja lächle nur, Hannchen, – ich noch wachsen könne. Als aber der Herr für den Sohn, den er versagte, mir – –«
»Sieben nichtsnutzige Mädchen bescherte, die von alten Heiden den Kuckuck verstehen, menschliche Wesen zweiter Klasse, Mitteldinger zwischen Aff und Mann –«
»Frevle nicht, Weib!« rief der Pfarrer schier entsetzt. [13] »Versündige dich nicht! Wie wirst du eines Tages deinem Gott noch dafür danken, daß dieses Kind wiederum ein Mädchen war! Vota Diis exaudita malignis! Das heißt: Böswillige Götter erhören unsere Wünsche, sagten die alten Heiden, deren du soeben höhnend erwähntest, weil du sie nicht verstehst, liebe Hanna, nur weil du sie nicht verstehst, da sie in manchen Gebieten heute noch uns weit überlegen sind. Was uns aber himmelhoch über sie erhebt, ist, daß wir eines Vaters Weisheit verehren, wenn uns die natürlichsten Wünsche versagt, die teuersten Hoffnungen zunichte werden. Und darum, Hanna, werden wir unser kleines Mädchen lieben, nicht nur als unser Fleisch und Blut, sondern auch als einen besonderen Gottessegen. Es lag eine Absicht in dieser Gabe, die wir uns mühen wollen zu verstehen. Und dann, Hannchen,« – setzte er nach einer kleinen Pause tröstend hinzu – vielleicht nur sie, vielleicht auch ein wenig sich selbst, – »Hannchen, es braucht ja just noch nicht die letzte Hoffnung zu sein.«
»Hilft der Himmel – doch!« rief Mutter Hannchen mit dem hellsten Farbenklang der Aufrichtigkeit.
Das Kind hatte, wie sein Lächeln angedeutet, während des Vaters erbaulicher Rede seiner Schreilaune in wahrhaft erschrecklicher Weise die Zügel schießen lassen. Das Schaukeln verschlug nicht mehr; der Vater mußte es aus der Wiege heben und auf den Armen schwenkend es vor der Laube hin und wieder tragen, bis die roten Deckelchen sich von neuem über die Augen senkten. Die Mutter blickte mit verstohlener Rührung auf die absonderliche Gruppe; sie überlegte, ob ihr diplomatisches Kunststück schon im ersten Angriff gelungen sei, hielt es indessen für geraten, der Krise bis auf weiteres zuwartend ihren Lauf zu lassen. Sie strickte, aber gelassener, und begnügte sich, nachdem ihr [14] Konstantin die Kleine wieder in der Wiege untergebracht, derselben hinter seinem Rücken die Lage etwas behaglicher herzustellen.
Der Pfarrer hatte die Laube verlassen; in ernsten Gedanken ging er den Gartenweg auf und ab. Wie sollte er sich die naturwidrige Verfassung seiner Gattin erklären? Sie, bisher die verkörperte Mutterlust, am ersten Tage der Genesung, unter dem strahlenden Johannishimmel, umwogt vom Weihrauch der Sommerblüte, plötzlich die Seele voll Unmut, die Rede eitel Sarkasmen, Verdruß, ja Zorn gegen ein unschuldiges Kind! Und das lediglich aus dem Grunde, daß dieses Kind sich unter ihrem Herzen zu einem Wesen ihrer eigenen Gattung gestaltet hatte! Konstantin Blümel hatte in seiner persönlichen Konstitution, wie in der seiner Familie, Gott sei Dank! wenig Bekanntschaft gemacht mit den geheimnisvollen Zwischenträgern, die nur allzu häufig Hader auf Leben und Tod unter den gewaltigen Zweiherrn Leib und Seele anzustiften pflegen. In diesem außerordentlichen Falle konnte er indessen lediglich auf eine krankhafte Überreizung der Nerven infolge des Wochenbettes schließen, und so viel sah er ein, daß in gegenwärtigem Stadium es verlorene Mühe sein werde, mit christlicher und menschlicher Pflichtenlehre direkt gegen die Dämonen zu Felde zu ziehen. Um sich greifen durfte er, als Seelsorger und Vater, das Unheil indessen auch nicht lassen, und so gelangte er zu dem Beschluß, auf einem Umwege die Gedanken in die natürliche Bahn zurückzulenken, so wie etwa der Dichter eine zuträgliche Moral dem Volke im Gewand der Fabel zu Gemüte führt. Er kehrte in die Laube zurück und hob an, indem er sich an der Seite seiner Gemahlin niederließ:
»Ich habe dir, liebe Hanna, noch nicht von meinem[15] gestrigen Abendgange durch das Dorf erzählt. Du warst, als ich heimkehrte, ruhebedürftig, und ich war erregt wie immer, wenn ich mit dem Hutmannshause in Berührung komme. Der bloße Anblick schneidet mir in das Herz! Ein derartig menschenunwürdiges Obdach am Eingange zu einem wohlangesehenen Edelhofe, – ja fürwahr, kein feiner Ruhm würde es zu nennen sein, hätte unsere gnädige Herrschaft diesen ihren Erbsitz in der neuen Provinz jemals in Obacht genommen.«
»Eine Sünde und eine Schande nenne ich es, Konstantin, ohne Wenn und Aber,« entgegnete Frau Hanna.
Ihr Eheherr seufzte. »Was dem Auge fern ist, ist es dem Herzen auch,« sagte er darauf. »Dazu, wir wissen es ja, die finanzielle Lage! Der leidige Kriegszustand hat schon manchen reichen Grundbesitzer zu einem Ärmling gemacht.«
»Den von Werben mehr der Friedens- als der Kriegszustand, Konstantin.«
Pastor Blümel tat, als hätte er den Widerspruch nicht gehört.
»Und was den Pächter betrifft,« fuhr er fort, »so können Reparaturen aus eigenem Säckel dem Manne billigerweise doch auch nicht zugemutet werden.«
»Ei, warum denn nicht, Konstantin?« wendete Frau Hanna ein in ihrem allernatürlichsten munteren Ton. Ob sie die Rolle der Rabenmutter vergessen hatte oder, siegessicher, sie fortan für überflüssig hielt – genug, sie lachte, und ihr feiner Seelsorger lächelte. »Ihn, den Pächter, haben weder Kriegs- noch Friedenszeiten zum Ärmling gemacht. Mittel sind da! ist des Großhansen Spruch, und woher stammen die Mittel als aus den Vorteilen der Pachtung, die von Vater auf Sohn den Mehlborns zugute gekommen sind?«
[16] »Erweisbar doch aber nur gesetzlich gestattete Mittel, Hanna!«
»Lehre mich meinen Harpax kennen, Konstantin!« eiferte Frau Hanna, worauf ihr gern entschuldigender Konstantin anführte, daß ohne eine streng erhaltsame Ader ein Bauer, trotz aller Arbeit, es nicht zum Wohlstand bringen werde, in bezug auf den Großhansen indessen nicht umhin konnte zuzugestehen, daß dem Manne dieser Wohlstand samt der adligen Verschwägerung einigermaßen zu Kopfe gestiegen seien.
»Indessen,« setzte er hinzu, »wem schadet er durch seinen Sparren als sich allein? Bei aller Klugheit merkt er bis jetzt noch nicht, daß er die Zielscheibe des Spottes geworden ist. Eines Tages aber wird er es merken und – es tut mir immer weh, liebes Hannchen, wenn ich dich unter den Spöttern sitzen sehe.«
»Aber Konstantin, wozu wären denn die Narren gut, wenn man nicht einmal über sie lachen dürfte?«
»Es ist ja eine so alltägliche Narretei, Hanna; in alten wie neuen Komödien bis auf die Grundneige ausgenutzt, langweilig oder traurig je – –«
»Im Gegenteil, Konstantin; ein Sonntagssparren ist es, der kurzweilig wirkt durch den Kontrast. Wie es Quartalstrinker gibt, die durch einen periodischen Rausch sich für die Alltagsnüchternheit entschädigen, so sticht auch unseren Bauer nur in Pausen eine nobele spanische Fliege, und in der Zwischenzeit ist er ein Grobian und ein Filz der ersten Sorte. Man käme aus der Erbosung nicht heraus, wenn seine Narretei den Patron nicht dann und wann ein bißchen erträglicher machte.«
»Warum willst du dich nicht aber lieber an die gesunden Kräfte halten, die allen Schäden und Schrullen zum Trotz[17] – Adams Erbteil, liebe Hanna, in irgendeiner Weise keinem seiner Kinder erspart! – sich in seiner Natur behauptet haben? An seine Tüchtigkeit, Mäßigkeit, Unermüdlichkeit und – ich will nicht das höchste Wort gebrauchen, aber ich bleibe dabei, daß ein schlechthin unredliches Geschäft dem Manne weder nachzuweisen, noch auch nur zuzutrauen wäre. Wie zum Magnaten ist er auch zum Schwindler, Gott sei Dank! allzu standfest ein Bauer.«
»Das heißt ein Schlaukopf, der das Risiko eines Schwindels scheut!« rief Frau Hanna, welche jetzt unwiderstehlich aus der tragischen Rolle in ein lustiges Lieblingsthema verfallen war. »Aber warte nur, warte, du mein titulierter Herr Rittergutsbesitzer und Baronin spe! bei der ersten Lektion, welche die gräfliche Exgouvernante dir wieder in der höheren Tafelkunst erteilt – wir sind beim Gabelführen mit der linken Hand stehen geblieben, Konstantin! – bei der nächsten Quartalsschrulle soll das baufällige Hirtenhaus dir recht erbaulich zu Gemüte geführt werden, und für ein neues Schindeldach vor Winters, dafür mindestens, Konstantin, bin ich dir gut.«
»Nun mache es nur gnädig mit deinem alten Zögling, Hannchen,« versetzte der Pfarrherr lächelnd. »Glückt es dir aber mit dem Schindeldach, so freue dich, daß dasselbe noch den armen Freys, das heißt den Ärmsten der Gemeinde zugute kommen wird. Auf meine Vorstellung hat der Herr General ihnen das Wohnungsrecht in einem der Frönerhäuser wie bisher zugestanden, wenn auch weder die Gemeinde, noch der Amtmann zu bewegen war, den Klaus über den Johannistermin hinaus als Schäfer beizubehalten. Gestern hat er die Herde zum letzten Male ausgetrieben.«
Der gütige Mann seufzte bei den Worten; seine Hanna dagegen erklärte die Gemeinde und in diesem speziellen [18] Falle sogar den schnöden Amtmann für durchaus in ihrem Recht.
Wie hatte sie, Frau Hanna nämlich, den Klaus seit Jahr und Tag gemahnt, gewarnt, gescholten! Wer nicht hört, muß fühlen. Die vermaledeite Schenke lag dem Hutmann, ob er aus- oder eintrieb, allemal bei Wege. Die Herde wurde seinen wilden Buben, wenn nicht gar dem alten, lahmen, blinden Phylax überlassen, und die gutmütigen Schäfchen sind lange nicht so dumm, wie sie aussehen: sie wissen fette Wiesen einem abgeweideten Anger vorzuziehn. Der Ungehörigkeiten – gelinde ausgedrückt –, die bei der vorjährigen Schur vorgekommen sind, noch gar nicht einmal zu gedenken.
Der Pfarrer konnte diesen Bezichtigungen leider nicht widersprechen, setzte aber milde hinzu: »Schuld geht fast jedem Elend und Ungeschick fast jedem Mißgeschick voran, liebe Hanna. Werden Elend und Mißgeschick aber weniger erbarmenswert, oder etwa erbarmenswerter, weil sie sich erweislich, sei es aus unsern Handlungen, sei es aus unsern Unterlassungen entwickelt haben? Und wenn wir hier ein Gemeinde glied auf abschüssiger Bahn sinken sehen so tief, wie meiner Zeit noch keines gesunken ist, vom ansässigen Bauer zum Schafhirten und von diesem – –«
»Zum Tagedieb und Strolch!«
»Dieses Äußerste abzuwenden war der Zweck meines gestrigen Weges, liebe Hanna. Helfen, das heißt dauernd Arbeit geben, kann allerdings nur der Amtmann; bis dieser aber seinen Widerwillen gegen den Klaus überwunden haben, bis er, bei kaum vermeidlichen Rückfällen des Arbeitsscheuen, zu christlicher Langmut zu bewegen sein wird, – was meinst du, mein Hannchen, wenn wir den Klaus zunächst unsere Spargelbeete umrajolen ließen?«
[19] »Aber, Konstantin, damit hat es ja noch Jahr und Tag Zeit!«
»Mit dem Spargelbeet allerdings, Hannchen, aber mit dem Klaus hat es Eile.«
»Eile mit Weile, Konstantin! Die Ernte steht vor der Tür, und die Spargelbeete laufen nicht davon, bis einmal die Arbeit nicht haufenweis bei Wege liegt. Aber erzähle doch deinen Dorfgang zu Ende. Du warst auf des Klausen abschüssiger Bahn angelangt. Nun weiter!«
»Ja, weiter,« seufzte der Pfarrer. »Der Mann ist schuldig, unleugbar schuldig, Hanna. Aber ebenso unleugbar ist er zu entschuldigen. Er ist ein Bauernsohn, aber ihm fehlte nun einmal das Erbe jeglichen Bauernsinns und Schicks; daß ich so sage eine Mehlbornsche Ader. Und an schlimmen Zufälligkeiten, wie wir törichterweise das Unberechnete, oder vielleicht Unberechenbare nennen, hat es wahrlich auch nicht gefehlt. Neun lebendige Kinder, und das zehnte vor der Tür! Könnte halbwegs ein Gotteslästerer da nicht versucht sein auszurufen: Herr, halt ein mit deinem Segen! Schon das Aufbringen, welche Last und Qual! Und sind sie endlich so weit: wie die Vöglein, wenn sie flügge geworden, fliegen sie hinaus in die Welt, und hülflos, unfähig zur Hilfe, haben die Erzeuger das Nachsehen. Des Klausen Weib, die arme Kreuzträgerin, ist eine Mutter nach Gottes Herzen. Aber wußte sie ein Wort davon, als ihr Erstgeborener, der Gardist, im Lazarett mit dem Tode rang? Und hätte sie darum gewußt, würde sie zur Pflege an seine Bettstatt haben eilen dürfen? Oder, was konnte sie für ihren Zweitgeborenen, den blöden Friede tun, als er, kaum eine Stunde von ihr fern, vom Gänsejungen zum Kuhjungen und vom Kuhjungen zum Pferdejungen herangeprügelt wurde, bis auch ihn schließlich der [20] heilsame Korporalstock unter seine Zucht genommen hat? Ein Glück, daß den jüngeren Sieben die gleiche Schule in Aussicht steht. Neun Jungen! Prachtjungen! Wahre Enakssöhne, geborene Flügelmänner, einer wie der andere! Der Stolz eines Vaterlandsfreundes und die Lust eines wohlgerichteten Vaterherzens! Hanna, Hanna! Wer ermißt aber die sonderbare Führung, welche dem einen das Heißersehnte hartnäckig versagt und dem anderen es bis zum Übermaß, bis zur Überlast verleiht?«
Frau Hanna zog bei dieser unerwarteten Rückfälligkeit die glatte, rosige Stirn in die allerkrausesten Falten; sie ließ das Kind, welches, weil es wiederum zu murren begonnen, sie auf ihren Schoß zu nehmen im Begriffe war, so unsanft, als sie es über das Herz brachte, in die Wiege zurücksinken und rief, indem sie ihm eine Faust machte: »Da hörst du's, unnütze Mädchenkreatur! die ärmsten Hirtenbuben wachsen ohne Zuck und Muck zu Flügelmännern und Vaterlandsverteidigern heran, während ihr, armselige Jammerbasen – –«
Der Vater hatte auf dem falschen Wege, in den er sich verirrt, erschrocken innegehalten. Er trat wieder energisch die Schaukel, fächelte das Gesichtchen mit seiner Zentifolie, bis die roten Augendeckel wieder zufielen, und lenkte, ohne seine Hanna ausreden zu lassen, nach seinem eigentlichen Ziele zurück.
»Der Klaus saß auf einem Klotz seiner Tür gegenüber; er mochte das Valet von seiner Herde einem der Buben überlassen haben und eben erst aus der Schenke heimgekehrt sein, denn der Fuseldunst qualmte ihm gleichsam aus dem puterroten Schädel, und halb im Taumel – ganz in Taumel gerät er schon längst nicht mehr – glotzte er in das Blaue [21] hinein. Der Schenkwirt ist auch schuldig, hauptschuldig, Hanna. Wozu er keinen Besseren hat, hat er den Frey, und der Frey ist ihm gewärtig – leider ihm allein – und wäre es mitten in der Nacht; denn jeder eilige Botenweg, jeder noch so gröbliche Dienst wird statt mit Brot oder Geld mit den eklen Branntweinneigen bezahlt, die kein Gast mehr mag. Mein Gang, ich sah es, war verfehlt; wozu hätte in dieser wüsten Verfassung mein Arbeitsvorschlag führen sollen? Ich stellte mich, als ob ich den Mann nicht bemerkte, indem ich den Kopf nach dem engen Hofraum drehte, auf dessen magerem Dunghaufen das junge Hirtenvolk sich mit ein paar Hühnern und Ferkeln herumjagte. Das liebe Vieh eitel Haut und Bein, die Menschenbrut pausbäckige Apfelgesichter! Das gedeiht wie durch Wunder bei allem Unflat und Hunger.«
»Ich würde sagen, Konstantin,« wendete die Pastorin ein, »das gedeiht, weil eine brave Mutter den Unflat alle Tage wieder abwäscht und kämmt und weil die Brosamen von unserer Amtmännin Tische so reichlich fallen, als die Batzen aus des sauberen Herrn Amtmanns Tasche knapp. Aber weiter, Konstantin. Du redetest den Klaus also nicht darauf an?«
»Ich nicht ihn, aber er mich, Hanna. – ›Sie kundschaften wohl nach Ihrem Dezem, Herr Pastor,‹ fragte er mit schmunzelndem Hohn. – Du mußt wissen, Hanna, mit dem Dezem, da meinte er, landläufig, das Zinshuhn, das auf der armen Frönerhütte lastet, und das am Johannistermin regelmäßig in Erinnerung zu bringen der Kantor törichterweise noch immer für seine Schuldigkeit hält.«
»Du solltest den Beyfuß darum loben, Konstantin. Ordnung muß sein, und Recht bleibt Recht. Der reichste Hofbesitzer [22] beruft sich schließlich auf den armen Fröner, dessen Zinshuhn eingeschlummert ist.«
Pastor Blümel seufzte tief. »Hanna,« sagte er darauf, »den Tag, an welchem die langgeplante Ablösung dieses widerwärtigen Opfers an Korn und Blut zu einer Wahrheit wird, den Tag wollen wir feiern wie ein zweites Hochzeitsfest.«
»Insofern die Welt auch bei uns nicht ein bißchen auf den Kopf gestellt werden sollte, wird es mit dem Feste Weile haben, Konstantin,« entgegnete Frau Hanna lachend. »Denn gehts ans Steuern, greift der Bauer immer noch eher in den Sack als in den Säckel. Aber weiter, Freund, was gabst du denn dem Kujon auf seine Unverschämtheit zurück?«
»Ich entgegnete ihm einfach, daß ich nicht um des Huhnes willen gekommen sei, wie selbiges ja auch bisher alljährlich von mir gestundet worden.« Worauf der Spottvogel dann kichernd erwiderte:
»Weil mein Gezücht der Frau Pastorin in ihren Suppentopf nicht fett genug ist, gelt?«
»Ei, du Höllenbraten!« rief die Pastorin mit drohender Faust. »Aber warte nur, warte! Nun auf diesen Dank, Konstantin, hast du, will ich hoffen, deinem Beichtsohne doch gebührentlich gedient?«
»Gebührentlich, Hanna, ich schwieg. Leider indessen nicht beharrlich genug; denn als auf meine ablenkende Frage nach seiner Frau der Klaus mir gleichmütig erwiderte, daß sie seit Morgens auf der Gutswiese mit Heuwenden beschäftigt sei, da, ich gestehe es mit Scham, übermannte mich Wort um Wort der Zorn, welcher, wie gerecht auch immer der Anlaß, für einen in meinen Jahren und in meinem Amte doppelt sträflich ist, daher ich mich denn auch über [23] die herbe Lektion, die er mir eintrug, nicht beklagen darf. ›Scheut Ihr Euch nicht der Sünde,‹ fuhr ich auf, ›das Weib, das Euch neun Söhne geboren hat...‹
›Ist es meine Schuld, Herr Pastor,‹ höhnte der Klaus, ›daß kein Mädchen drunter ist, das mir derweile zu Hause eine Suppe kochen könnte?‹
›Das Weib, das zum zehnten Male ihrer Stunde entgegensieht – –‹
›Hätte ich was dawider, Herr Pastor, wenn sie ihr nicht entgegensähe?‹
›Das arme, schwache Weib hetzt Ihr in dieser Johannisglut zu saurer Arbeit hinaus –‹
›Hetz ich sie, Herr Pastor? Sie geht von alleine.‹
›Während Ihr, baumstarker Mann, ein Simson von Gestalt und Kraft –‹
›Schön Dank, Herr Pastor, für den frommen Vergleich.‹
›Die paar Heller, welche die Arme im Schweiße ihres Angesichts erwirbt, in der Schenke verschlemmt –‹
›Wohl bekomms dem Herrn Pastor, daß er seinen Durst im eigenen Keller löschen kann!‹
›Und dann daheim, die Hände im Schoß, in giftigem Kraute verqualmt.‹
›Kann ich mit Feuer dienen? Das Pfeifchen ist dem Herrn Pastor ausgegangen?‹
Dieser letzte Spott, Hanna, traf mich wie ein Natterstich. Ich spürte eine Blutwoge vom Herzen zum Hirn und vom Hirn zurück zum Herzen treiben. Nun ja, ich hatte geraucht. Du weißt, Hanna, ich rauche niemals unter meinen Kindern und niemals unter meinen Blumen; das heißt niemals, wenn ich mich erhole. Aber ich rauche, wenn ich mich anstrenge, und ich strenge mich an auf meinen einsamen [24] Abendgängen durch Dorf und Flur. Da suche ich Anknüpfungen für die Erbauungsstunden im Gotteshause und für die Seelsorge in jedem Gemeindehause. Denn leider ist es ja so, daß ich nach zehnjährigem Wirken denen, auf die ich wirken soll, noch immer nahezu ein Fremdling geblieben bin. Es fehlt ihnen zu mir der sympathische Heimatszug, dessen der Pfarrer mehr als jeder andere Lebensgenosse bedarf. Da möchte ich denn mein Gemüt recht weit auftun, daß sie es verstehen lernten bis auf den Grund, und ich möchte meine spürenden Sinne schärfen, daß das, was not tut, denen, die Gott mir gegeben hat, auch wohltue. Darum rauche ich, Hanna. Und wahr ist es und bleibt es, es prickelt ein seltsamer Reiz in diesem Kraut; aufräumend das Hirn, anregend Auge und Ohr, unschätzbar für den Arbeiter im Geist. So ungefähr wird denn auch wohl die Vorhaltung gelautet haben, mit welcher ich mich vor dem Klaus gleichsam zu rechtfertigen suchte; möglich jedoch mit etwas ungebärdigeren Worten; denn der Mensch grinste, während er Stahl und Stein aneinander schlug, recht hämisch vor sich hin, und auf jede meiner Thesen gab er gleichsam eine Antithese, die mir die Galle immer leidenschaftlicher erregte.
›Also für Ihre Sonntagsepistel rauchen Sie, Herr Pastor? Kurios! habe ich doch immer gedacht, die könnte einer ohne Tobak fertigbringen.‹
Wie ich nun aber, als Folgerung meines Vordersatzes, die gesundheitlich und wirtschaftlich verderbensvollen Wirkungen des Tabaksgiftes auf die bloßen Handarbeiter, das heißt auf die ungeheure Mehrheit des Volkes hervorzuheben begann, da schlug der Mensch eine wilde Lache auf und sagte, indem er mir den brennenden Schwamm hinüberreichte:
[25] ›Na, lassen Sie's gut sein, und dampfen Sie, Herr Pastor. Es ist die alte Geschichte. Tausende sollen sich placken und schinden mit trocknem Speichel und wüstem Hirn, auf daß ein einziger Tobak rauchen und seinen Kopf für eine Sonntagsrede aufräumen kann. Das wird so des lieben Herrgotts natürliche Ordnung genannt. Wenn aber einer von den Tausenden auch einmal seinen Kopf aufräumt, um zum wenigsten in Gedanken eine Sonntagspredigt zu halten, da heißt er ein Rebeller gegen die göttliche Ordnung, und das höllische Feuer ist nicht heiß genug für ihn.‹
Auf diese Rede schwieg ich und ging. In mir wirbelte es und wogte es. Was hatte ich mir bieten lassen müssen und von dem elendesten meiner Gemeindeglieder! Ich konnte nicht also bald zurück unter die Stätten der Menschen, auch nicht in meine eigene. Hinaus in die friedsame Natur. Ich schlug den Wiesenweg ein; anfangs mit ungestümen Schritten, allmählich gelassener. Die Sonne war gesunken, vom Abend her wogte ein goldener Flor über Himmel und Fluß; im Morgen stieg schon die Nacht empor, die stille, heilige Täufernacht. Ich sog den süßen Heubrodem wie einen Balsam in die Brust; ihre Unruhe löste sich; jenes Etwas kam über mich, das wir Weihe nennen, jenes seltene Etwas im Weltverkehr. Mir war, als ob alle Schleier des Daseins sich senken, alle Klüfte des Menschengeistes sich füllen müßten, und wie durch Zauber stand plötzlich der trunkene Tagedieb Frey vor mir, ein anderer Mann, der vielleicht, zu welchem sein Schöpfer ihn erschaffen hatte. Lerne deinen Feind begreifen, und du wirst ihn lieben lernen, nicht mit Menschenliebe, aber mit Heilandsliebe. Und da sagte ich mir denn und sage es heute noch, Hanna: der Mann, in welchem der Schenkendunst sich zu so ätzendem [26] Geifer zersetzt, das ist kein Alltagskopf, Hanna; wahrlich, wahrlich, er ist es nicht. Dieser Mann war von Natur vielleicht ein Genie; ein Halbgenie will ich lieber sagen, denn ihm fehlte jenes Bruchteil von Kraft, das zum Vollbringen wie zum Entsagen unerläßlich ist und mit welchem auch er die Fesseln des Erdengeistes gesprengt haben würde.
Dein Schicksal, Hanna, und meines stiegen neben dem seinen in meiner Erinnerung auf. Du, die brotlos gewordene Erzieherin, ich, der brotlos gewordene Erzieher, wir waren hundertmal ärmer als dieser Mann und sein Weib, als wir in bitterböser, vaterländischer Zeit, vertrauend auf Gott und unsere Liebe, die Hände ineinander legten. Aber wir waren von Haus aus richtig gestellt. Der Kandidat und seine Frau haben manchen Hungertag und manche Kummernacht durchringen müssen, aber sie arbeiteten mit ihren natürlichen Kräften in der Mädchenschule und im Jünglingsauditorium. Und dieses mühselige Tagewerk unterbrach die mannhafte Erhebung des Vaterlandes. Auch der arme Kandidat schied von Weib und Kind; hochgeschwellt die Brust, stürzte er sich in den befreienden Strom. Wiederum eine Tat des Geistes! Und der ewige Herr hat die Getrennten emporgehalten in dem Strudel von Blut und Not, hat sie liebend einander wieder zugeführt in dem erlösten Vaterlande, hat ihnen in der neuerworbenen gedeihlichen Provinz eine Heimstätte erschlossen, wo sie frohgemut ihr Tagewerk weiterführen in der göttlichen Forschung und der Reinigung der Herzen, den beiden Endpunkten, um welche jegliche Geistesarbeit sich bewegt. Würden sie, an ein Handwerkszeug gebannt, das nämliche Ziel erreicht haben?
Siehe dahingegen diesen hohngeblähten Mann, dessen Geist im Schenkenqualm verdunstet; würde er ein Ärmling, [27] ein Trunkenbold und Strolch geworden sein, wenn ihm statt des Dreschflegels und des Pflugs, die er mißmutig regierte, die Leuchte der Wissenschaft, nach der er sich sehnte, in die Hand gegeben worden wäre? Die Alten der Gemeinde erzählen, daß es nie mals einen eifrigeren Schüler unter ihnen gegeben habe als den Frey. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, auf den Advokaten zu studieren. Pfarramt und Anwaltsstube sind ja heute noch so ziemlich die einzigen Zielpunkte geistigen Strebens, die der Bauer kennt und anerkennt. Aber der Klaus war ein Erbsohn; der Vater hielt ihn mit Gewalt im Knechtsdienste fest auf dem Hofe, über welchen er eines Tages als Herr gebieten sollte. Voll Grimm und Groll entwich er und wurde Soldat. Er ist heute noch ein beherzter Mann. Du weißt, Hanna, wie er sich bei der Feuersbrunst in Bielitz hervorgetan hat. Es war schreiendes Unrecht, daß, um seines üblen Leumunds willen, der Landrat verweigerte, ihn zur Rettungsmedaille einzugeben. Die Anerkennung hätte ihm ein Sporn auf gute Wege werden können. Dazumal durchlebte er im Dienste der Fremdherrschaft die gleißende Niedertracht seiner vaterlandslosen Zeit und Zone, und als er nach Jahren heimkehrte, war die letzte Spur von Bauernemsigkeit und Zucht in ihm erloschen. So seine Konstellation. Würde er mein Ziel erreicht haben an meiner Statt?«
Der Pfarrherr schwieg, und seine Gattin schwieg auch. Sie hätte auf die wunderliche Frage nicht ja sagen können, und das Nein wollte ihr doch auch nicht flott über die Lippen; schon darum nicht, weil ihr Kleinglaube ihren Konstantin, ihren edlen, herrlichen Konstantin betrübt haben würde. Nach einer gedankenvollen Pause fuhr der Pfarrer fort:
»Sind es nicht aber gleichsam Stiefkinder der Natur, jene Ungezählten, die der allerhärtesten Tyrannei erliegen, [28] der eines aufgepfropften Geschicks, das zu erfüllen oder zu bewältigen sie nur halb die Erkenntnis und halb die Ausdauer haben? Hier die Last eines Zuviel, dort die Leere eines Zuwenig! Stiefkinder der Natur und doch Gotteskinder! Wer löst den Widerspruch? Aber milde soll es uns machen, milde und hülfreich, Hanna, wenn wir solch einen Halbbruder im Geist falsch gestellt oder verirrt am Abgrunde taumeln sehen. Nicht die Gerechtigkeit, die Versöhnung ist der Ankergrund der sittlichen Welt.«
Von neuem versank der Pfarrer in seine Gedanken, und auch diesmal störte seine Hanna ihn nicht. Er grübelte über den Halbbruder im Geist, und ob er letztlich nicht dennoch sich zu einem Kinde Gottes emporziehen ließe? Sie grübelte über den Tagedieb Frey, und ob er letztlich nicht doch noch durch rechtschaffene Arbeit vor dem Korrektionshause zu bewahren sei? Im Grunde grübelten demnach beide brave Eheleute, die sie waren, über ein und das nämliche.
»Deine Geschichte ist wohl zu Ende, Konstantin?« fragte endlich die Frau. Sie hatte ihr Problem früher gelöst als der Mann, und es prickelte ihr in Händen und Füßen, ihren Plan zur Tat werden zu lassen.
»Noch nicht ganz, Hanna,« versetzte der Pfarrer, indem er nicht ohne Anstrengung die ursprüngliche Pointe der Erzählung in sein Gedächtnis zurückrief. »Am Kreuzwege zwischen Dorf und Stadt begegnete mir des Klausen Frau. Himmlischer Vater, wie abgehärmt und abgezehrt schlich sie einher, als zählte sie siebenzig Jahr! Und sie ist doch noch im blühendsten Alter, von deinem Jahrgang, Hannchen, und deinen Namen trägt sie auch. Sie hatte bei Wege an den Rainen das Abendfutter für ihre Ziege abgesichelt und schleppte nun schwer an der doppelten Last, denn ihre [29] Stunde ist nahe. Aber kein Klagelaut entschlüpfte ihren Lippen; kein Wort der Anklage gegen den schlimmen Mann, der sie so weit gebracht. Wahrlich, wahrlich, die Hanne Frey ist ein Weib nach Gottes Herzen! Ich mußte an unseres Pestalozzi herrliche Gertrud denken. Sie wünschte mir Glück zu der Geburt unseres Töchterchens und setzte mit einem Seufzer hinzu: ›Ach, wenn doch nur einer von meinen Neunen ein Mädchen wäre, daß es mir beistände in der Wirtschaft und für mich einträte, wenns einmal vollends mit mir zum Ausspannen kommt. Sie werden sehen, Herr Pastor, diesmal übersteh ich die Kampagne nicht.‹
Ich tröstete sie, so gut ich mit halbem Glauben es zu tun vermochte, meinte, daß ihr Verlangen nach einer Tochter ja wohl diesmal erfüllt werden könne und daß sie sich nach dem Wochenbett zu ihrer früheren Rüstigkeit erholen werde. Sie schüttelte traurig den Kopf. ›Wie Gott will!‹ flüsterte sie nach einer langen Stille. ›Er ist ja der Vater der Waisen.‹ Und dabei schlug sie die eingesunkenen Augen gen Himmel mit einem Blick, den ich bis in meine Sterbestunde empfinden werde. Und damit ist meine Geschichte zu Ende, liebe Hanna.«
Über Frau Hannas guten blauen Augen lag ein feuchter Flor. Sie hatte die Moral der Geschichte wohl gefaßt, wollte etwas sagen, schluckte, räusperte sich und lief dann, ohne es gesagt zu haben, dem Hause zu. Unter der Tür machte sie halt, trocknete sich die Augen und kehrte dann, lachend über das ganze Gesicht, in die Laube zurück. »Ich habs!« rief sie schon von weitem, »Konstantin, ich habs! Ich gebe dem Amtmann alle Sonntage eine französische Stunde, und der Amtmann gibt dafür dem Frey Arbeit in seinem Schacht. Steinklopfen lohnt. Des Klausen Brustkasten ist heil und vom Schacht zur Schenke ein gehöriges [30] Ende. Du schüttelst den Kopf, Konstantin? Der Amtmann tuts nicht, meinst du? Ei, er soll schon, Konstantin. Der alte Narr mit dem urdeutschen Namen brennt auf Fremdwörter, und jedes Fremdwort heißt ihm französisch. Wie lange quält er mich schon um die feine Konversation. Eh bien, Monsieur Mehlborn, so oder so: keinen Klaus im Schacht – keine feine Konversation!«
Pastor Blümel lächelte und wünschte gedeihlichen Erfolg, meinte jedoch, daß, da die Grammatik füglich erst nach Tauffeier und Kirchgang aufgeklappt werden dürfe, zuvor mit dem Rajolen der Gartenbeete ein Anfang gemacht werden müsse.
Frau Hanna erwiderte weder ja noch nein, sie eilte zum zweiten Male dem Hause zu, kehrte indessen pflichtschuldigst wieder um, als sie ihren Eheherrn freundlich ihren Namen rufen hörte.
»Ich werde einen Johannisstrauß für die arme Gertrud – ich meine für die arme Hanne Frey schneiden,« sagte er. »Vielleicht daß du, liebe Hanna, aus deinen Schatzkammern dem Erfreulichen etwas Nützliches beizufügen hättest. Eine unserer Töchter würde dann noch vor Abend die kleine Spende der guten Frau hinuntertragen.«
Frau Hanna nickte einverstanden; nachdem sie in Gedanken blitzschnell Musterung unter ihren Vorräten gehalten, flog sie zum dritten Male dem Hause zu, wurde aber zum zweiten Male von ihrem Konstantin zurückgerufen. »Noch eins, Hannchen,« sagte er, indem er ihre Hand faßte. »Bist du über den Namen, welchen unsere Kleine tragen soll, schlüssig geworden?«
Der Mutter klopfte das Herz; es galt die Probe auf ihr Exempel. »Ich hatte an Konstanze gedacht,« antwortete sie lauernd; »weil sie dir doch so ähnlich sieht, Konstantin.«
[31] »Sie sieht dir ähnlich, Hannchen,« versetzte der Vater. »Was meinst du, wenn wir sie Rose nennten?«
Pastor Blümel hatte mit dieser Wahl keineswegs eine ehemännische Galanterie bezweckt, und sie wurde auch keineswegs als solche aufgenommen. Dennoch erglänzte das Muttergesicht wie von inwendigem Sonnenleuchten. Stumm vor Glückseligkeit küßte Hanna ihrem Konstantin vielleicht zum erstenmal im Leben die Hand, riß das Kind aus der Wiege, preßte es an ihr Herz und flog mit ihm in das Haus. Die siebente Tochter, auf welche der Vater den Namen seiner stolzen Lieblingsblume übertragen hatte, die spärliche kleine Rose würde, die Mutter wußte es, der Liebling seines Herzens werden.
Pastor Blümel starrte dem Schatten von Mutter und Kind noch eine lange Weile, nachdem er im Hausflur verschwunden war, mit Wunderblicken nach. War es die einfache Erzählung von der unglücklichen Neunsöhnermutter, welche das verstimmte Seeleninstrument der glücklichen Siebentöchtermutter zurückgestimmt hatte auf seinen reinen Kammerton? Oder, oder – – wie Schuppen begann es von seinen Augen zu fallen, – sollte er, der das Studium des Menschenherzens zu seiner vornehmsten Aufgabe gemacht hatte, nach einer zwanzigjährigen Ehe in seinem nächsten Herzen zum erstenmal den alten Satz bestätigt finden, daß auch die aufrichtigste Frau zuzeiten eine Larve trägt? Eine häßliche Larve über einem lieben Gesicht; der Fall soll umgekehrt öfter vorkommen. Pastor Blümel wiegte nachdenklich sein ergrauendes Haupt, lächelte aber dabei sogar ein wenig schelmisch vor sich hin, klappte dann sein Taschenmesser auf und begann den Johannisstrauß für das arme Hirtenweib zu schneiden.
Wie er nun so wählend und bindend die Rabatten auf [32] und nieder schritt, hörte er durch die offnen Wohnstubenfenster die helle Stimme seiner Hanna, welche einer der Töchter den Auftrag gab, flink die gute Freundin, Frau Amtmann Mehlborn, zu einem Besuche in die Pfarre zu entbieten, und leicht war ja zu schließen, um welches Anliegen es sich bei dem Entbote handelte. Denn die Pastorsfrau und die Pächtersfrau fügten sich und griffen ineinander, wie es von guten Freundinnen nicht immer zu rühmen ist. Die eine wußte zu leben, die andere hatte zu leben; die eine, von Haus aus gebildet, war ihrem Gatten zu Liebe und Hülfe der Bauernart in einem gewissen Sinne vertrauter geworden als der Gatte selbst; die andere, von Haus aus eine Bäuerin, war in einem gewissen Sinne so gründlich aus der Bauernart geschlagen, als ihr darüber hinausstrebender Gemahl zäh darin wurzelte; die eine hatte sieben Töchter, die ihr Freude machten; die andere nur eine einzige, die ihr Sorge machte; der einen war der Stammhalter versagt, der anderen genommen; Frau Rosine verfügte über einen vollen Wirtschaftssäckel, Frau Hanna über einen knappen; beide halfen gern; die letztere mit ihrem offnen Kopf, die erstere mit ihrer offnen Hand, und daß das Zusammenwirken von Rat und Tat heute solche Eile hatte, dafür war von Pastor Blümel selbst ja just der Anstoß gegeben worden: Klaus Frey, der schlimme Patron, sollte schleunigst in die Kur genommen werden.
Pastor Blümel schüttelte daher von neuem und bedenklicher als vorhin das ergrauende Haupt, als er dem freundschaftlichen Entbot einen unerwarteten Nachtrag folgen hörte. Im Fall – so hieß es – die Frau Amtmännin, der Heuernte halber, heute nicht abkömmlich sei, solle Luischen ihr vorläufig mitteilen, daß der gute Vater die kleine Schwester Röschen nennen wolle, weil die Frau [33] Amtmännin Rosine heiße und in ihrer Jugend doch auch Röschen genannt worden sei. Die Frau Amtmännin werde sich über die Aufmerksamkeit freuen und ihr Patenkind darum desto lieber haben.
Zum zweiten Male seit einer Viertelstunde ertappte der treue Seelenhirt auf einem Schleichwege das Weib, welches er ein Vierteljahrhundert lang zu kennen geglaubt hatte, gründlicher als sich selbst – denn wer ist schwerer gründlich auszukennen als einer selbst? – Auf einem blumenbesetzten Wege, es ist wahr, im Pfadsuchen nach einem Herzen; aber doch auf einem berechneten, hinterhältigen, zweideutigen Wege! »Evas Töchter, Evas Töchter, die ihr alle seid!« murmelte Konstantin Blümel und war entschlossen, den Tag nicht vorübergehen zu lassen, ohne seinem anderen Ich die fälschliche Auslegung des Heilandswortes von der Schlangenklugheit klargemacht zu haben.
Sein Luischen huschte nickend an ihm vorüber, den Weg zum Schlosse entlang, die übrigen Kinder tummelten sich im Obstgarten, wo heute die ersten Kirschen gepflückt worden waren; die litauische Lene, die sämtlichen Blümelschen Nachwuchs gewartet hatte und den Eltern aus der alten Heimat in die neue gefolgt war, hantierte auf dem Bleichplatze hinter dem Hause; darin war es seelenstill.
Den Rosenstrauß für die Hirtenfrau, würdig einer Prinzessin, in der Hand und eine Strafpredigt auf den Lippen, stieg der Pfarrer die Treppe hinan; die Tür der Kinderstube stand nach dem Flur geöffnet; sie war die räumlichste des Hauses, da sie dessen ganze Morgenseite einnahm. Frau Hanna hatte in ihrem Eifer die leisen Tritte überhört, sie kauerte am Boden vor der Wäschkommode und musterte ihr Kinderzeug; ein Geschäft, in welchem ein guter Hausvater nicht stören soll, zumal wenn [34] es die erste Musterung nach einer Wochenpause ist. Wie leicht kann eine Nummer verzählt, ein Untätchen übersehen werden! Fach für Fach war ausgekramt, Stück für Stück gegen das Licht gehalten worden, um sorgfältig zu drei Teilen abgesondert zu werden. Sämtliche noch ungebrauchte Hemdchen, Windelchen und dergleichen, neuerdings eigenhändig gesponnen und gefertigt, kamen als Vorrat in das untere Fach zurück, vielleicht für den lange zögernden, immer noch denkbaren Sohn, vielleicht aber auch erst für eine spätere Generation; denn eine Mutter von sieben Töchtern rechnet auf Enkelfreuden und -sorgen. Die zweite Abteilung, die zwar schon Spuren einer Geschichte in der Kinderstube trug, aber noch keine, die irgend unheil zu nennen waren, wurden zu jezeitigem Gebrauch in den oberen Fächern geordnet; wo aber fadenscheinige Stellen im Flanell oder Stopfflecke im Linnen augenfällig geworden, da fanden die Stücke ihren Platz auf einem blaugewürfelten Federkissen, das abseits am Boden lag, um schließlich durch eine Wickelschnur zusammengefaßt zu werden.
Der heimliche Lauscher wartete das weitläufige Geschäft nicht ab; er kannte seinen Zweck, und dieser Zweck hatte Eile; leise legte er seinen Strauß auf das blaugewürfelte Federkissen und stieg hinab in sein Studierzimmer, das am Ende des unteren Flurs gelegen war und in der Familie das geistliche Gemach genannt wurde.
Wo in einem ländlichen Pfarrhause für ein Häuflein Kinder auskömmlich gesorgt, auch der Gastfreundschaft nach Neigung und Christenpflicht Rechnung getragen werden soll, da erübrigt für das geistliche Gemach nur ein schmaler Raum. Und buchstäblich ein schmaler Raum war es denn auch, in welchen Konstantin Blümel sich jetzt zu stiller Sammlung zurückzog, aber einer, der auch den fremdesten [35] Gast vertraulich angeheimelt haben würde, denn nicht nur das Wesen des Bewohners spiegelte er wider, sondern auch seinen Lebensgang, so wie er ihn diesen Nachmittag sich selbst und seiner Gattin in das Gedächtnis zurückgerufen hatte: ein friedlich dahingleitender Bach, der nur ein einziges Mal, aber mit unvergänglich befruchtenden Spuren, im Sturmeswogen der Zeit sein Gelände übertreten hatte.
Das einzige Fenster war von außen grün umrankt; die ersten Sonnenstrahlen blinkten morgens durch das zarte Laub, vom Garten herauf grüßten die Blumenkinder. Längs der weißgetünchten Wände liefen Repositorien von rohem Holz; links auf ihnen mahnten die alten Heiden, rechts die alten Christen bis einschließlich Martin Luther an des geistlichen Herrn Schüler- und Lehrerzeit. Die jüngeren Christen waren verhältnismäßig schwach vertreten, da das Amt in der Gemeinde, der Familie und im Blumengarten weder Zeit noch Reiz zu neuen geistigen Bekanntschaften allzu häufig aufkommen ließ; indessen deutete dieses und jenes Exemplar schon durch sein Äußeres auf einen häufigen Verkehr und hatten die beiden großen Landsleute Kant und Herder sogar auf dem Schreibtische dauernd Platz gefunden, zu ihnen auch, als dritter, der treue Menschenfreund Pestalozzi sich gesellt.
Dieser Schreibtisch, nebst zwei Stühlen das einzige bewegliche Zimmergerät, füllte den Fensterbogen; von schlichtem Tannenholz, mit Wachstuch bezogen, bildeten die alte silbergekrampte Familienbibel und ein aus Elfenbein geschnitztes Kruzifix seinen einzigen Schmuck. Über dem Kruzifix aber hing, in Glas und Rahmen gefaßt, des Königs Aufruf »An mein Volk« und inmitten desselben des friedlichen Pfarrherrn tapfer erworbenes Eisernes Kreuz.
[36] Und hier in seinem häuslichen Allerheiligsten, den beiden Kreuzen gegenüber, saß nun der friedliche Pfarrherr, und es wollte ihm lange nicht gelingen, die wechselnden Eindrücke der letzten Stunden in seinem Innern glatt und gleich zu legen.
Wenn Konstantin Blümel erregt war, vollzog sich vor seinem geistigen Auge ein Prozeß des Wachsens und Wandelns, der sonst nur Kindern, Dichtern und schwärmerischen Liebhabern für eigentümlich gilt. Und doch ist mehr als ein Menschenalter verlaufen, seitdem Konstantin Blümel ein Kind geheißen hat, und insofern zu einem Dichter wesentlich gehört, daß er Gedichte macht, ist er nichts weniger als ein Dichter, denn er hat sich selbst in der sangquellenden Jünglingszeit zu keiner einzigen Liedesstrophe gedrungen gefühlt; was aber den Liebhaber anbelangt, so hat er seine Hanna zwar geliebt und liebt sie heute noch als sein anderes Ich, just darum aber keineswegs als einen Engel. Sie, seine Hanna, nannte ihn einen Idealisten und war gütig genug, sich zu freuen, wenn seine optimistische Gabe ihm manche innerliche Trübung löste, und geschickt genug, ihm zu helfen, wenn sie ihn nach außen hin in mancherlei Wirrnis verstrickte.
Hatte diesen Nachmittag nun sein dürftiges Töchterchen sich in eine blühende Rose umgewandelt, ein braves, beladenes Hirtenweib sich zu einem Dichtergebilde verklärt, des Weibes lästerlicher Gespons wohl gar sich ausgereckt zu einem revolutionären Advokatengenie, dem zu einem Danton oder Robespierre nichts als – Gott sei Dank! – der Boden fehlte, auf dem es sich entwickeln durfte, so blieben nach alledem Herz und Hirn doch immer noch von unlösbaren Problemen geschwellt. Die ungeahnte Schlangenempfänglichkeit [37] seiner Eva hatte er zwar vor der Hand auf dem blaugewürfelten Federkissen zur Ruhe gebracht, dafür aber plusterte sich in der behelligendsten Weise das dürre Dezemhuhn des Exhirten Klaus zu einem grausamen Raubvogel auf. Er vermochte sich von der Vorstellung dieser Ungebühr, zu deren Praxis er nicht nur berechtigt, sondern schlechthin verpflichtet war, nicht loszureißen, und die Blicke auf das Ehrenzeichen über dem Kruzifix gerichtet, verfiel er in schier rebellische Untersuchungen über die Vereinbarlichkeit derartiger »Gelübde und Opfer« mit einer Zeit, in welcher das Eiserne Kreuz gestiftet worden war, und über den Widerspruch der Pflichten, dem selbst im friedfertigsten bürgerlichen Berufe, dem des Priesters, das Gewissen des Christen und Menschen nicht zu entgehen vermag.
Wie er es in beunruhigenden Stimmungen zu halten pflegte, schlug er endlich seine Erbbibel auf und las im dritten Buch Mose das siebenundzwanzigste Kapitel, auf welches das Zehentopfer sich gründet, von A bis Z; las, obgleich er es von Jugend ab auswendig wußte, es zum zweiten Male, und als er endlich die Krampen wieder schloß, hatte er keine andere Lösung gefunden, als die ihm von jeher die natürliche gewesen war. »Du sollst deinen Weinberg nicht genau lesen und dem Armen und Fremdling etwas übriglassen,« sagte er vor sich hin, indem er sich erhob mit dem Vorsatze, zugunsten des Exhirten Frey auf die Spargelernte einiger Jahrgänge zu verzichten.
Die Sonne hatte sich während seiner Betrachtung gesenkt, es dämmerte im geistlichen Gemach, die Stunde drängte zu dem gewohnten Vespergange durch das Dorf. Er griff nach Hut und Stock, er griff auch nach seiner Pfeife; aber nein; die Pfeife ließ er heute im Winkel stehen. Im Begriffe, nach der Tür zu gehen, hörte er vom Flur aus [38] harte Tritte und einen ungewohnten Lärm in seine Stille dringen.
Die nämlichen Tritte, den nämlichen Lärm hörte verwundert auch die Hausfrau, als sie die Treppe herabkam, das blaugewürfelte Bündel, blumengekrönt, Tochter Lorchen zur schleunigen Besorgung zu übergeben. Die Haustür war wuchtig aufgerissen worden, eine hünenhafte Gestalt stapfte den Flur entlang, um im Dämmerlicht des geistlichen Gemaches zu verschwinden; eine zweite folgte ihr, schattenhaft schwankend, unter Ächzen und Stöhnen.
»Was gibt es, Beyfuß?« fragte die Pastorin.
Keine Antwort.
Mit weitgeöffnetem Munde, nach Atem ringend, die Hände zusammenschlagend über dem schweißtriefenden Haupt, stürmt der Kantor dem Hünen nach. Die Hausfrau hinterdrein bis unter den Rahmen der Tür. Hier steht sie starr. Sie sieht ihren Mann, der vor jachem Schreck auf seinen Stuhl zurückgetaumelt ist, mit beiden Armen ein Bündel umspannen, dem ähnlich, das sie selber in der Hand hält, – aber nicht blumengekrönt! Es ist ihm von der Tür aus zugeschleudert worden, und noch steht der Hutmann Frey mit emporgehobener Faust auf ihrer Schwelle.
»Da habt Ihr Euren Dezem, das Weib ist tot!« brüllt er mit der Stimme eines Wütigen und stürmt, wie er gekommen, aus dem Hause.
Die drei im Zimmer starren ihm nach, regungslos, sprachlos eine lange Weile.
»Das Weib ist tot!« haucht kaum hörbar endlich der Pfarrer.
»Tot!« schluchzt die Pastorin.
»Tot!« bestätigt der Kantor mit Stentorstimme.
Frau Hanna faßt sich. Vor ihren Augen ist es klar[39] geworden; sie nimmt das Bündel von ihres Gatten Schoß, um, dicht an das Fenster tretend, es zu enthüllen. In einen zerfetzten Frauenrock ist etwas Festes eingewickelt: Frau Hannas Hände zittern. Ein Kind! Ein Kind, nackt und bloß, wie es aus dem Mutterleibe gekommen, aus dem erstarrten Mutterleibe! Ein Knabe – der zehnte Sohn! Die Tränen eines Vaters und einer Mutter träufeln auf den Leib der Waise.
Während dieser Untersuchung hatte Kantor Beyfuß die Erläuterung des unerhörten Geschehnisses vorgebracht; weit ausholend, umständlich, so, als gäbe der einzige Augenzeuge eines kriminalistischen Falles den Tatbestand zu Protokoll. Freilich vor einem Gerichtshof mit tauben Ohren.
Der Kettenhund in der Schenke hat seit ein paar Tagen die Laune. Bei dieser Johannisglut die Laune! Da schwant dem Wirt nichts Gutes. Am besten ein Ende mit dem alten Vieh. Mein Klaus, nicht faul, würgt es ab. Der Wirt mag mit dem Salär nicht geknausert haben, denn des Klausen Schädel raucht sozusagen, als Kantor Beyfuß, der just in seiner Eigenschaft als Küster, das heißt Adlatus des Herrn Pastors, seinen Termingang hält, ihn vor sich her taumeln sieht. Nicht weit vom Hirtenhause holt er ihn ein und bringt das Dezemhuhn in Erinnerung. Der Klaus schlägt eine wiehernde Lache auf und rennt in das Haus. Der Kantor steht im Hofe auf der Lauer, denn ein Gewieher ist keine Replik, und Recht bleibt Recht. Kaum drei Minuten, und der Klaus stürzt wieder heraus, vergleichbar nicht einem Menschen, nicht einmal einem trunkenen Menschen, sondern einem rasenden Bullen. Die Wehmutter hinter ihm drein. Sie will ihm ein Pack entreißen, das er mit beiden Fäusten umklammert hält; sie ringt mit ihm; er macht sich los. »Das Kind, das Kind!« schreit [40] die Wehmutter, »er wills ersäufen!« Der Wüterich rennt voran, der Kantor hinterdrein; ein paar Nachbarn, die just vom Heuen kommen, sind auch nicht faul. Keiner hält mit dem Riesen Schritt. Immer vorwärts, das Paket im Arm: nach der Wasserseite etwa? Gott bewahre! Die Schlucht hinan, am Schlosse vorbei, durch das Dorf, in die Pfarre und – »bums, da liegts!«
Lange bevor die Erzählung ihr Ende erreichte, hatte Frau Hanna das Neugeborene in ihre Kinderstube getragen, es auf ihr Bett gelegt und Licht gezündet. Es war ein wohlgebildeter Knabe, so kräftig, wie zehnte Kinder wohl nur selten geboren werden. »Die letzten Blutstropfen deiner Mutter sind dir zugute gekommen, mein armes Lamm,« flüsterte Frau Hanna mit einem weheleidigen Blick auf ihr eigenes Lämmchen; dann aber faltete sie die Hände zum Dank, daß diesem schwächlichen Wesen die pflegende Mutterhand erhalten worden sei, und was sie in der Stille des Herzens sich gelobte, das wird in der Geschichte eines Glücklichen zu erlesen sein. Ein sonniges Lächeln breitete sich über ihr gutes Gesicht; sie badete den Kleinen in ihres Töchterchens Wanne, kleidete ihn – nicht aus dem Inhalt des blaugewürfelten Bündels –, sondern aus ihres Töchterchens Garderobe, reichte ihm die erste Nahrung aus ihrer Brust und bettete dann den zehnten Sohn zu der siebenten Tochter unter dem Wiegenhimmel. Sie lagen nebeneinander wie ein Zwillingspärchen und schlummerten unbekümmert um Lebens Leid und Lust.
Währenddessen war der Pfarrer, die Hände auf dem Rücken, die Blicke am Boden, ohne einen Laut zu äußern, das geistliche Gemach auf und ab geschritten. Tief im Herzgrunde lag das Problem gelöst; aber wel che schwere Gedankenrätsel hatte es aufgewirbelt! War es ein heimliches [41] Ahnen und Mahnen gewesen, das ihn zur Zeit der Katastrophe im Hirtenhause so unwiderstehlich in die Betrachtung des Zehentopfers bannte? War es ein unbewußtes Regen des Vaterherzens gewesen, das den trunkenen Mann im Rasen der Verzweiflung zu einer rettenden Liebestat entflammte? Der Pfarrer hatte in seinem Sinnen nicht ein Wort vernommen von den philosophischen Bemerkungen über die menschliche Niedertracht im allgemeinen und die des Klausen Frey im besonderen, welche sein Adlatus dem Bericht über die Vorgänge im Hirtenhause angereiht hatte. Als die Pastorin sich unbemerkt der Tür wieder näherte, hörte sie den Philosophen sagen:
»Ich stehe noch immer starr und steif, Herr Pastor. Ist so ein Malefiz auf dieser Erdenwelt schon dagewesen! Seinen leiblichen Wurm splinterfasernackig, wie ihn Gott geschaffen hat, aus dem Hause zu tragen, – ins Wasser etwa? Nun freilich, es wäre eine Mordtat gewesen, aber in der Rage – nach Gelegenheit – sozusagen verzeihlich. Ja, prosit die Mahlzeit! Hinauf in die Pfarre schleppt er ihn, sozusagen in Abrahams Schoß schleppt er ihn! Herr Pastor, Herr Pastor! dieses menschliche Individuum ist hundert Prozent boshaftiger, aber tausend Prozent weniger dumm, als es das Aussehn hat. Mich soll nur wundern, wie der Kujon die Leiche unter die Erde schwindeln wird.«
Das Wort »Leiche« schlug an des Pfarrers Ohr wie der erste Hahnenschrei an das eines Träumenden. Gescheucht aus seinem metaphysischen Ideengange, gemahnt an seinen nüchternen Arbeitstag, richtete er den Kopf in die Höhe und sprach: »Beyfuß, ich halte der edlen Gertrud – ich meine der Hanne Frey – einen Sermon.«
Der Kantor prallte drei Schritte zurück. »Einen Sermon, [42] Herr Pastor? Einen Taler vier gute Groschen, Herr Pastor! Und ich habe mir im stillen schon den Kopf zerbrochen, wie ich nur den halben Gulden für den Segen auftreiben will!«
»Beyfuß,« wiederholte der Pfarrer mit Nachdruck, »ich halte der Hanne Frey einen Sermon. War sie darum weniger unsere Schwester, weil sie ein Lumpenkleid trug? Und kann ein Weib mehr für die menschliche Familie tun, als wenn es ihrem Verbande zehn kräftige Glieder einreiht?«
»Liebliche Rangen!« murmelte der Kantor.
Aber sein geistlicher Oberherr ließ sich nicht dadurch beirren.
»Angenommen – die Statistik soll es leider lehren, und Sie sind ein Rechenmeister, Beyfuß, angenommen also, daß von vier Kindern des Volks im Durchschnitt eines leiblich oder sittlich Schaden leidet, daß demnach von den zehnen der Hanne Frey ungefähr zwei – –«
»Zwei und ein halbes, Herr Pastor!«
»Abzuzählen wären, so bleiben immer noch ihrer acht zum Segen der Welt. Und sind wir nicht Staatsbürger, Beyfuß? Kann ein Weib mehr für das Vaterland tun, als wenn es zehn, oder sagen wir nur acht kraftvollen Verteidigern das Leben gibt, ja das des jüngsten sogar mit ihrem eigenen Leben erkauft? Das Wochenbett ist das Schlachtfeld der Frauen! Zwei von ihren Söhnen tragen bereits des Königs Rock, die anderen werden ihn tragen – –«
»Jawohl, im Zuchthause, Herr Pastor, wie ihr sauberer Erzeuger, wenn er das Leben behält. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«
»Klaus Frey war von Haus aus keine unedle Natur,[43] Beyfuß, und Söhne schlagen im Temperament gewöhnlich nach der Mutter. Diese Mutter aber war eine gottgefällige Frau in all ihrer tiefen Not. Sie hätte einen Lebenslauf am Altar und eine Predigt von der Kanzel verdient – –«
»Einen Taler fünfundzwanzig Silbergroschen, Herr Pastor!«
»Aber die Welt liegt im argen. Der Mann ist tiefer herabgekommen als jemals ein ansässiges Gemeindeglied; die Frau in ihren Lumpen und ihrem Plack hat sich nicht regelmäßig zum Gotteshause halten können; eine Andacht innerhalb der Kirche würde als unziemlich aufgenommen werden, darum – –«
»Stimme ich allenfalls für eine Rede im Hof, mit Ehren zu melden, eine Mistrede, für sechzehn gute Groschen, Herr Pastor!«
»Der beschränkte Raum verbietet sie hier, Beyfuß, und der letzte Segensakt ist allemal am weihevollsten dort, wo wir den geöffneten Erdenschoß unter uns und den ewigen Himmelsschoß über uns sehen. Es bleibt bei dem Grabsermon, alter Freund!«
»Und was soll aus dem armen, nackten Johannisküchlein werden, Konstantin?« fragte vortretend jetzt die Frau Pfarrerin.
»Ei nun, mein Hannchen,« versetzte der Pfarrer lächelnd, »da es nun einmal als gebührender Dezem uns in das Haus getragen worden ist, wirst du es wohl bis auf weiteres in deinem Hühnerkorbe heranziehen müssen.«
Frau Hanna lachte froh auf; ihr Freund Beyfuß jedoch blickte erbarmungsvoll zu ihr hinüber. »Ein zweites Wickelkind zu dem ersten. Eine schwere Last in Ihren Jahren, wertgeschätzte Frau Pastorin.«
[44] »Ein Splitter von unseres Heilands Kreuz,« entgegnete Konstantin Blümel mit aller Würde der Liebe; »für den Seelenschatz eine segenbringendere Reliquie, als die in irgendeinem Heiligenschrein angebetet wird. Beyfuß, es bleibt bei dem Sermon!«
Frau Hanna küßte ihrem Konstantin heute zum zweiten Male die Hand, und Kantor Beyfuß empfahl sich mit dem Wunsche einer geruhsamen Nacht.
Sein Wunsch ging in Erfüllung; die Mutter hatte seit zwei Wochen die erste ruhsame Nacht, denn ihr kleines Schreihälschen tat neben dem schlummernden Wiegenbruder nicht Zuck und Muck.
Am anderen Tage erhandelte die Pastorin durch die Vermittlung Kantor Beyfußens, für gewisse Verrichtungen auch ihres Adlatus, von dem Witwer Frey die Ziege, für welche seine Frau das Futter abgesichelt hatte mit ihrer letzten Kraft und Liebessorge; denn sie hegte ihre »Heppe« für das Kind, das ohne Mutterbrust gedeihen sollte. Und es war eine brave, erkenntliche Ziege; sie tat ihre Schuldigkeit nicht nur an der Waise ihrer ersten Futterfrau, sondern auch an dem Nesthäkchen der zweiten, dem ihr Überfluß zugute kam. Der murrende kleine Spärling ründete, rötete, beschwichtigte sich von Tag zu Tage. Ob die Johannissonne das Gedeihen bewirkt hat, ob die Ziege, oder die Nachbarschaft des stämmigen Wiegenbrüderchens –? Wer wills entscheiden?
Wider alle Siebenschläferregel lachte am Bestattungsnachmittag der Hutmannsfrau der Himmel blau und goldig, wie bestellt für einen Sermon am offenen Grabe. Das Gefolge war so bescheiden wie die Frönerhütte, aus der es sich bewegte; auch Kantor Beyfußens männliche Schuljugend, welche dem vorangetragenen Kreuze nachtrabte, [45] nur schwach vertreten. Auf dem Gottesacker jedoch drängte es sich Kopf bei Kopf. Selber eine Armenleiche ist ein Schauspiel, das auf dem Lande ungern versäumt wird; heute aber hatten die Ehren einer Mittelleiche, welche der elenden Tagelöhnerin erwiesen werden sollten, auf die Beine gebracht, was sich irgend von der Heuernte abzumüßigen vermochte; und niemals hatte Pastor Blümel an einem offenen Grabe wärmer und, was die Hauptehre war, länger gesprochen. Hätte den schweizerischen Seelenfreund das Leidwesen getroffen, seiner Gertrud den letzten Nachruf halten zu müssen, er würde nicht rühmlicher gelautet haben als der der armen Hanne Frey. Nein, weniger rühmlich! Denn auf das Helden-und Martertum von zehn der Welt geschenkten Söhnen konnte, bei aller Trefflichkeit, das Weib des Lienhard vor Gott und Welt sich doch nicht berufen.
Wie aber die Heldin des Lebenslaufs sich nach dem Liebesmaße des Seelenfreundes gemodelt hatte, so war dessen Schatzkästlein auch das Textwort entlehnt, das neben dem vom seligen Leidtragen dem Sermon zugrunde gelegt worden war:
»Die Freude über unsere Kinder ist die herrlichste Erdenfreude. Sie macht das Herz der Eltern fromm und gut; sie hebt die Menschheit empor zu ihrem Vater im Himmel. Darum segnet der Herr die Tränen solcher Freude und lohnt den Menschen jede Vater treue und jede Muttersorge an ihren Kindern.«
In den mannigfaltigsten Modulationen, wie in einer fuga libera seines Bach, durchzog diese Melodie Pastor Blümels oratorisches Meisterstück.
Wenn Pastor Blümel indessen die Hoffnung gehegt, durch diese Melodie die Vatertreue in dem Herzen des Witwers Frey aufzuwecken, so hatte er seine Rechnung [46] buchstäblich ohne den Wirt gemacht. Klaus Frey war durch den Erlös seiner Ziege für ein paar Tage zum Krösus geworden und während dieser Tage nicht ein einziges Mal in dem Hause eingekehrt, aus welchem die Gegenwart der Leiche den sonst so furchtlosen Mann mit spukhaftem Grauen scheuchte. Er hatte sich von Schenke zu Schenke in der Gegend umhergetrieben, die Nächte in einem Totenschlafe auf irgendeinem Heuschober hingebracht und selber zu dem letzten Geleit von dem Wirte mit Gewalt getrieben werden müssen. Nun heulte und schrie er freilich, zerraufte sein Haar und würde in die offene Grube getaumelt sein, hätte die Leichenfrau ihn nicht am Rockzipfel festgehalten. Aber es waren Schenkentränen, die er vergoß, und ein Schenkentaumel, der seine Füße schwanken machte; das beseligende Leidtragen und die Vatertreue, die empor zum Himmel hebt, hatten an sein Ohr geschlagen als eitel Schall.
Auch die fünf, welche von den Söhnen am Grabe standen, starrten nur stumpf und dumpf auf das letzte schwarze Bretterbett der Mutter. Die beiden Soldaten wußten um ihre Verwaisung noch nicht einmal, und die beiden halbwüchsigen, die auf sie folgten, wußten wohl darum, denn sie dienten auf Nachbardörfern, hatten aber des Heuens wegen nicht zur Leiche kommen können. So waren es nur die fünfjüngsten, welche der Mutter die letzte Ehre erwiesen, und diese fünf erfüllte das Behagen, von der gutmütigen Amtmannsfrau für die Trauerfeier gründlich satt gemacht und nach Möglichkeit herausstaffiert worden zu sein. Der kleine Christel zupfte an dem schwarzen Flor, der an seiner Pudelmütze flatterte, und Hannes, der allerkleinste, nagte an einem Wurstzipfel, den er bei Wege in den Mund geschoben hatte; die drei größeren aber hatten genug zu tun, die Leichenfrau beim Festhalten des Vaters zu unterstützen. [47] Das beseligende Leidtragen schlug an das Ohr der Kinder, die nie etwas von heiliger Vaterfreude gespürt, erst recht als ein Schall.
Was nun aber die zuhörende Gemeinde anbelangt, so machte die erhebende Grabrede geradezu böses Blut. Wenn solche Ehre dem Weibe eines Taugenichtses widerfuhr, was blieb dann für die reputierlichen Leute, die Spesen und Dezem nicht hinter die Esse schreiben? Ist es eine Tugend, zehn Kinder zu kriegen? Eine Sünde und eine Schande ists, wenn sie statt des Zinshahns dem Pastor in den Schoß geworfen werden müssen, und wo der Mann zum Schelmen und Säufer wird, wird es mit der Frau auch allemal einen Haken haben. So und noch weit ärgerlicher gingen Gemunkel und Gemurmel von Mund zu Mund; insonderheit die wohlgestellten Familienmütter fühlten sich in ihren Ehrenrechten gekränkt. Doch auch die Väter schüttelten bedenklich die Köpfe. Gut meinte er es ja, ihr »neuer« Pastor; wer wollte etwas dawider haben? Aber diese preußischen Raupen!
»Landsmann bleibt Landsmann, Nachbar!« sagte der Schulze Thränhard zu dem alten Walbe.
In ein Herz jedoch drang die Rede von der heiligendsten Erdenfreude wie ein Erlebnis, und aus zwei Augen rannen warme, beseligende Muttertränen. Das waren die Augen und das Herz der guten Pfarrersfrau, die, auf dem einen Arm das eigene Kind und auf dem anderen das verwaiste, unter der Pforte stand, welche aus ihrem Garten in den Friedhof führte. Die Johanniskränze auf den Gräbern waren noch nicht völlig abgewelkt, der Jasmin am Zaune blühte, es duftete wie Weihrauch in dem engen Gehege, und die hohe Junisonne leuchtete gleich einem Gottesblick. Als aber der letzte Segen gesprochen war, Hand um Hand, und [48] dann Schaufel um Schaufel die harten Erdbrocken auf ein letztes Menschenbett rollten und die Pfarrersfrau in ihren Garten zurücktrat, da nickte sie dem fremden Kinde, das seine Augen aufgeschlagen hatte, zu und flüsterte: »Die Liebe einer Mutter kann ich dir freilich nicht ersetzen, du armes Lamm; aber einen guten Hirten hast du gegen den schlimmen, den du Vater nennen müßtest, eingetauscht, und darum bist du dennoch ein Segenskind, ein echtes, rechtes Johanniskind, mein kleiner Dezem.« Und ihre Lippen lächelten bei den Worten, während in den Wimpern noch die Tropfen hingen.
Es war eine traurige Ernüchterung, welche heute, wie schon manches Mal vordem, der verklärenden Wärme des Pfarrherrn folgte. Solange sein Blick zwischen dem offenen Erdenschoß und dem ewigen Himmelsschoß geschwebt, da hatte er nur die Mutter aus dem Volk gesehen in ihrem Heldenkampfe für das Leben, das sie gab und nährte bis zu der Stunde ihres Sieges im Tode. Nach dem Amen aber, als der Blick auf der je mehr und mehr sich füllenden Grube ruhte und auf dem gleichgültigen Gedränge um sie her, da erkannte er, wie aus einem Traume erwachend, die Verworfenheit und Verwahrlosung, die Mißgunst und Herzenshärtigkeit, gegen welche er als Streiter in seinem Amt berufen war, und gegen welche sein Rüstzeug sich wieder einmal als falsch gewählt und stumpf erwiesen hatte. Seine Streiche waren in die Luft geführt worden. Er stand nicht als ein Hirt, aber als ein Fremdling unter seiner Herde. Wohl dann dem edlen Mann, daß er in solchen Stunden des Verzagens seine Blumen, seine Kinder und ein Weib wie seine Hanna hatte!
Als er von seinem leidvollen Gange heimkehrte, stand in der Laube der Kaffeetisch gedeckt; die beiden Neugeborenen [49] schlummerten unter dem Wiegenhimmel, die drei, welche im Hause noch Kinder hießen, spielten zwischen ihren Blumenschwestern; Lorchen reichte dem Vater den herzaufmunternden Trank, Dorchen – heute ausnahmsweise zwischen Blumen und Kindern – das lange Rohr mit dem kopfaufräumenden Kraut; und dann krüllten sie die ersten Sommererbsen aus, die Luischen inzwischen gepflückt, plauderten, neckten sich, lachten nach glücklicher junger Mädchen Art. Der Vater aber blieb in sich gekehrt, und die Mutter, die schäffternd ab und zu ging, ließ ihn still sich austrauern.
Erst als gegen Abend das junge Volk samt Wiege und Kaffeezeug sich in das Haus verzogen hatte, setzte sie sich mit dem Vorsatze der Ausdauer an seine Seite. Es galt eine Abmachung zwischen ihnen, für welche, obgleich der Plan fix und fertig vor ihr lag, sie ihm klüglich das erste Wort vergönnte.
Da Vater Klaus neben allen übrigen Elternpflichten sich auch der ersten begeben zu haben schien, fiel die Sorge für die Aufnahme seines Sohnes in den heiligen Christenbund des Kindes Pflegern anheim. Die Vereinigung der Feier mit der des eigenen Töchterchens lag aus gemütlichen Gründen beiden Gatten nahe, empfahl sich aber auch aus praktischen Gründen. Der Mutter ersparte sie ein zweimaliges Kuchenbacken, dem Vater eine zweimalige Taufrede. Denn Stegreifsreden, frei aus dem Herzen heraus, hätte Pastor Blümel ohne Anstrengung wohl Tag für Tag halten mögen; für sakramentale Amtshandlungen arbeitete er aber die Vorträge gewissenhaft aus und memorierte sie bis auf das Tz; von allen Seelenkräften aber war Pastor Blümel, nächst dem Rechensinn, mit dem Gedächtnissinn am kürzesten gekommen. So wurde denn ohne Einwände [50] festgestellt, daß der zehnte Hirtensohn und das siebente Pfarrtöchterchen am Evangelientage von der brüderlichen Versöhnung gleichzeitig durch das Taufbad für ihr Erdenwallen zum Himmel gereinigt werden sollten.
Auch bei der Patenwahl stieß man nur auf einen einzigen Haken. Schwester Luischen würde selbstverständlich für zwei junge Christen noch viel lieber als für einen dem Teufel und seinen Werken entsagt haben; von dem Amtsbruder Kurze in Bielitz durfte man sich eines Gleichen versehen, zumal wenn für den Ärmling ausdrücklich auf das Eingebinde verzichtet wurde; auch die gute Freundin Mehlborn hätte zu der doppelten Pflichtenübernahme sicherlich lächelnd mit dem Kopfe genickt, wenn nur durch Kirchenordnung wie Sitte für einen Knaben nicht mindestens zwei männliche Zeugen geheischt worden wären. Wer sollte nun dieser zweite männliche Zeuge sein?
Der Amtmann wäre der nächste und beste, meinte die Pastorin.
Das gab der Pastor zu; aber der Amtmann stand nun einmal nur bei Honoratioren Gevatter. Das gab wiederum die Pastorin zu, um so mehr als sie mit der Schachtarbeit für den Frey vor der Hand leider ihren letzten Trumpf gegen den Hochmutsnarren ausgespielt hatte.
Nach einer nachdenklichen Pause hob sie, wie von einem Einfall durchzuckt, von neuem an: »Es ist nicht lange her, Konstantin, da rühmtest du mir als eine echte Königssitte, daß Seine Majestät die Patenschaft bei jedem siebenten Sohne, und wäre es der des ärmsten Schächers, übernähme.«
»Übernahm, Hanna,« versetzte Pastor Blümel, der seine kleinmütige Stimmung noch nicht überwunden hatte. »Übernahm, als unser Staat arm an Männern geworden war [51] und Kindersegen für einen Landessegen galt. Wohl möglich, daß nach unserem Wachstum und einer Reihe gedeihlicher Friedensjahre eine veränderte volkswirtschaftliche Anschauung den patriarchalischen Brauch verdrängt hat. Sieben Kinder sind heutzutage keine Seltenheit, Hannchen.«
»Aber zehn Söhne sind es, Konstantin. Wags, bitte den König zu Gevatter, Freund.«
Pastor Blümel schüttelte den Kopf. »Kannst du dir eine Vorstellung machen, Hanna, in welchem Maße unser gütiger, hoher Herr mit Bittschriften jeglicher Gattung und nicht bloß aus niedrigem Stande behelligt wird?« fragte er; worauf seine Hanna lachend erwiderte:
»Ob ich mir eine Vorstellung davon machen kann? Habe ich etwa nicht in vornehmen Häusern konditioniert? Gnadengesuche heißt bei denen, die es nicht bedürfen, was bei denen, die es bedürfen, Bettelbriefe heißt; just so wie den Armen kleine Notschulden schänden, aber den Reichen große Luxusschulden nicht. So steht es nun einmal geschrieben im Kodex der großen Welt. Aber was haben wir damit zu schaffen, lieber Konstantin? Bittest du denn für dich oder eines der Deinen?«
»Gott verhüte das Elend, das mich zu diesem Äußersten treiben könnte!«
»Als Diener des Amtes bittest du den hohen Patron deiner Kirche für die hülfloseste Waise deiner Gemeinde; als Ritter des Eisernen Kreuzes rufst du deines Kriegsherrn Protektorat an für den jüngsten Sprossen eines Geschlechtes, das bereits durch zwei kräftige Söhne unter des Königs Fahne vertreten ist und dermaleinst, wills Gott! durch noch acht ebenso kräftige Söhne vertreten sein wird. Wer weiß, ob du durch diesen Patenbrief dem armen kleinen Jungen späterhin nicht eine Stelle im Militärwaisenhause [52] erwirbst! Konstantin, Herzenskonstantin, glaube mir, es gelingt! Und selber, wenn infolge irgendeiner neumodischen Staatsmaxime die hohe Patenschaft abgelehnt werden sollte, für ein eigenhändiges Antwortschreiben Seiner Majestät an den freiwilligen Jäger von 1813 stehe ich dir ein, und diese Erinnerung an eine beabsichtigte Guttat würde dich bis an dein Lebensende erquicken.«
Die Augen des freiwilligen Jägers leuchteten; er entwarf in Gedanken bereits den allerhöchsten Patenbrief. Seine Gattin fuhr in voreiliger Siegesfreude fort:
»Und du kannst ja auch einfließen lassen, Konstantin, daß es auf einen Geldbettel keineswegs abgesehen ist. Nur um die Ehre. Friedrich Wilhelm von Preußen deckt den Tagedieb Klaus Frey. Vor der Hand ist gesorgt. Wo sieben Kinder satt werden, wird es ein achtes auch. Und in einem Falle der Not muß der Amtmann dran. Ja, Konstantin, er muß! Ei, wäre es nicht um den Narren Mehlborn, wir würden unsern lieben, alten königlichen Herrn ja herzlich gern in Frieden lassen. Aber warte nur, warte, du mein zugeknöpfter hochwohlgeborener Herr Rittergutsbesitzer und Baron in spe: alle zehn Finger sollst du danach lecken, und schöne Batzen sollst du dafür zahlen, als Stellvertreter Seiner Majestät von Preußen am Tauftische des armen Hirtensohnes stehen zu dürfen.«
Frau Hanna lachte vor Herzenslust hell auf, während ihr Konstantin, die Brauen bis unter die Haarwurzeln in die Höhe gezogen, ihr starr in die blitzenden blauen Augen blickte und mit drohend erhobenem Zeigefinger, so wie er es bei einer großen Gebotsmahnung von der Kanzel zu tun pflegte, sich also vernehmen ließ: »Mit einem über die Welt verbreiteten Schibboleth, Hanna, bezichtigen wir als ihre ärgsten Feinde die, welche für einen guten Zweck des [53] ungute Mittel nicht verwerflich finden, und nicht zum ersten Male, Hanna, entdecke ich dich auf so unchristlichen Schlangenwegen. Soll auch die Mutterliebe ihre Jesuiten haben? Mit einem Komödienspiel auf die Schwächen seiner Nebenmenschen spekulieren, durch Hochmut Großmut erwecken –«
»Mitleiden durch ein saures Gesicht,« fiel Frau Hanna ein, indem sie ihm zärtlich die Wangen strich. »Ich will es nicht wieder tun, Konstantin; aber sage mir doch: hast du im großen Weltwesen wie im bescheidensten Einzelnleben jemals einen guten Zweck ohne Jesuitenkünste, wie du es nennst, erreichen sehen?«
»Hast du mich jemals auf Schlangenwegen entdeckt?« fragte schier entrüstet ihr Konstantin dagegen.
»Niemals!« antwortete sie mit dem reinsten Klang der Aufrichtigkeit.
»Aber – aber« –, sie stockte, und nur in Gedanken setzte sie hinzu: »Wie häufig hast du auch, redliches Herz, deine besten Zwecke verfehlt!«
»Aber – warum stockst du, Hanna?« fragte der Pfarrer.
»Aber was sehen wir denn in der Natur, Konstantin, auf die du uns so oft als eine Lehrmeisterin verweist: Übles aus Gutem entstehen, oder Gutes aus dem Übel?«
»Beides,« antwortete er, »beides, Hanna. Allein Moral und Natur decken sich nicht wie – wie –«
»Friedrich Wilhelm den Exhirten Klaus,« ergänzte sie mit einem Lächeln; worauf ihr Konstantin dann fortfuhr: »Die Pflanze saugt erstickende Dünste ein und haucht Lebensluft aus; ein tödlicher Giftstoff wird zur heilsamen Arznei, – wir wollen diesen großen Gegenstand zu gelegener Stunde gründlich miteinander besprechen, Hanna,« unterbrach [54] er sich selbst. Ihn drängte der Patenbrief an seinen königlichen Herrn.
Und an stilistischem wie kalligraphischem Schwung ein Meisterstück, würdig eines allerhöchsten Gevattersmannes, war es, welches in der Mitternachtsstunde dieses Siebenschläfers Konstantin Blümel, evangelischer Pfarrer zu Ober- und Unterwerben, freiwilliger Jäger von 1813, Ritter des Eisernen Kreuzes zweiter Klasse, unterzeichnete, an Seine Majestät den König Friedrich Wilhelm III., zurzeit in Bad Teplitz, adressierte und, nachdem er den teuren Namen mit seinem Atem trocken gehaucht hatte, über Nacht zwischen den Blättern seiner Erbbibel verwahrte. Früh am andern Tage trug er das Schreiben persönlich nach dem städtischen Postbureau, empfahl es, wennschon bereits »Rekommandiert« darauf stand, dem Beamten zu gewissenhafter Beförderung und verbrachte darauf sechs Tage in einer patriotischen Spannung, wie er sie, seitdem er in den Friedensstand zurückgetreten war, nicht wieder empfunden hatte. Beide Gatten hatten sich bis zur Entscheidung unverbrüchliches Schweigen gelobt.
Und endlich, endlich am siebenten Tage, da traf es ein, das heißersehnte blaue Kuvert, dessen Inhalt sogar Frau Hannas verwegenste Hoffnungen überbot. Denn den eigenhändigen vier Zeilen, in welchen der »wohlaffektionierte König« die Taufzeugenschaft bei dem zehnten Sohne des Klaus Tobias Frey in Oberwerben huldvollst akzeptierte, war ein Patengeschenk von zehn Zehntalerscheinen beigefügt.
Die zehn Zehntalerscheine hat die Frau Pastorin bei ihrem nächsten Stadtgange als Heckepfennig für den armen Hutmannssohn in die Kreissparkasse getragen; das allerhöchste Handschreiben aber ist von ihr, als Seitenstück zu [55] dem Aufruf »An mein Volk«, dem schwarzweißen Bande des Eisernen Kreuzes angeheftet worden. Und so hatte der Segen des Täufertages sich an der armen Mutterwaise schon im ersten Naturzustande, bevor sie noch ein Christ geworden war, in doppelter Art bewährt. Der zehnte Hirtensohn war ein Kapitalist geworden und hatte seinem Wohltäter eine unvergängliche Herzensfreude eingetragen.
Nachdem Pastor Blümel mit feuchten Augen und fliegender Hand sein alleruntertänigstes Dankesschreiben abgefaßt hatte, rüstete er sich zu dem Gange nach dem Pächterhause, um gleichzeitig die Frau Amtmännin Mehlborn als Zeugin für sein Töchterchen und den Herrn Amtmann Mehlborn als stellvertretenden Königszeugen bei dem Sohne des Exschäfers Frey zu Gevattern zu bitten.
Die Rittergüter unserer Gegend sind keine Latifundien und die Edelhöfe, wenngleich sie häufig Schlösser heißen, weder mittelalterliche Burgen, noch moderne Prachtpaläste; so war auch das Hauptgut von Werben nur mäßigen Umfangs und das Schloß mit seiner langgestreckten, glatten Fassade nur ein räumliches Wohnhaus, das – abgerechnet seine breiten, sich zum Flusse niedersenkenden Gartenterrassen – ebensogut in einer städtischen Straße hätte stehen können. Die Schäden des Krieges waren selbst von außen nur oberflächlich an ihm ausgeheilt, denn es blieb unbewohnt, seitdem es zu Anfang des Jahrhunderts aus den Händen der im Mannesstamme erloschenen, reichbegüterten sächsischen Familie der Werben als Tochtererbe in die der preußischen von Hartenstein übergegangen war.
Auch die Pächterwohnung, die mitten im Schloßhofe lag, war zwar umfänglicher, aber weniger ansehnlich als [56] manches Bauernhaus im Dorfe; das Dach mit Schindeln gedeckt, der Fußboden mit Estrich ausgegossen, das runde Fensterglas in Blei gefaßt; das vorspringende Deckengebälk hätte ein Mann vom Schlage des Schäfers Frey mit der Hand erreichen können. Der reiche Mehlborn aber fühlte sich heimisch in diesem bescheidenen Vaterhause und bewirtschaftete von ihm aus das Gut, obgleich er es ebenso leicht von dem besser erhaltenen Hofe Unterwerbens, ursprünglich einem großen Vorwerk und Filialdorfe des Hauptgutes, hätte tun können. Es war dieses Talgut kurz nach dem Kriege käuflich auf ihn übergegangen; nicht das einzige, auf welchem in diesen drangvollen Zeiten der Pächter zum Herrn des Edelhofes ward, auf welchem sein Vater als Großknecht gedient hatte. Lieferungen und Lasten werden unerschwinglich; der Bodenwert sinkt, und der Hypothekenwert steigt; nach dem Frieden droht, unverstanden oder mißverstanden, das neue Ablösungsgesetz; das Inventarium eignet bestenteils dem Pächter, der indessen auf fremdem Boden geerntet und sein Heu ins trockene gebracht hat. So hier wie anderwärts. Ehren-Mehlborn, der überdies keinen verächtlichen Mahlschatz erheiratet hatte, würde schon dazumal auch das heiß von ihm ersehnte Hauptgut haben an sich bringen können, wenn die Generalin von Hartenstein sich zu der Entäußerung des Stammsitzes ihrer Familie hätte entschließen können. Heute, das heißt zehn Jahre später, lag diese Entäußerung vor den Augen ihrer Erben als unvermeidliche Perspektive.
Bis zu dem Erwerb des Talgutes hatte Johann Mehlborn sich nicht mehr gefühlt als jeder andere emsige, zähe, reichgewordene Bauer. An dem Tage jedoch, wo Exzellenz von Hartenstein als Sachwalter seiner Gemahlin die geschäftliche Korrespondenz statt an den Pächter Mehlborn [57] Edelgeboren an den Rittergutsbesitzer Herrn Mehlborn Hochwohlgeboren richtete, stach ihn zum ersten Male die bewußte nobele spanische Fliege. Hatte er sich bisher mit dem Haben begnügt, nun warf er sich nebenbei auch auf das Werden und Sein. Zunächst das Werden und Sein eines titulierten Mannes.
»Denn siehst du, meine Röse,« sagte er zu seiner Frau, »Rittersleute wären wir nun; richtiger Adel bis auf das kleine ›von‹, das aber auch nicht ausbleiben wird, zum wenigsten für unsere Kinder. So weit hätten wirs mit Gottes Hülfe gebracht. Jedennoch mich auf den Kreistagen und im Kreisblättchen schlecht weg als Herr Mehlborn traktieren zu lassen und dich von den Nachbarn als bloße Madame, das geht mir wider den Strich. Mittel sind da: ich kaufe mir den Amtmann, Röse.«
Frau Röse nickte zustimmend mit dem Kopfe, ihr Johann kaufte sich für so und so viel hundert Taler den Amtmann und fühlte sich, was seine eigene Person anbelangt, mit dieser Würde allenfalls zufriedengestellt. Für seine Kinder aber wollte er höher hinaus, »dem Throne um ein paar Stufen näher«, und ein kluger Kopf, wie er war, faßte er das Ding auch beim richtigen Zipfel: er sparte für sie und ließ sie etwas lernen.
Sie wurden daher der Dorfkameradschaft in Kantor Beyfußens Schulstube entrückt. Die Tochter, ein ungewöhnlich befähigtes Kind, bereiteten die kürzlich aus der Fremde herbeigezogenen Freunde in der Pfarre so weit vor, daß sie, die erste Bauerntochter unserer Gegend, nach ihrer Konfirmation in ein vornehmes Institut der Hauptstadt aufgenommen werden konnte.
»Denn siehst du, Mutter,« so sagte der Amtmann zu seiner Amtmännin, »siehst du, was für die Grafentöchter [58] in Bielitz drüben nicht zu gut ist, das ist für unsere Brigitte allenfalls gut genug. Sie erben von ihrem Alten einmal einen Sack voll Schulden, und unsere Brigitte erbt von mir zum allerwenigsten ein Rittergut. Aber unter einem Baron tue ich es einmal für sie nicht.«
Mutter Rosine hätte bei dieser Schlußwendung freilich gern mit dem Kopfe geschüttelt, sie nickte aber doch, und ihr Amtmann brachte seine Brigitte zu den Gräfinnen in die »Institution«, bei dieser Gelegenheit aber auch unter die Augen der gutsherrlichen Exzellenzen, die bisher persönlich ihm unbekannt, durch gewisse Beziehungen zu seiner Tasche indessen erwünschtermaßen vertraut geworden waren, und da in dem Worte »Erbe« ein anzügliches Medium liegt, tat durch dieses persönliche Bekanntwerden die Vertrautheit einen mächtigen Vorwärtsschritt.
Oder wäre Hilmar von Hartenstein, weil Geld und Gut ihm zu entschlüpfen drohten, nicht ebenso, wie Brigitte Mehlborn eine Erbin war, ein Erbe gewesen, ja mehr als ein Erbe, war er nicht im Genuß? Im Genuß eines alten, stolzen Namens, des Glanzes, welcher von einem ruhmwürdigen Vater auf den einzigen Sohn zurückstrahlt, im Vollgenuß der traditionellen Stattlichkeit, Ritterlichkeit, Frohlebigkeit seines Geschlechts, ein Hartenstein par excellence? Sind diese Erben eines Temperaments, welches die Gabe des Reichwerdens und selber des Reichbleibens auszuschließen scheint, nicht allemal auch die des Zaubers liebenswürdiger Unwiderstehlichkeit? Und unchristliche, das heißt herzenshärtige Gottesgeschöpfe sind sie beileibe ja auch keineswegs. Naturphilosophinnen, wie Frau Hanna Blümel, wollen freilich behaupten, daß derlei kat'exochén liebenswerte Lebeleute den Gegenbeweis liefern zu dem Gesetz, welches aus dem Schlimmen häufig ein Gutes erwachsen [59] läßt und daß durch ihre kavaliere Liebenswürdigkeit weit mehr Übel und Weh über die Welt verbreitet worden ist als durch die Langweiligkeit der sogenannten Philister samt und sonders; mögen auch erst nachfolgende Geschlechter die bittere Hefe des süßen Weines zu verwinden haben. Aber Brigitte Mehlborn war bei sechzehn Jahren noch keine Philosophin, wennschon sie starke Anlage hatte, es eines Tages zu werden. »Der und kein anderer!« sagte sie zu sich selbst, als sie den Tag vor ihrer Einführung in die residenzliche Kostschule an der Tafel der Exzellenzen dem schönen Gardereiterleutnant in seiner blitzenden Uniform zum ersten Male gegenübersaß.
Und: »Meinetwegen auch die!« sagte zwei Jahre später seufzend der schöne Gardereiterleutnant, vor die Alternative gestellt, sich aus einem hauptstädtischen Schuldensumpfe auf den soliden Boden eines provinzialen Infanterieregimentes zu retten und den letzten Anspruch an sein einstiges Muttererbe fallen zu lassen, oder diese Erbaussicht aus der Hand der Pächterstochter, um den Preis des Graziengürtels, zurückzuerhalten.
Der tapfere General überwand das Loch im Stammbaum, wie es einem Helden ziemt; seine Gemahlin kränkelte und dachte an eine selige Ewigkeit, in deren Angesicht man es hinsichtlich gewisser geistigen Gewöhnungen, Vorurteile genannt, glimpflicher als in gesunden Tagen zu nehmen pflegt. Mutter Mehlborn wurde nicht gefragt, würde aber, wenn gefragt, schwerlich mit dem Kopfe geschüttelt haben. Vater Mehlborn aber schrieb, unter Frau Hanna Blümels freundseelsorgerischer Korrektur, triumphierend Ja und Amen, und seine Brigitte kehrte als strahlende Braut in das Pächterhaus zurück.
In kurzem präsentierte sich auch der ritterliche Bräutigam, [60] wie es hieß, weniger strahlend als seine Braut, und leider, der Frühlingsparaden halber, nur für einen halben Tag, so daß den Freunden in der Pfarre der Vorzug seiner Bekanntschaft versagt blieb. Indessen soll vor dem Abschied die Verlobtenstimmung doch noch recht merklich zum Durchbruch gekommen sein, da ein gewisses heikles Geschäft, von Vater auf Sohn übertragen, sich über Erwarten glatt abgesponnen hatte.
Und warum hätte wohl auch Vater Mehlborn, selbst abgesehen von seinem edelmännischen Gelingen, die Schnüren seines Säckels allzu straff anziehen sollen? Der Bodenwert stieg, das Gut trug jetzt allenfalls eine Hypothek mehr; noch eins oder das andere von diesen gewissen heiklen Geschäften, und der Stammsitz der Werben war ungeteilt Mehlbornsches Erbe.
Schon im Sommer wurde die Hochzeit gefeiert, weder in Ober- noch Unterwerben, die beide zu exzellenzlichen Festivitäten nicht angetan waren; auch nicht in der Residenz, aus welcher vor kurzem General von Hartenstein zu einem Oberkommando in die östliche Provinz versetzt worden war, sondern möglichst still in einem kleinen märkischen Badeorte, in welchem die kranke Generalin sich zur Kur aufhielt. Amtmann Mehlborn war es zufrieden, sich als Brautvater mit einer Gasthofsrechnung abfinden zu dürfen, obschon dieselbe, der Rangstufe der Hochzeitssippe entsprechend, mit doppelter Kreide angeschrieben wurde. Auch daß die Brautmutter, der Ernte und anderer Unvermeidlichkeiten halber zu Hause geblieben war, konnte ihm nur zur Genugtuung gereichen. Er hatte, da er noch Ehren-Mehlborn hieß, seine Röse gern zu Kirmes- und Erntetanz unter lustige Festgenossen geführt; seitdem sie jedoch seine Gemahlin und eine gnädige Frau ohne kleines »von« geworden,[61] sah er sie nur gern innerhalb ihrer vier Pfähle. Sie war und blieb nun einmal unempfänglich für jede höhere Kulturbestrebung.
So das Schicksal der Tochter. Aber schon Jahr und Tag vor deren Einführung in das residenzliche Institut war auch der Sohn der Sphäre des Pachthofes entrückt worden und wäre es bei diesem Anlaß nahezu geschehen, daß Mutter Rosine zum ersten und einzigen Male energisch den Kopf geschüttelt hätte. Denn der Hannes war von ihrer eigenen stillen Art und beiden am wohlsten, wenn er ihr im Milchkeller und Hühnerhof am Schürzenzipfel hing. Er wuchs ihr daher auch weit dichter an das Herz als die nach dem Vater schlagende aufgeweckte Tochter, und sie hätte ihn dort großziehen mögen, wo er nach seiner wie ihrer Meinung, und sicherlich auch nach der der Natur, hingehörte: auf dem elterlichen Hofe. Wenn aber Vater Mehlborn sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, was konnten Mutter Rosine und ihr Hannes dann wohl dagegen tun? Und Vater Mehlborn hatte es sich in den Kopf gesetzt, seinen Stammhalter dem Throne um verschiedentliche Stufen näher rücken zu lassen.
»Hannes,« hatte er gesagt, »Hannes, du studierst; ich schenke dir ein Rittergut; du wirst Landrat, heiratest eine Gräfin, meinethalben eine arme, und alles, was weiter hinaus liegt, findet sich von selber.«
So wurde denn der arme stille Hannes mühsam durch das Gymnasium gedrillt, brachte es auch bis zur Universität, aber bis zum Landratsamte und allem, was weiter hinaus liegen sollte, brachte er es nicht, denn der arme Hannes fiel im Zweikampf mit einem Korpsbruder, der das kleine »von« vor seinem Namen ererbt und dem reichen Landsmann, welcher es erst erwerben sollte, den Spottnamen »Mehlwurm« angehängt hatte.
[62] Zuverlässig: der arme Hannes war von Natur kein Raufbold, der sich durch einen unschuldigen Mehlwurm zu Mordgedanken hätte treiben lassen. Aber sie hetzten und stachelten ihn in Spott und Ernst, und der am eifrigsten hetzte und stachelte, ihn mit dem, was er der Ehre der Familie schuldig sei, ganz toll und töricht machte, das war der Mann, den er Bruder nannte, weil er der Gatte seiner Schwester geworden war. Und so kriegte der arme Hannes denn einen Stich in die Brust, lag ein paar Tage purpurrot in loderndem Fieber und Phantasien von dem heimischen Hof, und dann wurde er weiß und stiller denn je. »Ach, Mutterchen, wie kühl muß es in deinem Milchkeller sein!« war sein letztes Wort.
Die Leiche wurde nach dem Talgute gebracht und mit möglichstem Pomp in einem Gewölbe unter der dortigen Kirche beigesetzt, das auf diese Weise zur Erbgruft der Mehlborn eingeweiht wurde. Diese Feierlichkeit, samt ritterlicher Grufterrungenschaft, trug viel dazu bei, daß der Vater sich von dem Wetterschlage, so jach als er ihn niedergeworfen hatte, wieder emporrichtete. Denn kein Schmerz, der nicht eine Not in sich schließt, wandelt das Grundwesen eines Menschen um; und Vater Mehlborn hatte wohl den einzigen Sohn, aber nicht, was eine Not in sich geschlossen haben würde, den einzigen Blutserben verloren. Er schaffte in die Breite und baute in die Höhe wie zuvor; als ihm aber bald darauf von seiner Brigitte, die von jeher sein Liebling gewesen, der erste Enkel geboren ward, tröstete er sich, als hätte er nie einen Sohn besessen, in der Zuversicht, den freiherrlich Hartensteinschen Namen dem Namen Mehlborn verbunden zu sehen, sobald nur erst auch das Hauptgut Mehlbornsches Erbe geworden sein würde.
Für die Mutter dahingegen war der Tod des Sohnes [63] ein Schmerz der umwandelnden Not. Ein Stoß in den Herzgrund brachte, wie Pastor Blümel es ausdrückte, den Heilandstrieb zum Durchbruch, über welchem im gleichmäßigen Tageslauf sich eine Erdenschicht gebildet hatte. Und vielleicht hat nur der Mutterschmerz diese Gewalt. Rosine Mehlborn hatte bis in das Matronenalter still vor sich hin geschäfftert, keinem Menschen zuleide, aber auch keinem, außer ihren Allernächsten, zuliebe. Nun, da sie an ihrem tiefsten Bedürfen Mangel litt, wurde sie die leise Helferin bei jedem fremden Mangel, auf welchen ihr Blick gerichtet ward. Ihr Amtmann durfte es nicht merken, einer aber merkte es, der ihr nimmer aus den Augen wich. Im Morgendämmer und wenn der Mond in ihre Kammer schien, zwischen den Lämmerwölkchen, welche das blaue Himmelsfeld überziehen, vom ersten Stern des Abends und von dem letzten früh blickte ihres Hannes gutes Gesicht auf sie herab; und wenn der Mangel, den sie gewahrte, ein recht großer und ihre Hülfe ein Opfer war, da sah sie ihren Hannes lächeln, und sie lächelte auch, nickte ihm zu und sagte: »Mein Hannes, ich komme bald!«
An ihre Brigitte dachte sie wohl auch, sie war ja ihr liebes Kind; wenn sie aber nicht ihr liebes Kind gewesen wäre, würde sie an jeden Menschen eher als die Brigitte gedacht haben. Der Tochter Natur war ihr unverständlich und wurde es durch ihr Schicksal je mehr und mehr.
Die beiden Erbkinder von Werben waren erst wenige Monate ein Paar geworden, als der einzige Bruder, ein Opfer seiner unfreiwillig überkommenen Standespflichten, fiel: im Pächterhause brach schier ein Mutterherz; höher hinauf jedoch, »dem Throne näher«, trat der beklagenswerte Ausgang hinter dem Spottreiz des Anlasses zurück; der Name Mehlborn erhielt einen belustigenden Klang, [64] den seine alten Träger, gottlob! nicht ahneten, der von dem chevaleresken Gatten der vormaligen Trägerin jedoch die Ehrenpflicht heischte, mit seinem besten Kameraden ein paar Kugeln zu wechseln. Ein Menschenopfer war in diesem zweiten Kampfe um den Mehlwurm nicht zu beklagen, der Wurm selbst aber um so weniger zur Ruhe gebracht worden. Hilmar von Hartenstein verstand daher einen gnädigen Wink von oben herab und vertauschte bis auf weiteres die blitzende Gardeuniform mit einer schlichten der Linie unter seines Vaters Kommando und in dessen wenig vergnüglicher Garnison. Wehe aber der liebenden Frau, welcher ein solches Opfer unter Zähneknirschen gebracht worden ist!
Vier Jahre waren seitdem verflossen, die alte Frau von Hartenstein war gestorben, die junge Frau von Hartenstein ein einziges Mal in der Heimat gewesen, um den Eltern die beiden Enkel vorzuführen, auf welchen ihre irdische Zukunftshoffnung beruhte; bei dieser rührsamen Gelegenheit aber auch gegen Vater Mehlborn ein Geschäft der allerheikelsten Art – weil ohne die Entäußerung des Stammgutes – durchzusetzen. Unbegreiflicherweise für Vater Mehlborn sträubte sich gegen diese Entäußerung mehr als der Erbe der Mutter die Mutter der einstigen Erben. Brigitte von Hartenstein wollte die Lebensstellung ihrer Kinder nicht ausschließlich auf den Reichtum ihres Vaters gegründet sehen.
Die Entwicklung, welche die vormalige Schülerin seit ihrer Verheiratung in Wesen und Willen genommen hatte, gab den Freunden in der Pfarre mancherlei zu denken und vertraulich zu besprechen. Brigitte von Hartenstein war auf bestem Wege, zu werden, was ungefähr von ihrer Zeit ab eine »bedeutende« Frau genannt worden ist; eine [65] Spezies, die man in früheren Tagen wohl auch dann und wann gefunden, allein an ders betitelt hat. Kein Landmann würde in ihr den ländlichen Ursprung vermutet, aber auch kein Edelmann sich ihr als seinesgleichen vertraulich genähert haben; sie hätte für eine Gelehrtentochter gelten können, so nach dem Grunde hin hatte sie sich mit zäher Ausdauer vertieft und so geflissentlich vermied sie den Schliff der Kreise, in welche sie sich einem Einzigen zuliebe gestellt. Sie hatte unter diesen Menschen seit dem Tode ihres Bruders, aber nicht durch diesen allein, bitterlich gelitten; sie verachtete, ja, sie haßte diese Menschen. Jenen Einzigen aber liebte sie noch immer mit der hartnäckigen Ausschließlichkeit einer nüchternen Verstandesnatur. Sie nannte diese Liebe ihre Pflicht und forderte ausschließliche Gegenliebe als ihr Recht. Daß sie ihren schönen, charakterlosen Gatten liebte, lediglich weil er ihr heute wie in der ersten Stunde gefiel, gestand die charaktervolle Frau sich nicht ein. Daß sie, um von ihm geliebt zu werden, erst lernen mußte, ihm zu gefallen, würde sie unter ihrer Würde gehalten haben.
»Hanna,« sagte Pastor Blümel zu seiner Gattin nach einem langen Spaziergange mit seiner einstigen Schülerin, »Hanna, diese noch minorenne Frau hat die Kritik der reinen Vernunft gelesen und merkwürdigerweise verstanden.«
»Würde sie nicht besser daran sein, Konstantin, wenn sie dieselbe nicht verstanden hätte?« entgegnete Frau Hanna.
Seit diesem Besuche hatten die Amtleute kein Mitglied ihrer angefreiten Sippe wiedergesehen. Pünktlich am ersten jedes Monats traf ein Brief der Tochter ein, ein braver, kluger Brief, ein Musterbrief, »man könnte ihn drucken lassen«, sagte der Vater; die Mutter aber weinte allemal den ganzen Tag, nachdem ihr Amtmann ihn vorgelesen, und [66] sehnte sich mehr denn je nach ihrem Hannes, dessen Briefe nicht wie gedruckte geklungen hatten, aber »wie mit Lettern« in ihrem Herzen geschrieben standen.
Und so war es bis auf die heutige Stunde geblieben. Die Amtmännin hatte ihr Trauerkleid nicht abgelegt, der Amtmann trug den Kopf höher denn je. Frau Hanna Blümel, die mitunter das Gras wachsen hörte, wollte ihm indessen doch anspüren, er hätte den bisher höchsten Schritt auf seiner Jakobsleiter ebenso gern oder wohl gar lieber unterlassen.
Pastor Blümel war festlich angetan in kurzem Beinkleid, langen schwarzen Strümpfen und Schuhen, über dem Leibrock ein schmales Chormäntelchen am Rücken niederhängend. Er hatte, als er in die Gegend versetzt wurde, diese Art halbamtlicher Interimstracht als eine übliche vorgefunden und, vielleicht noch der einzige in der Ephorie, sie beibehalten bei einem Kranken- und Trostbesuch, oder, wie heute, als Gevatterbitter. Eben griff er nach dem Hute, den er bei derlei Gängen aber nicht über das Käppchen setzte, sondern, dem Brauche nach, in der Hand trug, als gegen alle Familienordnung die kleine Balsamine – häuslich Minchen – in das geistliche Gemach stürmte, um einen Besucher anzumelden, der sich der Mutter in der Laube »Herr von Hartenstein« genannt habe.
Herr von Hartenstein! ein Landsmann aus der alten Heimat, ein Held aus seiner großen Zeit, sein Patron, nach dessen Bekanntschaft er sich seit zehn Jahren gesehnt hatte! Welche neue, frohe Überraschung an diesem Tage frohester Überraschungen! Oder sollte es der Sohn des Ersehnten sein, seiner Schülerin Gatte, vielleicht sein künftiger Patron? Ei nun, dieser oder jener, jedenfalls ein teurer, hochwillkommener Gast.
[67] Nun gab es aber noch einen dritten Hartenstein; einen, den Konstantin Blümel persönlich gekannt hatte zu einer Zeit, wo er eine nähere Beziehung zu jener Familie sich nicht träumen ließ, ja dem er diese Beziehung recht eigentlich dankte; einen Kameraden vom Yorckschen Korps und – seltsamste Wandlung bei einem Hartenstein! – einen geistlichen Amtsbruder, dessen Name, neuerdings laut in die Öffentlichkeit dringend, des alten Waffenbruders Erinnerung lebhaft angefacht hatte; einen, dessen Wiedersehen er noch inniger als die Bekanntschaft der beiden anderen ersehnt – und just auf die Vermutung dieses dritten kam Konstantin Blümel nicht. Ja, als der Gemeldete jetzt, von der Hausfrau geleitet, die Schwelle überschritt, selber da schwankte er noch zwischen der Annahme von Vater und Sohn. Erst als der Fremde sich mit den Worten einführte: »Sie scheinen mich nicht wiederzuerkennen, Herr Prediger: ich bin der Doktor Joachim von Hartenstein,« erst da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen; allein – wunderbar! eine steife Verbeugung war alles, was ihm zum Willkomm des Ersehnten gelang.
Während er nun aber, stumm vor Überraschung, dem bleichen, ergrauten, bürgerlich gekleideten Manne gegenüberstand, den er zuletzt mit kampfgeröteten Wangen, in der blauen Litewka, das Eiserne Kreuz auf der Brust, gesehen hatte, während er in plötzlicher Scheu kaum die Fingerspitzen des Amtsbruders zu berühren wagte, wo er so gern die Hand des Kameraden geschüttelt hätte, da entschleierte sich mit der Gedankenschnelle, für die es keinen Maßstab gibt, vor Konstantin Blümels Seelenauge die Wechselwirkung von Natur und Schicksal, die diesen lange verehrten Mann ihm plötzlich zu einem Fremden machte. Es war der Kämpfer, welcher dem Versöhner gegenüberstand.
[68] »So schön und so tapfer wie ein Hartenstein« galt als Sprichwort unter dem preußischen Soldatenadel, und von fünf Söhnen eines alten tapferen Obersten aus der friderizianischen Schule war der jüngste, Joachim, der schönste und feurigste, »den Hektor der Armee« hatte ein hoher Frauenmund ihn genannt. Sämtlich waren sie Militärs, und sämtlich folgten sie dem Vater in den Feldzug von 1806. Der unselige 14. Oktober zertrümmerte Ehre und Glück auch dieses heldenmütigen Geschlechts. Das vaterländische Heer lag am Boden, einer Leiche gleich, an der die Würmer zu nagen begannen. Auch gegen den Obersten tauchten aus einem unentdeckbaren Winkel Bezichtigungen auf, welche bei Freund wie Feind ein höhnendes Echo weckten. Wer unterscheidet in so trüben Tagen scharf die Linie, auf welcher Unglück und Unglimpf sich scheiden? Wo so viele unrein werden, ätzt das geblendete Auge ein reiner Punkt. Erst beruhigten Zeiten liegt die Klärung ob.
Als nach dem Frieden die militärische Untersuchungskommission ihr Werk begann, war der jammervolle Greis seiner Pein erlegen; von oberster Stelle ist der Flecken auf seinem Ehrenschilde nicht bestätigt worden; in den Herzen seiner Söhne lebte er fort als ein Held. Vier von ihnen umstanden seine Bahre; der fünfte moderte in den Gruben an der Saale. Die Armee war aufgelöst, der Brüder Zukunft eine Frage. Dort auf das tote Haupt des Vaters leistete einer nach dem anderen den Schwur, die verdunkelte Ehre rein zu waschen, dereinst im Kampfe gegen den Überwältiger des Vaterlandes, zunächst in dem gegen den Verleumder des Vaters.
Es war ein Kamerad, ein Freund, ja, ein Blutsfreund, von welchem die Schmähung wenn nicht ausgegangen, so doch erweislich nachgesprochen worden war. Die Brüder [69] stritten sich um den Vorzug der rächenden Hand; sie losten, ein jeder mit dem heimlichen Vorbehalt, für den Rächer einzutreten, wenn er unterliegen sollte.
Die blutige Reihenfolge wurde ihnen erspart; der das Los zog, war Joachim, noch ein Jüngling; doch hielt er sein Mannesrecht fest gegen den Widerspruch der Männer und führte es durch als ein Mann.
Der Beleidiger fiel; aber auch dem Rächer war eine Kugel in die Brust gedrungen, die er nach langen Jahren mit in das Grab genommen hat. Als er von seinem schweren Krankenlager erstand, war die Hartensteinsche Blüte auf seinem Antlitz einer Marmorblässe gewichen, und durch sein blondes Lockenhaar zogen sich weiße Silberfäden; ein Leidensmerkmal, aber ein adelndes; ein Merkmal der Wandlung, die auch in der Seele des Jünglings sich vollzogen hatte und die, wie tief Erinnerung und Gegenwart drücken mochten, bei einem Hartenstein eine sonderbare genannt werden mußte.
Nur der älteste der Brüder, der gegenwärtige General, blieb im Dienst der reorganisierten vaterländischen Armee. Die beiden mittleren suchten in der Fremde einen Platz, auf welchem sie sich früher als jene mit dem Überwältiger messen durften. Joachim ging nach Königsberg und studierte Theologie; unter den Armen der Ärmste, unter den Eifrigen der Eifrigste. Er war noch nicht großjährig, als er, anhebend mit den Wunden und der Schmach des Vaterlandes, die lange Reihe jener Erdenmächte hatte kennen lernen, mit denen im Ringkampf der Mensch zum Gottesleugner oder zum Heilandsjünger wird.
Er hatte seine geistlichen Prüfungen eben zurückgelegt, als in seiner unmittelbaren Umgebung die bahnbrechende Erhebung ihren Ausgang nahm. Auch Joachim griff wieder [70] zu dem Schwert. Seine beiden Brüder waren in Österreich und Spanien gefallen; nur der älteste und jüngste der Söhne des unglücklichen Obersten von 1806 erlebten den Tag der Befreiung, beide mit den höchsten Zeichen der Tapferkeit auf der Brust.
Als Kameraden im Yorckschen Korps hatte der Rittmeister von Hartenstein den freiwilligen Jäger Blümel wiedergefunden, dem er schon während seiner Studienzeit in Königsberg flüchtig begegnet war; und da nach dem Frieden die Pfarrstelle in Werben neu zu besetzen stand, machte er deren Patron, seinen Bruder, auf diesen treupreußischen Mann als den geeignetsten Seelsorger in der jüngsterworbenen, noch zweifelhaften Provinz aufmerksam.
Auch er selbst kehrte von der Fahne zur Kanzel zurück; sein Sinn war aber nicht derart gerichtet, um sich in einer stillen Landpfarre, wenn auch warm und behaglich einzunisten; und bald genug fand er denn auch den Wirkungskreis, in welchem sein Name, seine bedeutende Erscheinung, eine ungemeine Rednergabe und vor allem sein Temperament und Wille zur völligen Geltung kommen durften. Als Oberdomprediger und Propst in einer provinziellen Hauptstadt, als Doktor der Theologie, dessen Ehrendiplom die Universität jener Stadt ihm verliehen hatte, als ein Magnat der Kanzelberedsamkeit, würde die höchste Würde seines Standes, die eines Generalsuperintendenten oder protestantischen Bischofs, ihm nicht entgangen sein, wenn nicht auf neuem Gebiet die alte kampfesmutige Ader seines Geschlechtes in ihm entzündet worden wäre. Er hatte auf das lutherische Bekenntnis geschworen und sein Versöhnung suchender reformierter König durch Einführung der Union ein Scharmützel der Geister heraufbeschworen, als eine von dessen Haupttriebfedern der Propst von Hartenstein sich [71] erwies. Er war der Erste und Oberste von denen, welche sich der neuen Ordnung widersetzten. Seine Hartnäckigkeit kostete ihm die glänzendste Perspektive. Was fragte er danach? Sie konnte, ja, sie mußte ihm sein gegenwärtiges Amt kosten. Was verschlug es ihm? Er wäre Reiseprediger, Agitator geworden, ein zum Märtyrer berufener Streiter für seines Gottes Ehr.
Der eigenartig strenge Zauber seiner Persönlichkeit und Begabung hatte ihm in weiten Kreisen Anhang erworben; selbstverständlich auch Gegner und Spötter. »Viel Feind, viel Ehr,« sagte Joachim von Hartenstein und sagten seine Getreuen. Die Frauen zumal schwärmten für ihn wie für einen neuen Propheten. Der dreifältige Ritter der Geburt, des Schwertes und des heiligen Worts würde nicht vergebens die Hand nach den glänzendsten Erbtöchtern seiner Provinz haben ausstrecken dürfen, und er hatte in frühreifer Jugend als stark empfänglich für Frauenhuld gegolten.
Dennoch dachte er an eine Verheiratung erst nach dem Tode seiner Mutter, die er als treuester Sohn unter seinen Schutz genommen hatte; und wenn bei seiner Wahl die Stimme des Herzens sich auch mit weltlicher Zweckmäßigkeit verband, für den Entschluß gaben den Ausschlag das Pflichtgebot eines lutherischen Bekenners und der starke Hartensteinsche Stammessinn, da in Hilmar, seinem einzigen Neffen, das alte Geschlecht voraussichtlich nicht in ruhmwürdiger Weise seinen Abschluß gefunden haben würde.
Die Erkorene war ein blutjunges Fräulein, Schwestertochter seiner Schwägerin, in deren Hause sie, frühverwaist, heranwuchs. Der General und seine Gattin sollen sich mit der Hoffnung getragen haben, durch Ottiliens liebliche Sanftmut dem unbotmäßigen Sinne ihres Sohnes einen [72] Zügel angelegt, gleichzeitig aber auch das Stammgut des gemeinschaftlichen Großvaters von Werben durch das Erbteil der Waise der Familie erhalten zu sehen. Ebenso ging die Rede, daß der Vetter dem Bäschen überaus hold, das Bäschen dem Vetter mindestens nicht abhold gewesen sei, bis des Oheims unerwartete Werbung dem kindlichen Gemüte plötzlich eine veränderte Richtung gab. Die Waise blickte zu dem edlen Manne empor nicht nur wie zu einem Vater, sondern wie zu einem Helden, einem Helden auf dem Gebiete, in welchem sie selbst einen Platz, wenn auch den demütigsten, einnahm; sie fühlte sich durch seine Wahl in ihren eigenen Augen gehoben und würde ja haben sagen müssen, selbst wenn im heimlichsten Grunde eine Stimme nein geflüstert hätte.
So sagte sie denn ja und wurde in ehrfürchtiger Hingebung das Weib des Mannes, der ihr Vater sein konnte. Hilmar von Hartenstein aber sagte, eingeklemmt zwischen Trotz und Not: »Meintwegen auch die!« und heiratete Brigitte Mehlborn.
Das Resultat der weltlichen Ehe lag zurzeit selbst vor Freundesblicken noch im Nebel; die geistliche Ehe dahingegen leuchtete bis in weite Ferne als eine jener »wohlgeratenen«, welche der große Meister Luther »die allersüßeste Gottesgabe« nennt; der Familie aber, zu der sie sich je mehr und mehr erweiterte, gaben des Vaters unbedingte Autorität, seine kirchliche Ausnahmestellung und angeborene adlige Sitte ein Gepräge, das sie vor profanen Berührungen fast klösterlich abschied.
So halb Prälat und halb Patriarch, mit einem merklichen Überguß vom Militär und Kavalier: so war der Mann, oder so erschien er mindestens Konstantin Blümel, nachdem dieser ein hochwertes Bild aus seiner Erinnerungsmappe [73] mit dem gegenwärtigen Original verglichen und für dieses Original in der Galerie seiner Phantasiegestalten vergeblich nach einem Seitenstück gesucht hatte.
Eine hohe, schmächtige Gestalt, das frische Kolorit und die tiefe Augenbläue aller Hartenstein bläßlich abgedämpft, der dunkle Reiseanzug von weltmännischer Einfachheit, nichts was an den Pietisten, aber auch nichts, was an die Eitelkeit der Gesellschaft erinnerte, vornehm vom Scheitel zur Zehe, herzenskühl und doch eiferartig: so sah Frau Hanna ihres Gatten vielbesprochenen einstigen Gönner, sah ihn ihrer Vorstellung gemäß, und weil sie ihren Konstantin kannte, begriff sie dessen stumme Verwirrung und war beflissen, den Pflichten landpfarrlicher Gastfreundschaft an seiner Statt gerecht zu werden. Sie nötigte Hochwürden in das behaglichere Wohnzimmer. Zu welchem Zweck? der Raum genügte ja, meinten Hochwürden. Sie bot Erfrischungen an; Hochwürden dankten dafür. Sie erlaubte sich die Hoffnung, Hochwürden ein Nachtlager in ihrem Hause annehmen zu sehen. Hochwürden erklärten, daß sie ihren Wagen nach dem Pächterhause vorausgeschickt und sich frische Postpferde dorthin bestellt hätten, da die Universitätsstadt noch vor Nacht erreicht werden sollte und an der neuen Verwandtschaft doch nicht ohne Gruß vorübergegangen werden dürfe.
Der Propst – er selber nannte sich, analog seinem großen Vorbilde, den Doktor von Hartenstein – begleitete die letzten Worte mit einem Lächeln, welches die heitere Pfarrfrau nicht zum Mitlächeln reizte, hinterdrein jedoch einen lachenden Eifer in ihr entzündete. Sie sah, daß ihre Gegenwart im geistlichen Gemach von Überfluß sei, und zog sich mit der Verneigung einer alten, gräflichen Gouvernante zurück.
[74] »Geht mir doch,« so hatte sie bei einem ähnlichen Anlasse gesagt, »geht mir doch mit den Freunden, die sich vermessen, für uns durch Feuer und Wasser zu laufen! Wann gerät denn ein Mensch in Feuers- und Wassersgefahr? Und gerät er einmal hinein, ist es unter hundert Fällen neunundneunzig Mal nicht der Freund, sondern der erste Beste, der, rasch bei der Hand, die Hülfe bringt. Sein Alltagspäckchen sollen wir dem Freunde tragen helfen, vor den kleinen Scherereien, die der Fremde übersieht oder verlacht, nicht die Nase rümpfen und nicht erst Handschuhe anziehen, wenn es gilt, seinen Karren aus dem Sumpfe zu ziehen: nicht mehr, nicht weniger heißt das, was in der vierten Bitte unserm täglichen Brote zugezählt wird.«
Dieser ihrer Auslegung vom täglichen Brote, das Frau Hanna selber »hausbackenes« nannte, gemäß, brach sie heute – drei Tage vor dem Danksagungsgottesdienst und dem heiligen Taufakt! – die Klausur der Wochenstube, um ihrer guten Freundin in einer nie erlebten Verlegenheit mit den Erfahrungen einer in angesehenen Familien konditioniert gewesenen Hauswirtin unter die Arme zu greifen. Sie lachte hellauf, wenn sie sich den Wirrwarr im Pächterhause vorstellte, nachdem der fremde Diener den Besuch des vornehmen Herrn Vetters angemeldet hatte. Und just in der ersten Juliwoche, wo alle dienstbaren Hände bei der Ernte beschäftigt waren!
Schade, daß die kluge Pfarrfrau nicht auch im geistlichen Gemach die Mittlerrolle übernehmen durfte!
Sobald die beiden Amtsbrüder sich allein gegenüberstanden, der eine den anderen um Kopfeshöhe überragend und darum auch unwillkürlich auf ihn niederblickend, sagte der Fremde:
»Sie werden in gegenwärtigen Zeitläuften nicht voraussetzen, [75] Herr Prediger, daß ich auf einer Vergnügungs- oder Vetternreise hier haltgemacht. Mein Kommen gilt ausdrücklich Ihnen, das heißt dem Pfarrer.«
Pastor Blümel verbeugte sich schweigend. Der andere fuhr fort:
»Da mein Standpunkt sattsam bekannt ist, darf ich mir Präliminarien ersparen.«
Wiederum eine stumme Verbeugung von seiten des Pfarrers.
»Wohlan denn, Herr Prediger. Wie stellt sich das Pastorat Ihrer Ephorie zu der neuen Agende und der Durchführung der Union?«
Pastor Blümel wußte seit dem ersten Wort, worauf die Glocke ausgehoben. Er hatte sich zum Widerstande gefaßt und antwortete ruhig:
»Man hat sie, soviel mir bekannt, einmütig als einen königlichen Akt versöhnender Christenliebe aufgenommen.«
»Auch Sie?«
»Ich unbedingt.«
»Und das Patronat?«
»Hat in Stadt wie Land keinen Widerspruch erhoben.«
»Auch mein Bruder?«
»Seine Exzellenz schrieben mir auf meine Anfrage: die Heilsordnung, die meinem König genügt, wird auch mir genügen. Ich gedenke das nächste Abendmahl innerhalb einer unierten Gemeinde zu genießen.«
»Es sieht ihm ähnlich!«
»Das freut mich, Hochwürden.«
»Aber die Gemeinden?«
»Werden, soweit sie die Unterscheidung begreifen, sie [76] nicht als eine Beeinträchtigung ihres protestantischen Bekenntnisses auffassen.«
»Warum auch nicht? Es sind ja Sachsen! Landsleute der großen Aufklärer von Leibniz an bis Lessing und – –«
»Und vor diesen Martin Luthers!«
»Gewiß. Vor allen Luthers!«
»Ich fürchte, Hochwürden nicht mehr zu verstehen.«
»Und ist doch so verständlich. Jede Zone kann einen Helden zeugen, aber in jeder Zone wird der Held verschieden wirken. In keinem anderen deutschen Gau würde eine kirchliche Neuerung so rasch Wurzel schlagen und sich so behaglich haben ausbreiten können wie in diesem.«
»Hochwürden scheinen das zu beklagen.«
»Sie irren, Herr Prediger. Ich bin Lutheraner. Ich kann und will nichts anderes sein; ebensowenig wie ich als Preuße wieder ein Reichsdeutscher – und damit meine ich das Reich vor seinem kläglichsten Verfall, das heißt vor der Reformation und lange bevor es einen preußischen Staat gegeben hat – werden könnte. Aber eben weil ich nichts anderes sein kann, will ich das, was ich bin, ganz sein und werde mich bäumen bis zum Äußersten, ehe ich mir und den Meinen Luthers Heldentat verpfuschen lasse.«
»Ich nenne es sie vollenden, Hochwürden, so wie der Meister selbst sie vollendet haben würde, wenn – –«
»Er, er?« rief der Propst mit durchbrechender Leidenschaft. »Er, welcher der Satansversuchung so urkräftig widerstand, daß er lieber ›dem stärksten Puff, den er dem Papsttum versetzen konnte,‹ – seine eigenen Worte! – entsagte, als daß er das Sakrament vom Fleisch und Blut in ein Abendmahl von Brot und Wein verhunzen ließ.«
»Mehr als zehn Menschengeschlechter sind seit diesen Erstlingskämpfen für eine erneuerte Norm abgestorben,« [77] entgegnete, nunmehr gleichfalls warm werdend, Konstantin Blümel. »Sollen der Wahn und die Wut des sechzehnten Jahrhunderts nicht in dem weiten Grabe des siebenzehnten verschüttet worden sein? Sollen sie heute, im neunzehnten, zu einem Scheinleben wieder aufgerüttelt werden?«
»Und was hat diesen Wahn und diese Wut, wie Sie es nennen, Herr Prediger, in den Menschengeistern abgelöst? Goldmacher, Forscher nach dem Stein der Weisen; Betrüger und Betrogene auf den Thronen und zu Füßen derselben; der nüchternste Vernunftsdienst, ein künstlich aufgewärmtes Heidentum, Atheisten und Sanskülotten auch unter uns; dünkt Ihnen deren brütendes Wühlen menschenwürdiger als jener Leben und Sterben für ein untrügliches Wort, für eine ewige Idee?«
»Die ewige Idee beharrt, Hochwürden, aber die Ideen, die sie gebiert, wechseln und wandeln in den Menschenseelen. Auch wir haben zu leben und zu sterben gewußt für eine Idee, und unsere Kinder und Enkel werden es für die ihre wieder wissen. Sie haben, verehrter Herr, noch eben sich mit Wärme auf den jungen Staat berufen, den Sie und ich mit gleicher Liebe unser Vaterland nennen. Nun wohl, dieser Staat hat jüngst einen Zuwachs von Millionen römisch-katholischer Christen erhalten: sollte das nicht eine Mahnung sein für alle protestantischen Gruppen, das, was sie trennt, zu vergessen, um als geschlossene Phalanx unseren Widersachern gegenüberzustehen?«
»Als lose, wehrlose Banden, wollen Sie sagen, Herr Prediger, gegenüber einer Armee in Reih und Glied! Wird diese unselige Neuerung vollendete Tatsache, so gibt es in einem halben Jahrhundert nur noch griechische oderrömische Christen und deutsche Heiden. Jede Kirche heischt für ihren [78] Bestand ein unumstößliches Dogma. Wir haben die Tradition, die Glorie der Heiligen, das Erbteil Sankt Peters, den Mariadienst, das Meßopfer und noch vier der Sakramente über Bord geworfen, verschleudern wir auch noch die Lehre von der Ubiquität, das heißt den Wortlaut der Schrift – –«
»Wir verschleudern sie nicht, Hochwürden – –«
»Ihr verwässert sie nur. Das Phlegma setzt sich zu Boden, was von der Essenz sich nicht verflüchtigt hat, sammelt sich in einer spiritualistisch stark anziehenden Zone. Mit anderen Worten: die Böcke scheiden aus in das freigeistige Lager, die Schafe in die römische Herde. Halten wir aber zusammen wie ein Mann, Ihr zumal in dieser neuerworbenen Provinz, deren Stimmung geschont werden muß, und die so ungemischt wie keine zweite der lutherischen Lehre angehört, so wird man die heillose Zumutung fallen lassen, und das undeutbare Gotteswort wird der Wall bleiben, an welchem die stolzen, römischen Wellen, so hoch ich sie vorahnend steigen sehe, sich brechen werden.«
Es war dem Pfarrer von Werben eine neue Erfahrung, solch einem eiferartigen Kämpen auf religiösem Gebiete Widerpart zu halten. Auf dem bewegten Schauplatz seiner Jugendjahre tummelten sich die Geister in einer anderen Richtung, und in seinem späteren Stilleben war es die Sitte mehr als der Glaube, die ihn zu reinigender Fehde herausforderte. Aber in diesem Widerstande lag ein Reiz, welcher die Schüchternheit überwand. Seine Blicke hafteten leuchtend an den beiden Kreuzen, welche für ihn, so gut wie für seinen Gegner, die Regulatoren des Lebens und Wirkens waren, und ein warmer Strom entquoll der bewegten Seele. Er schilderte sein Traumbild einer auf dem evangelischen Urgrund geeinigten und gereinigten Kirche [79] als einer Anstalt menschlicher Liebe zur Verkündung der göttlichen, als der idealsten Macht für das unter den harten Forderungen der Materie sich abringende Menschengeschlecht, als der höchsten Instanz für alle dunklen, strittigen Lebensfragen. »Dieser hehre Tempelbau,« so schloß er seine Rede, »er leuchtet mir vor wie den Wüstenpilgern das Gelobte Land. Mit Augen schauen werde ich ihn nicht. Aber schon das ist hohe Freude, zwischen Unglauben und Aberglauben, zwischen Willkür und Knechtung ein Sandkorn zu seinem Untergrunde beizutragen. Und das meine ich zu tun, indem ich unbeirrt in die Fußspuren eines ersten Schrittes versöhnender Weisheit und Bruderliebe trete.«
Herr von Hartenstein hatte ihm mit merklicher Ungeduld zugehört. Nach den letzten Worten ergriff er rasch seinen Hut und erwiderte: »Ich bin zu positiv gerichtet, zu nüchtern, wenn Sie so wollen, um Ihnen in dieses Phantasienreich –›Schlaraffenland‹ würde unser kerniger Meister es vielleicht genannt haben – folgen zu können. Überdies drängt die Zeit. Und so habe ich nachträglich nur zu sagen: Verzeihung, daß ich Sie aufgehalten habe, Herr Prediger. Sie waren im Begriff, in Amtsgeschäften auszugehen.«
»Nur in einer privaten Angelegenheit zu Amtmann Mehlborn, Hochwürden,« versetzte der Pfarrer.
»Dann freut es mich, daß unser Weg der gleiche ist,« sagte Herr von Hartenstein, und sie brachen auf.
Sie schritten an der Kirche vorüber, deren Tür von Sonnenauf- bis Untergang offen stand; eine Neuerung des Blümelschen Regiments, von welcher leider seltener als er gehofft ein stiller Einkehrer Segen zog. Ohne weitere Erklärung trat der Propst ein, und der Pfarrer folgte ihm.
Des Erbaulichen an Konstruktion wie gottesdienstlichem Gerät war hier so wenig wie an allen anderen ländlichen [80] Bethäusern unserer Gegend wahrzunehmen. Wände und Deckengebälk weiß getüncht, ein roter Ziegelboden, Kanzel, Altartisch und Bänke, ohne Schnitzwerk, von dunkel gebeiztem Holz. Eine Falltür, aus rohen Bohlen gezimmert, führte hinab in die von der Werbensche Gruft, die voraussichtlich keinen erdenmüden oder noch erdenfrohen Pilger mehr aufnehmen sollte. Der Propst äußerte kein Verlangen, der abgelebten Sippe seine Ehrfurcht zu bezeugen, dahingegen er einer geistlichen Geschlechtsfolge, auf die er unerwartet stieß, einen bemerkbaren Anteil zuwendete. Es waren die Bildnisse sämtlicher Gemeindepfarrer seit dem ersten lutherischen Bekenner, die den schmalen Altarplatz in doppelter Reihe umzogen. Der damalige Patron hatte ein Legat zu dieser Stiftung ausgesetzt und der Kunstwert nach dem Maße des Geldwerts unverkennbar abgenommen. In gleicher Größe und gleichem schwarzen Talar und Barett standen die würdigen Herrn, einer neben und einer über dem anderen in Reih und Glied. Kein geistlicher Nachfahre würde sich durch den Aufblick zu ihnen erbaut oder physiognomisch belehrt, kein leiblicher Nachfahre sich also einen werten Ahnherrn geträumt oder gewünscht haben. Die Gemeinde aber hing mit Liebe an ihrem einzigen Ornament und, bis auf die kürzlich erlebte Franzosenzeit, ihrer einzigen historischen Erinnerung. Die Namen selber der ältesten der alten Seelenhirten hatten sich fortgeerbt von Geschlecht zu Geschlecht; von diesem ein Erlebnis, von jenem ein Charakterzug, von den beliebtesten ein Schwank; und man würde sich williger irgendwelche Veränderung der alten Agende, ja sogar ein neues Gesangbuch haben gefallen lassen, als eines der kaum noch erkennbar nachgedunkelten alten Pastorbilder gemißt.
Die Altarwände waren bis auf einen einzigen Platz gefüllt. [81] »Soll die Reihe dieser treuen Männer geschlossen werden mit einem, der von ihrem Glauben abgefallen ist?« sagte, auf die leere Stelle deutend, der Propst mit einem Ton, der halb wie Spott und halb wie eine Beschwörung klang.
Pastor Blümel unterdrückte die Antwort. Die Kirche, seine Kirche, würde ihm der letzte Ort zu polemischer Widerrede gewesen sein. Er hatte im stillen längst auf den letzten Platz in der geistlichen Galerie verzichtet. Seine Werbenschen Beichtkinder, er wußte es, würden ihn keineswegs als einen Abtrünnigen verketzern, weil er auf des preußischen Königs Befehl zwei neue Worte, von denen eines obendrein der Herr Jesus war, in die alte Spendeformel aufnahm; die Werbenschen Leute waren ja überhaupt beileibe keine widerborstigen Untertanen. Daß aber ihre geistliche Galerie an Reliquienwert für sie eingebüßt haben würde, wenn sie mit einem neuen Preußen anstatt mit einem alten Landsmann ihren Abschluß fand, das wußte Pastor Blümel auch, und Pastor Blümel, obgleich oder weil Unionist, verstand Reliquienwert zu schätzen.
Pastor Blümel »herbergete gern« nach christlicher Vorschrift, wie seine Hanna es tat nach natürlicher Neigung; wenn Pastor Blümel aber die Gastlichkeit eine germanische Erbtugend nannte, so nannte Frau Hanna ihren Konstantin einen deutschen Schwärmer. Und zu leugnen ist allerdings nicht, daß Konstantin Blümel zu den Schwärmern gehörte, die ihr Volk – selbstredend en bloc! – in jeglicher Völkertugend leuchten sahen mit alleiniger Unterschätzung derjenigen, in welcher es allezeit geleuchtet hat und wills Gott auch fernerhin leuchten wird, denn die Bescheidenheit ist die Tugend des Würdigen.
[82] Verwies dann der Gatte die Gattin auf seines armen Volkes notgedrungene Arbeitsamkeit, welche den gastfreien Naturtrieb in Zügel halte, so verwies die Gattin den Gatten aus der Völkerkunde auf die weit größere Armut just der gastfreiesten Stämme und aus seiner persönlichen Erfahrung auf das Institut der Schenke, für dessen Pflege es dem deutschen Mann niemals an Muße und Batzen gebreche.
»Die Schenke,« sagte sie, »ja die Schenke, Konstantin, ist eine urteutonische Einrichtung; und wenn dein alter Heide ihrer nicht gebührentlich Erwähnung getan haben sollte, bewiese es, daß er der blondgelockten Germania nicht bis in den Herzgrund gedrungen ist. Der Schenkenzug aber bläst naturgemäß das gastliche Herdfeuer aus. Leben wir denn in einer Wüstenei? Sind wir nicht eine zivilisierte Nation? Vivat fürs Geld! jeder für sich und die Schenke für alle! vivat die Schenke! Und dann die deutsche Humanität, Konstantin! Die armen Gastwirte müßten ja bankrott werden, wenn jeder Hauswirt seinen Anhang in seinen eigenen vier Pfählen beherbergen wollte! Ist einer ein wohlhäbiger Mann und hat er bedürftige Anverwandte, denen seine deutsche Gemütlichkeit die Gasthofsrechnung ersparen, oder einen guten Freund, mit dem er sich einmal vertraulich aussprechen möchte, ei nun, da findet sich allenfalls oben zwischen den Rumpelkammern des Bodens ein Plätzchen, wo man ihn untersteckt; für die Hauswirte selbst würden diese hohen Regionen im Sommer zu heiß, im Winter zu frisch und keinenfalls behaglich gefunden werden; für einen auswärtigen Besuch dahingegen sind sie hinlänglich temperiert und von genügendem Behagen.«
Frau Hanna erzählte dann recht kurzweilig ihre gastfreundlichen Erlebnisse bei dem städtischen deutschen Biedermann [83] und bei dem ländlichen ungefähr desgleichen. Will sagen, wenn der ländliche kein Bauer ist, denn richtige Bauern besuchen sich nicht. Bewirten und bewirtet werden ist ein Spaß für Leute, die nichts zu tun haben: für Pastoren und Adel.
Zwei oder drei Tage jedoch, hierzulande in der Zeit, wo das Kirchenjahr auf die Neige geht, da ist unser Bauer in der Tat ein ideal germanischer gastfreier Mann, da kracht seine Tafel von Speisen und Tränken, die er sich zwölf Monate lang am Munde abgezwackt hat, da wird auch der Ungeladene nicht ungesättigt entlassen, die Brosamen fallen in des Armen Schoß, und die auswärtige Freundschaft nächtigt in den dicksten Federbetten. Prosit die splendide Kirmeszeit!
Und in dieser splendiden Weise war die heilige Kirchweih auch von Johann Mehlborn gefeiert worden, solange er sich nur noch als reicher Bauer fühlte; seitdem er sich aber als titulierter Erb-, Lehn- und Gerichtsherr fühlte, wurde noch zehnmal mehr gebrodelt, gebackt und gezapft, nur, versteht sich, für eine erlesenere Gesellschaftsschicht als die bäuerliche Bekanntschaft und Freundschaft der Pflege. Es kamen benachbarte Kantoren und Pastoren, Amtsleute und Gutsbesitzer, unter letzteren bis jetzt freilich nur noch die ohne kleines »von«; es kam der städtische Anhang, der für den Hof arbeitete, vom Schornsteinfegermeister bis zum Schuhmachermeister hinab; die willkommensten Gäste aber waren jene anderweitigen Kunden, die als Müller, Fleischermeister, Bäckermeister und so weiter die Produkte des Hofes bezogen. Wäre der gnädige Herr Propst zur novemberlichen Kirmeszeit in den Hof geschneit, er hätte vor der christlichen Herbergslust seiner neuen Sippe Respekt bekommen müssen.
Nun aber fuhr er in das Haus wie ein Blitz zu hoher [84] Sommerszeit; in der Natur der reichsten, in der Wirtschaft der kahlsten und für die Gastfreundschaft der ungelegensten des ganzen Jahres. Kleeernte, Heuernte, Rapsernte noch nicht vollständig eingebracht und die Kornernte vor der Tür! Für einen städtischen Kurierdienst kein Pferd im Stall, kein Knecht, keine Magd auf dem Hof, kein Kuchen gebacken, kein Braten im Vorrat, die Gardinen ungewaschen, nicht einmal die gute Stube frisch gescheuert!
Und diese unwirtliche Blöße, dieser sozusagen Naturzustand stieg mit grausamer Helligkeit jach vor Johann Mehlborns Seele auf, als er, in Hemdsärmeln und Leinenhosen zum höchsteigenhändigen Abbansen auf einem Heuwagen stehend, zum ersten Male im Leben eine Equipage mit silbernen Wappenschildern an den Schlägen in den Hof fahren, einen Livreediener mit silbernen Wappenknöpfen vom Bocke springen sah und von unten herauf ihm, Johann Mehlborn, den bevorstehenden Besuch des Herrn Propstes von Hartenstein ankündigen hörte. Der feine Bediente hatte ihm demnach, trotz Hemdärmeln und Leinenhosen, die freiherrliche Verwandtschaft an der Nase angesehen; er konnte, weiß Gott! sich doch nicht selbst verleugnen, wie der Portier im exzellenzlichen Hause bei ungelegenen Besuchen seine Herrschaft verleugnete. Er hätte aus der Haut fahren oder in ein Mäuseloch kriechen mögen.
Wenn aber gastlicher Sinn eine zweifelhafte Volkstugend ist, eine ritterliche Tugend ist sie sonder Zweifel. Ein einziger schwacher Moment, und Ritter Mehlborn ist tapfer gefaßt und gewillt, dieser Tugend Raum zu geben. Vom Wagen herunter, ins Haus hinein!
»Röse, Röse, den Schlüssel zur guten Stube! Einen Besen, Sägespäne, Röse! Weißen Sand, ein Wischtuch, eine Bürste, Röse!«
[85] Selbst ist der Mann! gefegt, gewischt, gebürstet mit eigener ritterlicher Hand; der geschicktesten Jungemagd zum Muster. Der Sofabezug von klatschrosenrotem Moiré leuchtet, als hätte noch niemals ein Kirmesgast darauf Platz genommen; das Holzwerkvon strohgelber Birkenmaser blitzt und blinkt wie pures Gold. Aber das Blankwichsen der geschnitzten, schwarzen Delphine, welche den Fuß des Sofatisches zieren, das kostet noch Schweiß! Ist die gute Stube des Amtmannshauses Stolz, so sind die geschnitzten Delphine der Stolz der guten Stube. Die Tische der Nachbarschaft samt und sonders haben noch vier dünne glatte Beine; Amtmann Mehlborns Sofatisch hat einen dicken Fuß mit drei geschnitzten »Philadelphias«!
»Aber, Mutter, so rühre dich doch, du stehst ja wie im Traume!«
Die unschuldige Mutter Röse, sie im Traume! Als ob in solcher Hatz einem Menschen der Frieden käme, wo er seinen Liebling zwischen den Abendwolken lächeln sieht! Hatte sie denn nicht erst dem abtrabenden Postillion ein Kümmelchen reichen müssen und dem feinen Bedienten ein Schmalzbrot dazu schmieren? Und pustete sie denn jetzt nicht nach Lungenkräften die Fliegenleichen aus den goldenen Tassen auf der guten Kommode? die armen, hochmütig verirrten Fliegen, die in der guten Stube einem grausamen Hungertode erlegen waren, da sie in der bescheidenen Wohnstube drüben sich behaglich bis in den Winter hinein hätten mästen können!
»Aber, Mutter, ist denn heute Zeit für die Fliegen? Wer guckt denn auch gleich in die Oberköpfchen!«
Mutter Rosine stellte das Pusten ein und machte sich an das Putzen der Fensterscheiben, denen durch die abgelebten Insekten erbärmlich mitgespielt worden war.
[86] So, nur noch ein paar Hände voll Sand auf die gefegten Dielen gestreut, und die gute Stube ist in Stand. Bleiben der Herr Vetter über Nacht, wird ein Bett darin aufgeschlagen. An Federbetten ist kein Mangel und an Überzügen auch nicht; sogar ein paar weiße sind für erhofften vornehmen Besuch angeschafft worden, und bis zum Beziehen ist auch die Jungemagd wieder auf dem Hof.
»Jetzund ans Decken!«
Amtmann Mehlborn ist ein Fünfziger, aber noch bei Jünglingskräften. Ein Spiel für ihn, die schwere eichene Tafel aus der Leutestube in die gute zu rücken, die beiden Enden herauszuziehen und, während die Amtmännin Weißzeug und Geschirr auflegt, die Vorräte herbeizuschleppen, welche Rauchkammer und Keller in Julitagen bieten. Treppauf, treppab, wie ein Wetter! Beim Heuladen in der Mittagsglut würde dem beleibten Herrn der Kopf nicht so schmählich geraucht haben wie bei diesen gastfreundlichen Ritterdiensten. Zweien Schinken und einem Dutzend diverser Würste werden Holzzeichen und Bindfäden abgeschnitten, das letzte Sauergurkenfaß geöffnet, ganze Batterien von Weinflaschen des edelsten – Werbenschen – Gewächses aufgepflanzt; was der Tafel an Mannigfaltigkeit gebrach, ersetzte die Masse. Eine Schwadron hätte sich beim Herbstmanöver an ihrer Fülle sättigen und in undisziplinarischen Taumel zechen können. Aber immer hatte der Hausherr seiner Gastlichkeit noch nicht genug getan; – das liebe Gut, blieb etwas übrig, kam ja nicht um! – immer hatte er noch etwas zu fordern, etwas auszusetzen.
»Aber, Mutter, hausmachenden Drell! fix, ein blumiges Tischtuch!«
»Röse, der Teller hat einen Sprung!«
»Aber Frau, hast du denn gar kein Augenmaß? Dort [87] hinunter noch eine Wurst; die Geometrie muß doch rauskommen, Röse.«
Die arme Mutter Röse wußte nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Das Weinen war ihr näher als das Lachen. »Ach, daß die gute Frau Pastorin auch gerade in Wochen liegen muß!« seufzte sie.
»Ja,« brummte ihr Amtmann, »wenn man die Leute nicht braucht, hat man sie das ganze Jahr, und braucht man sie endlich einmal – –«
»Hat man sie auch!« ergänzte eine lachende Stimme, und Holland war aus seiner Not.
Numero eins brachte die gute Freundin heimlichen Trost: Hochwürden blieben nicht über Nacht, es brauchte kein Bett aufgeschlagen zu werden. Numero zwei: verurteilte sie die Strategie der Massen: zu einer Abendmahlzeit war die Stunde viel zu früh. Hurtig die Tafel wieder hinaus! Dort auf den Sofatisch eine leichte Kollation, eine Schale Milch, ein Körbchen Erdbeeren, frisch von den Kindern im Pfarrgarten gepflückt und fürsorglich mitgenommen; das genügte.
Dem gastlichen Rittersmann kam es hart an, sein geometrisches Kunstwerk eigenhändig wieder zu zerstören, Brote, Butter, Käse, Schinken, Würste, saure Gurken und sämtliche Weinflaschen bis auf zwei, eine rote und eine blanke, die sich absolut nicht abdringen ließen, bis auf gelegenere Zeit nebenan in die Schlafkammer zu tragen. Gottserbärmlich kam ihm die »Kollision« über den »Philadelphias« vor! Aber die Frau Pastorin war Gouvernante in einem Grafenhause gewesen, sie mußte sich auf den Appetit vornehmer Leute in der Vesperstunde verstehen.
»Wenn der gnädige Herr nun aber bis in den Abend hinein bleibt?« fragte Mutter Rosine schüchtern.
[88] »Dann machen wir Tee, Frau Amtmännin.«
»Tee? Ist der arme Herr denn krank?«
»Gottlob! nein. Aber seinesgleichen trinken, auch wenn sie gesund sind, abends Tee.«
»Was Sie sagen, Frau Pastorin! Kamillen oder Flieder?«
»Aber Mutter, Mutter, wie dumm!« fuhr der Amtmann dazwischen. »Amerikanischen Tee, Tee aus Chinarinde natürlich.«
»Ich schicke durch Luischen schon die rechte Sorte, und sie besorgt das übrige, wenn er bleibt. Aber Sie werden sehen, er bleibt nicht.«
»Desto besser,« dachte der Amtmann; laut jedoch sagte er: »Das täte mir leid.«
»Nun aber fix an die Toilette. Dein seidenes Abendmahlskleid, Mutter! Und Handschuhe, hörst du, Handschuhe! Und noch eins: Rufe mich nicht ›Jôhann‹, so heißen bei den Vornehmen alle Kutscher, und wenn du von mir redest, sage nicht ›mein Amtmann‹, wie gegen die Bauern und das Gesinde. Nenne mich – –«
»Ich werde dich gar nicht nennen, Jôhann,« versprach Frau Rosine, und ihr Amtmann gab sich damit zufrieden. Sie hätte »mein Gemahl« oder »lieber Johannes«, wie es diesem geistlichen Vetter am eindrucksvollsten geklungen haben würde, doch im Leben nicht über die Lippen gebracht.
»Sie ist und bleibt Hentschler-Röse!«
Mit diesem Stoßseufzer sprang der korpulente Herr, leichtfüßig wie ein Hirsch, die Treppe zum Boden hinan, wo in dunkler Kammer, zwischen Pfeffer und Mottenkraut eingepackt, das Kleid des Hochzeitsvaters ruhte, das, um schweres Geld vom königlichen Hofschneider geliefert, binnen fünf Jahren selbst nicht zum Genuß des heiligen Mahles aus der Lade genommen worden war.
[89] Unten in der Wohnstube aber blickten und nickten die beiden guten Freundinnen sich lächelnd zu. Das Gottestischkleid blieb ruhig im Schranke hängen; nur eine frische Haube wurde aufgesetzt und statt der leinenen eine schwarze Taffetschürze über den Alltagsoberrock gebunden, der seit des armen Hannes Tode ein Trauerrock geblieben war. Die Amtmannsfrau sah häuslich nett aus, recht wie die liebe stille Seele, die sie ja war. Und dann saßen die beiden guten Freundinnen nebeneinander und plauderten, nicht von dem fremden vornehmen Besuch, sondern von dem Wiegenpärchen in der Pfarre und der geplanten sonntägigen Doppeltaufe. Frau Hanna vertraute Frau Rosinen, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, – bis es jedenfalls heute noch von ihrem Konstantin gelöst werden würde, – das Geheimnis von dem königlichen Mitgevatter und seinem Stellvertreter. Frau Rosine hatte sich darauf gefreut, auch die arme Hutmannswaise ihr Patchen nennen zu dürfen; sie erkannte es aber doch dankbarlichst an, daß ein so hoher Ehrenposten, für den der Herr Landrat sich nicht zu groß geachtet haben würde, ihrem Amtmann zugedacht worden war. Das Eingebinde, versicherte sie, werde sie sich indessen nicht nehmen lassen, so als ob sie die richtige Gevatterin wäre, und was in späteren Tagen Patenpflicht sei, darauf könne die Frau Pastorin sich von ihr Rechnung machen.
Während dieses gemütlichen Zwiegesprächs unten in der Wohnstube machte oben in der Bodenkammer der germanische Hauswirt recht ungemütlich die Erfahrung, was es bedeuten will, daß Hoffart Zwang zu leiden hat. In seinem Alltagsrock hatte er es kaum bemerkt, wie umfänglich die hohen Bestrebungen auch seinem Leibe angeschlagen waren. Der blaue Frack würde geplatzt sein, wenn er die gelben Knöpfe hätte schließen wollen, die Arme staken wie [90] in einer Zwangsjacke in den Ärmeln, die steife, hohe, weiße Krawatte ging hinten nicht mehr zu, und die noch höheren weißen, steifen Vatermörder reichten nur noch bis hinter die Ohren; die feinen Lackstiefeln aber preßten, daß der arme Gestiefelte laut aufstöhnen mußte. Ist es indessen nicht ein Merkmal des Wohlstandes, wenn der Mensch in die Breite auslegt? und gewöhnt er mit einiger Geduld sich schließlich nicht an alles, selbst an pressende Stiefel? beides wahr! allein, – ach, daß unser heißestes Verlangen doch fast immer zu früh oder zu spät in Erfüllung geht! seit acht Tagen hat der städtische Meister den Bartwuchs nicht geschoren, den üppigen Haarwuchs seit vier Wochen nicht gestutzt! Freund Beyfuß würde willig seine Hand zur Aushilfe geboten haben, aber wo in dieser Hast den Allerweltsmann Beyfuß auftreiben?
Ei nun, was einmal nicht geht, das geht nicht, und ein kluger Kopf wird aus jeder Not eine Tugend zu machen wissen! Die feinsten Pastores fangen alleweile an, ihre Haare lang zu tragen, der Propst von Hartenstein tuts am Ende auch; warum Amtmann Mehlborn also nicht, da er, wenn auch nicht selbst ein Pastor, doch halb und halb der Patron des Pastors ist und die Quatember zu zählen sind, wo er es ganz und gar sein wird? Was aber die Stoppeln im Gesicht anbelangt, so wird Amtmann Mehlborn es gelegentlich einfließen lassen, daß er sich nicht nur zwei zivile Backenbärte, sondern auch einen ritterlichen Schnurrbart stehen läßt, und das wird keine leere Ausflucht sein; Rittersmann Mehlborn begreift sich selber nicht, daß er des kennzeichnenden Schmuckes so lange entraten konnte! Mit außerordentlicher Genugtuung steckt er den Siegelring an, dessen Karneolstein mit einem verschlungenen I. M. und einer Krone, aber leider noch ohne Perlen darüber, das Mittelglied [91] des Zeigefingers erreicht; wer hätte dieses Juwel bemerkt, wenn die weißen Hochzeitshandschuhe noch an die Hand zu bringen gewesen wären? Der Herr Amtmann wird sie in der Hand tragen, vornehm wedelnd, nach Art eines Kavaliers. Es ist ein befriedigtes Lächeln, mit welchem der Herr Amtmann einen letzten Blick in seinen kleinen Handspiegel wirft. Die dicke goldene Erbskette an der silbernen Uhr macht einen nobelen Effekt, das dicke Berlockebündel hüpft und blitzt, daß es eine Lust ist, über der schwarz verhüllten rundlichen Leibesfülle. – Er langt nach seinem Hut und – läßt ihn fallen, ein Stich ist ihm jählings durch das Mark gefahren!
»Fix, Jôhann, fix! Sie sind schon da!« hört er von unten herauf das unverbesserliche Weib rufen, das er noch eben im Geiste »seine Gemahlin« angeredet hat.
In seinem Aufruhr, seiner Hast und der pressenden Fußbekleidung wäre er um ein Haar die steile Bodenstiege hinabgestürzt, und was er unten im Flur zu sehen und zu hören bekommt, ist wahrlich nicht dazu angetan, ihm die Kontenance zurückzugeben. Im Hintergrunde entschlüpft die geistliche Beraterin verstohlen durch die Hoftür – in diesem entscheidungsvollen Moment! O, daß ihr guter Freund im nämlichen Moment ihr nicht Schur um Schur vergelten konnte! – Im Vordergrunde steht seine Gemahlin im kattunenen Alltagsoberrocke, sonder Reverenz noch Handschuhe ihrem Pastor und erst nach diesem dem hohen Gastfreunde die schwielige Hand zum Gruße reichend und ihn in den reinsten Werbenschen Naturlauten willkommen heißend.
»Zum Katholischwerden ists!« sagte Johann Mehlborn; das heißt, er dachte es nur; denn dieser bedeutende Mann wußte, was er seinem Stande, den Ehestand eingeschlossen, schuldig war. Wer verlangt von dem häuslichen Weibe [92] die Bildung des Mannes? Wie das hochzeitliche Gewand den kattunenen Oberrock, wie den etikettewidrigen Händedruck die Reverenz, zu welcher, so tief als in sotanem knappen Gewande tunlich, der stattlich breite Rücken abwärts gezogen wird, so deckt der Wohllaut der männlichen Rede die »kalligraphischen« Schnitzer der Frau. Noch niemals hatte Johann Mehlborn Gelegenheit gehabt, sich so im Zusammenhange vor einer Standesperson auszusprechen. Inständigst war sein Bedauern, dem hochwürdigen Herrn Propst in diesem bescheidenen Amtshause, das er, nämlich Johann Mehlborn, nur ihrem beiderseitigen Herrn Bruder, Exzellenz, zu Gefallen und Vorteil noch nicht geräumt habe, keinen solenneren Empfang bereiten zu können; zuverlässig war seine Beteuerung, daß der hochwürdige Herr Propst mit aller Standesgemäßheit aufgenommen werden würde, wenn er ihm, nämlich Johann Mehlborn, künftighin auf dessen eigenem Rittergute die Ehre seines Besuches vergönnen werde. Wie Honigseim floß der »französisch« gewürzte Vortrag über Johann Mehlborns rote Lippen, wie Musik klang sie in sein eigenes Ohr; in seinem stolzen Haupte reifte während desselben der Entschluß, als Bewerber um den Platz eines ritterschaftlichen Abgeordneten im Provinziallandtage aufzutreten und durch seine leider erst so spät erprobte rednerische Gabe die große, lange schwebende Frage der zu verbreiternden Wagenspur zum endlichen Austrag zu bringen. Als aber von seiten des so standesgemäß Gefeierten der Vortrag nur mit einer stummen Verbeugung gefeiert ward – es schien heute der Tag stummer Verbeugungen –, da wird es jedem natürlichen Menschen einleuchten, daß Johann Mehlborn an der so laut gerühmten oratorischen Kraft des geistlichen Hartenstein bedenklich irre ward.
[93] Und auch im Punkte der feinen Lebensart schien es schwächer mit ihm bestellt, als es von einem Freiherrlich von Hartensteinschen Familiengliede zu erwarten gewesen wäre. Denn was sollte man dazu sagen, daß er, in die gute Stube und auf den Ehrenplatz des klatschrosenroten Kanapees genötigt, auch von dieser Höflichkeit keine Notiz nahm, sondern wie der ordinärste Bauer sich einen Rohrstuhl aus der Ecke holte und sich nicht einmal darauf setzte, nein, nur die Hände auf die Lehne gestützt, stumm wie ein Ölgötze hinter demselben stehen blieb?
Ei nun, mochte er stehen, der kuriose Menschensohn! Ein gebildeter Hauswirt muß Langmut üben. Was er sich aber nunmehr herausnahm, wird der langmütigste Hauswirt sich von dem kuriosesten Menschensohne schwerlich gefallen lassen. Erquickte er sich wohl durch einen Tropfen an der Kollision, die über den Philadelphias aufgetragen stand? Armselig genug war sie; was wahr ist, muß wahr bleiben. Jedoch wer trug die Schuld als die superhelle Pastorsfrau, die eines Mehlborn Gastfreundschaft nach ihrer eigenen Pauvreté taxierte! Gut. Aber durfte von der doch gewiß reputierlichen Mahlzeit, die in der Schlafkammer bereitstand, wohl ein Bissen hereingebracht werden? Bewahre! Als ob man es an Aufzählen, Anpreisen, Nötigen hätte fehlen lassen! Und mir nichts dir nichts, ohne alle Fasson schlug er eines wie das andere ab, schüttelte den Kopf und bat – um ein Glas Wasser. Ein Glas Wasser! nicht der miserabelste Landstreicher hätte in des reichen Johann Mehlborn Hause mit einem Glas Wasser fürliebgenommen, und dieser nobele Anverwandte – –!
»Dieser nobele Anverwandte kann mir gestohlen werden!« dachte der reiche Johann Mehlborn, tat nun auch nicht mehr [94] dergleichen, warf sich in einen Stuhl und hielt seinen Mund. Ein Engel, ach nein, kein Engel, ein höchst unfriedsamer Geist flog durch die gute Stube.
Aber so ungemütlich ihm selbst zumute war, ein friedsamer Geist gab dem guten Pastor Blümel ein, was allenfalls noch geeignet schien, der überhandnehmenden üblen Laune zu steuern. Er setzte sich auf den Ehrenplatz, ließ sich ein Glas Wein einschenken, stieß mit dem Herrn Amtmann an auf sein Wohl, trank es aus ohne allen Appetit und sann – mit dem stärksten Verlangen nach seiner Pfeife – auf einen ablenkenden Unterhaltungsstoff, zu welchem er sein persönliches Anliegen nicht geeignet erachtete.
Noch hatte er denselben indessen nicht gefunden, als die Hausfrau in die stille gute Stube zurückkehrte, ihrem Gaste das gewünschte Glas Wasser reichend, das sie frisch am Brunnen geschöpft hatte. Er dankte und trank; sie bat ihn, ihr die Ruhe nicht mitzunehmen. Er ließ sich an ihrer Seite nieder, und nun brach sie das Eis, indem sie, in ihrer so arg- wie harmlosen Weise, sich nach dem Befinden der gnädigen Frau und der lieben kleinen Familie erkundigte.
Die gute Frau schien den Schlüssel zu ihres schweigsamen Gastes Herz und Lippen gefunden zu haben; denn er gab freundlich den Bescheid, daß es seiner Ottilie recht wohl gehe und daß Gott sein Haus mit drei Kindern gesegnet habe, einem Sohn, Martin, –«
»Wie unser Herr Doktor Luther!« fiel Frau Rosine ein.
»Nach ihm, Frau Amtmann, wie es einem lutherischen Pfarrer für seinen Erstgeborenen ziemt. Die beiden jüngeren sind Töchter.«
»Wie heißen denn die lieben kleinen Fräulein, gnädiger Herr?«
»Lydia und Priscilla, Frau Amtmann.«
[95] »Die Namen habe ich aber noch niemals gehört. Wohl Freundschaftsnamen, gnädiger Herr?«
»Evangelische Namen, treue Bekennerinnennamen,« erklärte der Propst, und sein ungetreuer Amtsbruder hörte, mit Recht oder Unrecht, zum zweiten Male eine Anzüglichkeit aus der Erklärung heraus.
»Mein seliger Sohn hatte auch einen schönen frommen Namen. Er hieß Johannes, gnädiger Herr,« flüsterte die arme Mutter, und ihre stillen Augen blickten tränengefüllt gen Himmel.
Auch Joachim von Hartenstein schlug die Augen groß in die Höhe, sein bleiches Gesicht wurde noch einen Schatten bleicher; er stemmte die Hand gegen die Brust, und seine Lippen zuckten wie von verbissenem Schmerz. Zum zweiten Male flog ein Engel durch die gute Stube, wenn es nicht der Geist alter, blutiger Stunden gewesen ist.
Pastor Blümel räusperte sich, was seine Freundin an ein Wort des Dankes, das sie ihm schuldig sei, gemahnte.
»Ich freue mich recht auf den Sonntag,« sagte sie, indem sie ihm über den Tisch hinüber die Hand reichte. »Wie ein Kind freue ich mich, mein lieber Herr Pastor. Und daß das kleine Herzchen halbwegs nach mir heißen soll, und daß – –«
Der Pastor Blümel drückte bedeutungsvoll ihre Hand, gab auch mit den Augen einen Wink, nicht fortzufahren; die ehrliche Seele hatte jedoch in seiner Hanna Schlangenschule allzu geringe Fortschritte gemacht, um diese Warnungszeichen zu verstehen. »Und daß,« setzte sie hinzu, »daß auch mein Jôh – – mein guter Mann, wollte ich sagen, die Ehre haben soll.« –
Der gute Mann war froh, bei schicklicher Gelegenheit das vornehme Schweigen brechen zu dürfen. »Was für [96] eine Ehre?« fragte er. »Bin ich auch mit gebeten, als Fr – –, als Speisegevatter, meine ich, he? Schön Dank, Pastorchen. Ich bin dabei. Schön Dank!«
»Behüte, Vater,« entgegnete die Amtmännin, ihr Pastor mochte blinken, soviel er wollte. »Behüte, nicht bloß so nebenher. Stehen sollst du, selber stehen bei dem armen kleinen Frey.«
»Sollte mir fehlen!« brummt der Amtmann, dem der alte Mehlborn bedenklich in den ritterlichen Nacken zu schlagen begann. »Komm mir doch nicht mit deiner alten Litanei. Der Herr Pastor weiß es ja, ich stehe nicht, ein für allemal nicht bei – –«
»Aber, Jôhann, bei dieser ehrenvollen Gelegenheit – –«
»Schöne Gelegenheit! Schöne Ehre, den zehnten Jungen von einem Bruder Saufaus übers Wasser zu halten! Schönes Exempel, für zehn Kinder Bettelpatenbriefe an honette Leute auszutragen! Und tuts einer beim zehnten, muß ers beim neunten auch tun, und dann beim achten, beim siebenten, am Ende wird ein Observatorium draus, und der herzallerliebste Allerweltspate kann selber Bettelpatenbriefe austragen gehen.«
Es wäre jetzt dringend Zeit gewesen, mit der Eröffnung vom Königsgevatter einzuschreiten. Aber die gute Freundin hatte sich besonnen, daß sie ihrem Pastor damit nicht vorgreifen dürfe, und dem Pastor widerstand sie jetzt erst recht. Er war sich kaum deutlich bewußt, aus welchem ersten oder letzten Grunde. Witterte er erneuten Streit mit dem geistlichen Zeugen? War es die Entrüstung über seines Beichtsohnes erbarmungsloses Gebaren, heute doppelt empfindlich vor diesem streng richtenden Zeugen? In der Stille entschlossen, die Ehre der königlichen Stellvertretung einem Würdigeren als diesem hartherzigen reichen Manne zuzuwenden, [97] begnügte er sich, ihm zu sagen, daß er die geziemende Erwiderung auf eine schicklichere Stunde verschiebe.
Leider jedoch ließen Rede und Gegenrede sich nicht mehr aufhalten. Herr von Hartenstein war auf den beregten Fall aufmerksam geworden und seine Nachbarin in vollem Zuge, ihm die gewünschte Aufklärung zu geben. Mit einer Geläufigkeit, welche bei der stillen Seele nur erklärt werden kann durch die Freude, mit der ein guter Mensch des anderen Loblied singt, Tränen der Rührung und des Freundesstolzes in den Augen, erzählte sie von dem Trauerfall im Hirtenhause, von des Herrn Pastors erbaulichem Grabsermon und der Wohltat der lieben Frau Pastorin. Wie sie das verwaiste Kind an das Mutterherz und sogar an die Mutterbrust genommen habe, wie der zehnte Sohn und die siebente Tochter in der Wiege nebeneinanderlägen, als wären sie ein Zwillingspärchen, und wie sie, die schon jetzt in aller Unschuld, nicht anders denn zwei Engelchen, miteinander in der Badewanne säßen, sie gleicherweise auch nächsten Sonntag miteinander im Bade der heiligen Taufe zu Christen geweiht werden sollten.
Der Gastfreund hatte ihr zugehört mit gefälligerem Anteil als der Ehegatte, der irgend etwas Unverständliches in seinen Bart brummte. Jetzt richtete der erstere an den letzteren die Frage:
»Verstehe ich Sie recht, Herr Amtmann, so entziehen Sie sich einer der wesentlichsten Christenpflichten aus dem Grunde, daß in Ihrer Gemeinde wie in etlichen anderen mir bekannten die Unsitte waltet, die Taufzeugen an Stelle der Eltern das Kirchenopfer tragen zu lassen?«
»Na, das fehlte gerade noch!« rief der alte Mehlborn und lachte dabei mit so gröblichem Spott, daß sein vornehmer Widerpart schier entsetzt zusammenzuckte. »Auch [98] noch die Spesen den Gevattern auf den Hals gewälzt! Daß das Stehen egal ein Muß würde,notabene bloß für den, der was zu spesen hat, und daß zu guter Letzt der rückständige Herr Taufzeuge in den Turm spazieren müßte, derweile der Mosjö Lump von Vater sein Fleisch und Blut anstatt des Zinshahnes in die Pfarre trüge. Quod non, Herr Hochwürden, so dumm ist die Werbener Gemeinde nicht. Verlangts nun einmal die Humorität, daß dem Kindersegen Tor und Tür geöffnet und dahero, wie unser Herr Pastor es beliebt, die Taufgebühr erlassen wird – –«
»Die Taufgebühr darf auch den ärmsten Eltern nun und nimmer erlassen werden,« unterbrach ihn der Propst mit einem strengen Seitenblick auf seinen Amtsbruder. »Die Christenliebe mag der Menschennot auf anderen Wegen entgegenwirken. Jedwede unserer Gebühren ist ein Opferzoll, welchen der große Reformator aus der alten Kirche in die neue gerettet hat.«
»Ein gemein Almosen, das man williglich gäbe und austeilete unter die Armen nach dem Exempel Sankt Pauli,« zitierte Pastor Blümel mit ruhiger Würde, und der standfeste Lutheraner mochte das Zitat wohl gültig finden, da er kein anderes dagegen anführte. Aus seiner persönlichen Amtspraxis war bekannt, daß er die Stolgebühren seiner reichen Gemeinde zwar nicht bloß als ein freiwilliges Almosen in Empfang nehme, daß er aber das, was er mit der rechten Hand gefaßt, alsobald mit der linken in seine Armenbörse lege und daß diese Börse lose Schnüre habe.
»Wenn demnach,« so wendete er sich von dem geistlichen Widerpart zu dem weltlichen zurück, »das Gottesopfer es nicht ist, das Ihnen widersteht, und ich nicht annehmen kann, daß der heilige Akt an sich es ist, da Sie ja in höher [99] gestellten Kreisen sich demselben nicht zu entziehen scheinen, so ist mir unerfindlich, was – –«
»Was mir bei Betteltaufen widersteht?« unterbrach ihn nicht der Ritter, sondern der Bauer Johann Mehlborn im allertrautesten Werbenschen Deutsch. »Na, sehen Sie, Herr Hochwürden, das Menschenopfer ist es, das, was man ein Beutelmassakrieren nennt, um mich noch christlich auszudrücken. Höher hinauf, ei freilich, Geldkosten machts da auch; ganz gehörige Kosten: Gevatterkutsche, Gevatterbukett, Gevatterhandschuhe, ein feiner Präsentierteller für die Frau Gevatterin, die schweren Douceurs noch gar nicht in Anschlag gebracht. Aber es bleibt unter der Freundschaft, man hat seine Ehre und seinen Spaß davon, dem Amen folgt ein Traktament, und damit hat die Geschichte ein Ende. Konträr bei solcher Lumpenbagage, da fängt die Drangsalei nach dem Amen erst an. Als da ist: Eingebinde, niemalen schwer genug; soundso viel ins Becken für den Küster, soundso viel der Hebamme in die Hand. Was geht mir, Johann Mehlborn, die Hebamme an? Anjetzo: die Suppen für die Gevattermutter, sechs Wochen lang, und die Altgevattern desgleichen; den Topf gehaufte voll, daß die ganze wertgeschätzte Familie während des Wochenbettes hübsch satt wird. Anjetzo: Patenpräsent am ersten Geburtstag und an jedem kommenden von neuem bis in Methusalems Alter hinein; Weihnachtens ein Wecken; Auslösung am Kindeltage; was Blankes für den Neujahrskarmen; Kleidasche zum ersten Abendmahl; Geschenk zur Hochzeit, zur Großpatenschaft; kurz und gut: eine Schraube ohne Ende, eine quasi vom hohen Herrgott eingesetzte Sakriererei. Du hast was, heißts, und ich habe nichts; du bist mein Herr Pate, folglich mußt du mich füttern, mich anziehen, mich was lernen lassen; mußt für mich gutsagen, [100] mir borgen, mir helfen und immer wieder helfen. Sela.«
Der erzürnte Bauer schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch, daß Gläser und Flaschen aneinanderklirrten; Mutter Rosine wimmerte, Pastor Blümel blickte ernst vor sich hin, Herr von Hartenstein zog die Lippen, ob es nun Ekel bedeutete oder bloß ein Lächeln, so tief hinab, als Lippen sich ziehen lassen. Dann aber äußerte er mit strengem Ton: derlei weltliche Verquickung schädige die Würde des Sakramentes und müsse ihr von berufener Seite durch Lehre und Beispiel gesteuert werden. Der Taufzeuge sei bewußter Bürge für des Täuflings unbewußtes Christengelübde; er habe darauf zu halten, daß auch kein Jota desselben in seiner geistigen Zucht verkümmert werde. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die leibliche Fürsorge, das weltliche Fortkommen sei Sache der Familie, eventuell der Gemeinde, welcher es, insofern sie wohl geführet werde, an gutgewillten Christenbrüdern mit offenem Herzen und offener Hand nicht fehlen werde; wobei jedoch in erster Ordnung darauf zu achten sei, daß der Pflegling auf seinem natürlichen Grund und Boden erwachse, damit die Wohltat sich nicht in eine Wehetat verwandele.
»Man soll eines Kindes Wiege nicht verrücken,« fuhr er darauf, aus schließlich zu dem Pfarrer gewendet, fort. »Das aber um so weniger, wenn, wie im gegenwärtigen Falle, außer dem urväterlichen Sündenerbe, aus dessen Joche uns alle nur die Gnade erlöset, außer dem Erbe elementarer Not, unter dessen Joche, nach göttlicher Ordnung, die ungeheuere Mehrzahl der Menschheit im Schweiße ihres Angesichts seufzt und seufzen wird bis an das Ende der Tage, auch noch ein besonderes Erbteil bösen Blutes einem Kinde eingeimpft ist und je mehr und mehr zu wuchern droht. Die [101] Sünde der Väter soll heimgesucht werden bis in das dritte und vierte Glied; oder, falls Ihnen dieser Wortlaut antiquiert dünken sollte, Herr Prediger: auch das Laster entwickelt sich von Geschlecht zu Geschlecht, wie die Tugend, wie die Sitte, wie alle sogenannte Kultur. Der Großvater dieses Knaben war vielleicht nur ein Bärenhäuter; der Vater ward zum Trunkenbold. Der Sohn, im Taumel gezeugt, der elementaren Arbeitsstufe, in die er hineingeboren ward, entrückt, für die höhere, auf welcher er erwächst, unzulänglich beanlagt, ein heimliches Gift in seinen Adern, wird als Tor und kann als Verbrecher enden. Gefährlicher als Sünde tun, wirkt Sünde gutheißen, und der vor allen, welcher einer Gemeinschaft als Hüter göttlicher Zucht und Ordnung vorzustehen berufen ist, soll es unterlassen, das warnende Beispiel der Sündenfolge zu vertuschen. Ich nehme den Einwand, den Sie mir machen wollen, Herr Prediger, von Ihren Lippen. Jawohl, im Reiche Gottes, da sind wir Gleiche. In ihm, und nur in ihm, da gibt es wohl Stufen, aber keine Schranken; da konnte der niedrigste Sprosse des niedersten Volkes, konnte selber der sündige Zöllner noch zum Apostel werden. Und solch ein Apostel, von Gottes Gnadenfinger berührt, solch ein Erwählter war auch der arme Bergmannssohn, auf dessen Namen wir geweiht sind. Die abgelebte Schule des Klosters, in der er selbst gebildet worden war, zu sprengen, die Christenheit in ihre natürliche Ordnung zurückzuführen, die verweltlichte Kirche zu einem sichtbaren Gottesreiche wieder aufzurichten, das war der hehre Plan, dessen Bau die Nachfahren in Trümmer schlagen, und von dem es wie ein scharfer Splitter in das Auge eines Getreuen dringt, wenn er das erste Sakrament gleich einem Markttrödel abschätzen sieht.«
[102] Im Hofe schmetterte ein Posthorn. Der Propst erhob sich; der Pfarrer auch. Seltsame Widersprüche rangen in des friedlichen Mannes Brust: die Liebe, die ihm Glaube war, und Zorn, ja Feindseligkeit gegen zwei Menschen, welche er seit Jahren im gemeinen wie im erhabenen Sinne Freunde genannt hatte, drängten ihn zum Protest gegen des einen schnöde, des anderen grausame Konsequenzen. Hatte er bis zur Stunde einen mutterlosen Säugling zu zeitweiser Obhut in sein Haus genommen, in diesen Minuten der Leidenschaft nahm er ihn an sein Herz als eines jener Stiefkinder der Natur, an welchem er den Beweis adelnder Menschenliebe zu führen habe. Und so sagte er denn mit gehobenem Haupt und der Klangfarbe der Ironie, die wahrlich in seinem Gemüte ein Fremdling war, und trotzdem Wort um Wort sich bis zur heimlichen Schadenfreude steigerte:
»Sie würden mich wohl kaum so sträflicher Fahrlässigkeit in meinem Amt, so schwerer Irrtümer in meinem Glauben und Handeln vor Zeugenohren bezichtigt haben, Hochwürden, wenn Sie nicht mindestens den Versuch einer Rechtfertigung meinerseits erwartet hätten, wäre es auch nur, um Ihrer mächtigen Logik mit meiner schwächlichen neue Beweismittel zuzuführen. Wohlan, ich wage den Versuch: vor diesen Zeugenohren selbstverständlich auf beregten Einzelfall beschränkt. Ist es ein Irrtum, das Erbteil, welches uns der Erlöser mit seinem Leben und Sterben erworben hat, für wirksamer zu halten als das, welches uns im Blute des ersten und vielleicht des letzten Vaters überkommen ist, so bin ich dieses Irrtums schuldig, indem ich mich vermesse, einen Erben väterlicher Sündhaftigkeit aus seinem Wurzellande in das meine zu verpflanzen und unter der Zucht meines Hauses, wenn auch nur zu elementarer [103] Arbeit und Not, aber, so Gott will, zu einem Erben seines Reiches heranzubilden. Und fernerhin: ist es Schädigung eines sakramentalen Weiheaktes, wenn brüderliche Liebeswerke aus ihm gefolgert werden, so bin ich in hohem Maße dieser Schädigung schuldig, denn ich habe meiner Gemeinde bei jedem amtlichen Anlaß das Steuern und Stillen menschlicher Not als christliche Tugend und Sitte an das Herz gelegt; ja, ich war noch in dieser Stunde gewillt, einem Gliede meiner Gemeinde das Gemüt für jenes Erbteil der Barmherzigkeit zu erwecken und seinen rückwirkenden Segen ihm zuzuwenden. In letzterem Betracht und durchaus ohne Vorbehalt bekenne ich mich endlich schuldig einer Irrung, deren Konsequenz auch mir, Hochwürden, und mir zumeist, wie ein scharfer Splitter in das Auge gesprungen ist; eines sträflichen Mangels von Gott gebotener Klugheit in der Berechnung des Herzens, das ich für jene Zuwendung empfänglich und darum ihrer würdig achtete. Aus diesem Grunde, Herr Amtmann, ziehe ich mein Gesuch an Sie zurück, noch bevor ich es gestellt. Es fehlt – Gott Preis! – in meiner Gemeinde weder an gläubigen Christen noch an gutwilligen Menschenfreunden, welche für die Waise des armen Hirtenweibes das weihende Gelübde mit allen barmherzigen Folgerungen nicht scheuen und daher ein Anrecht haben, es im Namen des ersten Gottes- und Menschenfreundes in unserem Vaterlande auszusprechen. Unser teuerer König hat sich selbst geehrt, indem er den zehnten Sohn eines der ärmsten seiner Untertanen mit seiner Patenschaft beehrte.«
Der Redner schwieg, und seine drei Hörer schwiegen auch; der eine starr mit offnem Munde, die andere schluchzend mit vor die Augen gehaltener Schürze; der dritte lächelnd. Aber es war nahezu ein amtsbrüderliches Lächeln, mit [104] welchem der standfeste Lutheraner sich von dem biegsamen Unionisten in der Stille verabschiedete. Der eiferartige Widerspruch schien ihn priesterlicher angemutet zu haben als vorhin das ideale Schlaraffenland.
»Aber Mann – Blümel – Pastor – Freund!« stieß endlich Johann Mehlborn hervor, indem er seinen Seelenhirten mit beiden Armen schüttelte, als wäre er ein Apfelbaum. »Im Namen Seiner Majestät! Königlicher Prokurist! Allerhöchster Mitgevatter! Und das sagen Sie erst zu guter Letzt?«
»Hätten Sie Ihrem irdischen Lehnsherrn zu Gefallen tun sollen, Herr Amtmann, was Sie dem himmlischen verweigerten!« entgegnete Pastor Blümel, drückte Frau Rosinen die Hand und folgte Herrn von Hartenstein, der sich mit leichtem Gruße empfohlen hatte.
Mit hastigen Schritten schlug Konstantin Blümel den Heimweg ein. So hoch hatte er sein Haupt nicht getragen, so stolz seine Brust sich nicht geschwellt, seitdem sein Kommandeur das Eiserne Kreuz an dieselbe geheftet. Ja, solch eine Kampfesstunde macht frisches Blut!
Und doch, warum ging er mit Siegerschritten? Daß er ein verworfenes Stiefkind der Natur als das seine angenommen – war das ein Triumph? Vor zwei Stunden würde er das gleiche getan, würde, hätte er es durchzuführen vermocht, sämtliche Waisen seiner Gemeinde angenommen haben – ohne jeglichen Tugendstolz. Daß er einen betörten Mann vor Zeugenohren mit einer Hohnrede gegeißelt? Hatte er den alten Mehlborn nicht gekannt? Hatte er nicht schlechthin gelogen mit der Entschuldigung, daß er das Herz ihm zu öffnen gehofft? Ja, hatte er nicht geradezu mit Schlangenklugheit auf seine Torheit spekuliert? Daß er [105] einem tapferen geistlichen Obersten tapfer Widerpart gehalten? – Das also war es, – allein das!
Unwillkürlich mäßigte er seinen Schritt. Was schied ihn plötzlich von dem Manne, den er viele Jahre freudig und dankbar verehrt hatte? Was machte ihn zu seinem Gegner? Hatte jener eine Tat getan, ein Wort geredet, das der reformatorische Held, auf welchen sie beide geschworen, verleugnet haben würde? Widersprach Konstantin Blümels eigene Satzung der von den durch Gott gesetzten Erdenschranken, von dem Erbe der Sünde in unserem Blut, von dem kaum merkbaren Fortschritt der sittlichen Kultur? Wie oft hatte er denn das Wagnis, eines Kindes Wiege zu verrücken, gelingen sehen?
Vor der offenen Kirchtür hielter still. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf die schwarzen Priesterbilder am Altar; die leere weiße Stelle glänzte wie eine Silberscheibe. Wäre er in Wahrheit nicht mehr würdig, diese Stelle einzunehmen? Wäre er in Wahrheit ein Abtrünniger, weil – –
Hastende Schritte, ein gekeuchtes »Halt, halt!« unterbrachen die Prüfung. Der arme Quartalsritter! Wie der Schweiß von seiner Stirn tropfte, wie er pustete im knappen, goldknopfigen Hochzeitsfrack! Wie er Lippen und Augen zusammenkniff, sooft die zierlichen Lackstiefel auf ein Steinchen stießen!
»Aber, Pastor, Pastor!« schrie er schon von weitem. »So nehmt doch nur Räson an, alter Freund! Kann denn einem Menschen nicht einmal was Menschliches passieren? Ich war in der Bosheit, Pastor. Hol der Henker diesen hochmütigen Narren mit seiner verrückten Wiege und seinen Schranken und Stufen! Der pure Tusch! Auf mich gings, Blümel, egal auf mich. Na, drei Kreuze hinter dem Patron! Ich stehe, Pastor! Ich stehe aus gutem Herzen, und bleibt[106] Ihr trotzig, so stehe ich mit Gewalt. Aber, so wahr ich Johann Mehlborn heiße: ich stehe!«
Pastor Blümel war kein hartköpfiger Christ; er pflegte dem reuigen Sünder die Hand entgegenzustrecken, und Neinsagen ist ihm keiner Zeit eine leichte Sache gewesen. Dennoch würde er in diesem außerordentlichen Falle schwerlich nachgegeben haben, hätte er sein eigenes Gewissen völlig rein gefühlt, – und wäre nicht seine Hanna von der Gartenpforte aus des Sturmes und Abpralls Zeugin gewesen und herbeigeeilt, die Mittlerschaft zu übernehmen. Mit dem Handgelübde, auch ohne französische Stunde, den Exhirten Frey gegen braven Lohn in seinem Schacht arbeiten zu lassen; mit dem fernerweitigen Handgelübde, in Zukunft, wenn gewünscht, der Patenpflicht samt Pertinenzien bei jedem Werbener Frönerkinde gerecht zu werden, erkaufte der Rittergutsbesitzer Mehlborn die Ehre, kommenden Sonntag am Tauftisch der Werbener Kirche und für ewige Zeiten in deren Taufregister als Stellvertreter Seiner Majestät von Preußen zu paradieren. Die Versicherung: »Wen Johann Mehlborn über das Taufwasser gehalten hat, den wird er auch bei gemeinen Gelegenheiten über Wasser halten,« gab er in seiner Herzensfreude ungefordert noch drauf und drein.
Ach, er ahnete nicht, der wohlgemute Ritter, daß er mit dieser Ehre die höchste Stufe zum Throne erklommen haben sollte und daß er seiner Magnatenlaune zum letzten Male volles Genügen getan; aus welchem Grunde denn auch diesem Tage ein ausführliches Kapitel in der Geschichte seines Stiefpaten bewilligt werden mußte. Denn mit dem Besuche des geistlichen Hartenstein war in seine stolze Brust ein Keimkorn mißtrauischer Abneigung gegen eine Familie, um deren Gunst er bis dahin so eifrig geworben hatte,[107] eingesenkt worden. Und das Korn sproßte und bestockte sich. Als seine Brigitte das nächste Mal ein Schuldenregister ihres flottlebigen Gatten, ohne gleichzeitigen Kontrakt für den Verkauf des Gutes, einreichte, schlug er die Tilgung rundweg ab.
In Konstantin Blümels Seele dahingegen hatten nach einer schlummerlosen Nacht die stolzen Wellen sich gelegt, und Joachim von Hartenstein nahm als Mensch, als Patriot und Priester fast uneingeschränkt den bisherigen Raum in seinem Herzen wieder ein. In seinem Tageskalender, welcher diesen Aufzeichnungen vielfach zur Vorlage dient, steht unter jenem Datum geschrieben:
»Alles Unheil ist werdendes Heil. Ein absoluter Trieb nach Erhaltung wirkt daher unheilvoll, weil er sich feindlich gegen das Werdende verhält. Mit Recht ist in verwandtem Sinne behauptet worden, ›daß sogar ein absoluter Trieb nach Vollkommenheit eine Krankheit sei.‹ Hätten vollkommene Menschengeschlechter eines Heilands bedurft? Und bedürfte seiner ein vollkommener Mensch – wenn es einen gäbe? Bei alledem: welch ein Zauber liegt doch in der Macht eines Glaubens, auch wenn wir ihn nicht verstehen und selbst wenn er zum Fanatismus wird, den wir auf jedem anderen Gebiet als dem göttlichen hassen.«
Bei dem Verrücken der Wiege und der Liebesprobe an einem Stiefkinde der Natur blieb es selbstverständlich, und bei dem gemeinsamen Tauffest blieb es auch. Nur das Programm für dieses erlitt eine kleine Abänderung insofern, daß auch die Täuflingin einen Vizepaten erhielt und der Täufling ihrer sogar zwei. Es hatte sich nämlich der werte Amtsbruder Kurze in Bielitz am Tage zuvor den Knöchel verstaucht und schickte als Stellvertreter seinen Sohn. Der Feierlichkeit tat dieser Wechsel indessen keinen Eintrag, und[108] der darauffolgenden Fröhlichkeit kam er nur zugute, da der ehrwürdige alte Herr Amtsbruder als Gevatter für Gevatterin Luischen lange nicht so gepaßt haben würde wie der junge, muntere Herr Kandidat. Das wunderbare Wasser wirkte in den jugendlichen Herzen einen bis dahin schlummernden sympathischen Zug, und das obligate Gevatterküßchen zauberte auf die jugendlichen Wangen einen Rosenflor, welcher das Herz der Taufmutter verheißungsfroh klopfen ließ.
Frau Hanna Blümels Taufkuchen war noch niemals so hoch aufgegangen wie bei diesem Doppelfeste, und die Erdbeerbowle, welche sie aus den Gewächsen ihres Gartens und Weinbergs gebraut, war noch keinem ihrer Herrn Gevattern so angenehm prickelnd wie heute Amtmann Mehlborn zu Kopfe gestiegen.
Als majestätischer »Prokurist« trug er, selbstredend, den goldknopfigen Frack, dem ein städtischer Meister unter den Armen ein Stück bequemlich eingesetzt hatte. Ebenso selbstredend würde für einen bloßen Prokuristen das Eingebinde eitel Verschwendung gewesen sein. Aber die Gesundheit der Täuflinge stand ihm zu und wurde glorreich von ihm ausgebracht, nach dem das erste Glas vom Taufvater auf das Wohl des Allerhöchsten Gevattersmannes geleert worden war. Als spät am Abend der Vizegevatter der Taufmutter zum Abschied die Hand drückte, rief er in seinem kräftigsten Baß: »Ich will nicht Johann Mehlborn heißen, wenn dieser Königspate es nicht einmal bis zum Verwalter auf einem von Johann Mehlborns Rittergütern bringt!«
So großartig war die Perspektive des zehnten Hutmannssohnes schon an dem Tage, da er einen Namen erhalten hatte!
Dieser Name war ein gebotenes Paten- und zwiefältiges [109] Muttererbe. Da der Freysche Nachwuchs jedoch bereits durch einen Friede und durch einen Hannes vertreten war, mußte dem »Friedrich Hans« ein Rufname beigefügt werden, und entschied sich Pastor Blümel für den einigermaßen sonderbar, aber kennzeichnend lautenden Dezimus, der auch in der Gemeinde, da er an das schmählich ausgetauschte Dezemhuhn erinnerte, lange nicht so »preußisch« gefunden wurde wie der der Septima, welche, geschwisterlicher Analogie halber, der Rose Konstantia angehängt ward. Kantor Beyfuß äußerte sogar bedenklich: »Wenns nur nicht eine böse Sieben bedeutet!«
Und so schlummerten und strampelten denn Rose und Dezimus als junge Christen nebeneinander unter dem Wiegenhimmel, und weil sie mit ihrem Kosenamen Ma und Mus hießen, waren die ersten Laute, die sie lallen lernten, Mus und Ma.
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