Henriette Frölich
Virginia
oder
Die Kolonie von Kentucky
Mehr Wahrheit als Dichtung

[5] An die Leser

Anders malt mit ihrem Zauberbilde,
Anders sich in jedem Kopf die Welt.
An dem Indusstrande und am Belt
Schmücken andre Blumen die Gefilde.
Andre Regung bringt der Frühlingsmorgen,
Andere die düstre Winternacht.
Was der Dichter, scheinbar frei, gedacht,
Mußte oft von der Umgebung borgen.
Zürnt ihr mir? Daß ich ein Bild gewählet
Aus der Unglücksjahre wüstem Drang?
Wo der Nebel mit dem Lichte rang,
Mit der Wahrheit Irrtum sich vermählet?
Zürnet nicht, ich hab es nicht erfunden,
Nur empfangen von der Außenwelt
Und, zur Schau, im Rahmen aufgestellt,
In der Muße launevollen Stunden.
Auch die Heldin wollet mir nicht schelten,
Die ein ahndungsvoller Tag gebar
Und gespenst'ge Bilder der Gefahr
Hingescheucht zu fernen fremden Welten.
Wo sie irrte, fand sie viel Gespielen
In der Zeiten dunklem Labyrinth.
Doch ihr Wahn, er war der Flammen Kind,
Welche in der Menschheit Glorie spielen.
[5]
Und sie flieht der Selbstsucht harte Bande,
Ihre Wahrheit flieht die Heuchelei,
Ihren Hochsinn, ihre zarte Treu'
Rettend in dem fernen Friedenslande.
Sendet ihr im frischen Morgenwinde
Mild den Wunsch, der euch den Busen dehnt,
Daß sie, was ihr alle sucht und sehnt,
Das verlorne Eden, wiederfinde.

[6][9]

Erster Teil

Virginia an Adele

Am Bord des »Washington«.

Im Hafen von Marseille, den 20. August 1814


Wie wirst Du erschrocken sein, arme Adele, als Du mein Zimmer leer fandest? Wie verstohlen und mit immer steigender Angst wirst Du Dich nach mir erkundigt haben, fast mehr fürchtend, meine Spur zu finden als sie zu verlieren. Glaube mir, diese Vorstellung hat mich sehr gequält. Gern hätte ich Dir mein Vorhaben vertraut. Es wäre mir so süß gewesen, mich noch einmal scheidend an die Brust zu legen, an der ich oftmals meine stummen Tränen barg! Aber wie durft ich wagen, die Last dieses Geheimnisses auf Deine zarte Seele zu wälzen. Woher hättest Du die Fassung genommen, Deiner Mutter das gewöhnliche, kindlich fröhliche Mädchen zu zeigen? oder mit Unbefangenheit dem Späherblicke Deines Vaters zu begegnen? Nein, ich konnte Dir diese Angst nicht ersparen, ich glaube vielmehr, ich habe sie abgekürzt. Während Du sorglos schliefest, dann ahndetest, hofftest, zweifeltest, trennten uns schon Berge und Täler; ach! und wenn Du diesen Brief erhältst, liegt das Weltmeer zwischen uns, und ich bin außer der Gewalt der Menschen, nur in der Gewalt Gottes und seiner Elemente. Ihm, dem Allmächtigen, übergebe ich mich; nur der Willkür der Menschen widerstrebt mein Herz, es hat zuviel unter ihren rohen Händen gelitten. Ihre triumphierenden Blicke könnten mich bis ins Grab treiben. Triumphierend? worüber denn? War's ihr Verdienst? O nein! Ihre Schlechtigkeit, ihre [9] Ränke haben wohl mitgewirkt, dessen mögen sie sich nicht überheben. Aber auch die Schlechtigkeit ihrer Gegner, die Selbstsucht aller, zufällige Ereignisse – was weiß ich? Am Ende Gott. Wohl, wohl! Ohne seine Zulassung geschieht nichts. Aber warum er es zuläßt? wozu? Da liegt's. Mit der Beantwortung sind die meisten so fertig da, als habe der Ewige mit ihnen darüber beratschlagt, und nur wenige fühlen es lebendig, daß Irren das gemeine Los der Sterblichen ist, daß das Warum vielleicht erst halb in künftigen Jahrhunderten, ganz erst in der Ewigkeit begriffen wird. Soviel aber ist mir Armen klar, daß alles dies nimmermehr geschah, damit die P... s und O... s wieder in den Vorsälen der Bourboniden glänzen möchten oder die M... s und R... s auf ihren ehemaligen Schlössern wieder schwelgen und Bauern quälen könnten. Noch viel weniger, damit die Güter der Montorins und Polignys durch die Hände Deiner einfachen Virginia und des zierlichen Louis vermählt würden. Vergib mir, teure Adele! er ist Dein Bruder; aber hat er Dein Herz? Und wenn selbst – nimmer, nimmer! Und wohnte auch in meiner Seele kein fremdes Bild – nimmer! nimmer! Er ist nicht der Sohn meines Vaterlandes, wie wollte er mein Gefühl verstehen, wie das schonen können, was er verdammt? O mein armes verratenes, zerrissenes, verlassenes Vaterland! auch Virginia muß dich verlassen, mit blutendem Herzen verlassen. Wäre sie ein Mann, sie würde bleiben und kämpfen; vielleicht könnte sie dir noch etwas nützen, und wär's auch nur mit ihrem Blute. Aber ein Weib, ein unterjochtes Weib? Qualvolles, nutzloses Leben; dazustehen im Kampf der Parteien, beobachtet in jeder Miene, gemißhandelt um jeder unfreiwilligen Träne, beargwohnt um jedes Wort, am meisten beim duldenden Schweigen! Nein, Vaterland, ich muß dich verlassen! Schweigen könnte ich. Aber nein, ich soll reden, reden in ihrem Sinne. Nicht genug. Eine Bekehrungsgeschichte meines Innern müßte ich erlügen, verdammend anklagen meine angebornen Gefühle, [10] abschwörend dartun die ererbten Ansichten meines trefflichen Vaters. Unglückliches Weib! Der Mann kämpft für seine Meinung und macht sich Bahn; das Weib soll keine Meinung haben. – Wie oft, fröhliche Adele, habe ich Dich beneidet, daß Deine Gedanken nur den engen Raum zwischen der letzten Oper und dem nächsten Ball durchliefen; und doch strafte mich sogleich ein (wie mir schien) besseres Selbstgefühl. Du begriffst mich nicht, wenn Du meine Wange erblassen, mein Auge weinen sahst; doch liebten wir uns so herzlich, Du mit dem kindlich unbekümmerten Gemüt, ich mit der Erkenntnis, daß nur zufällige Umstände uns so verschieden gebildet und Liebe und Güte selbst das Ungleichste binden können. Oh, meine Adele! noch immer seh ich Dich, als Du zum erstenmal übers Meer herübergekommen warst und an der Hand Deiner Mutter in unser Zimmer tratest, ein freundliches, engelschönes Kind, kaum acht Jahre alt. Wie flog mein Herz Dir da entgegen, der jüngeren lieblichen Schwester; wie dankte ich dem Vater, daß er Euch durch seinen rastlosen Eifer die Rückkehr bewirkt. Oh, wäret Ihr doch nimmer wieder geschieden! Dann hättest Du mich ganz verstehen lernen mit zunehmenden Jahren, und spätere Ereignisse wären Dir nicht unbekannt. So aber riß die Lebenswoge uns schon wieder auseinander, als Du kaum das zwölfte Jahr vollendet, und dem seltenen, gefährlichen Briefwechsel war nichts Bedeutendes zu vertrauen, weniger noch dem stets beobachteten Gespräch in den letzten Monden unserer Wiedervereinigung. Und doch treibt mich ein unwiderstehlicher Drang, Dir mein ganzes Innerstes zu zeigen. Ich folge ihm; die Einsamkeit einer Seereise gibt mir volle Muße.

Ja, eine Seereise. Und weit, sehr weit. In das Land der Freiheit schiffe ich hinüber. Wo mein Vater als Jüngling kämpfte unter dem Panier der Freiheit, wo mein hochherziger Oheim, für sie blutend, starb, da ist mein zweites Vaterland. Amerika! Amerika! Schon erhebt sich ein [11] frischer Ostwind, alles eilt an Bord. So lebe denn wohl, Adele! Dieser Brief muß ans Land. Ach, zum letzten Male sehe ich den mütterlichen Boden, der mich gebar; seine freundlichen Rebenhügel, das frohe Treiben im Hafen von Marseille. Zum letzten Male schallen die muntern Lieder der Fischer zu mir herüber. Oh, es ist schwer, von der Heimat zu scheiden! Schwer, wie das Sterben! Sterben ist ja auch nur eine Reise nach unbekannter Küste, ohne Wiederkehr. Lebe wohl, Adele! Lebe wohl, mein Frankreich!

Dieselbe an dieselbe

Auf der Höhe von Gibraltar


Die Sonne taucht freundlich aus den Fluten herauf. Sie beleuchtet meinen Blicken zum letzten Male das dämmernde Europa. Tränen benetzen meine Wangen, unwillkürlich strecke ich meine Arme nach dem heimischen Gestade aus! ach, es schwindet von Minute zu Minute weiter zurück. Ich weine, ja, Adele, ich weine! Die Weiblichkeit behauptet ihre vollen Rechte und drängt den männlichen Mut in den Hintergrund. – Ich habe mich auf einige Augenblicke in die Kajüte geflüchtet, um mich in der Einsamkeit recht auszuweinen. Große Schmerzen beruhigt der Mensch nur durch sich selbst, er erhebt sich nur durch eigne Kraft. Die mitleidigen Tröster, welche sich auf dem Verdeck um mich her versammelten, taten mir nur weher. Wie kann man so ins allgemeine hin zusprechen, wo man die feinsten Ursachen der Rührung nicht kennt, wohl selbst ausgesprochen nicht kennen würde! Wie will man den verwandten Ton treffen, um diesen Mißklang in Einklang aufzulösen! Sogar der freundliche Kapitän verwies mich nur an mich selbst, als er mir mit seiner schönen Stimme voll Rührung sagte: »Liebe, schöne Miß, Sie verlassen ein Land voll Unruhe und Verwirrung; mein Vaterland, [12] das heilige Land der Freiheit, wird Sie als Tochter aufnehmen und diese bangen Tränen trocknen. Betrachten Sie mich als Ihren Bruder, und gebieten Sie über alles, was dieser Bruder sein nennt.« Guter Mann! es ist nicht das Gefühl des Verlassenseins, was mich beklemmt. In den Sälen der Tuilerien würde ich mir viel verwaister erscheinen.

Siehe, meine Tränen sind während des Schreibens getrocknet, und mein Mut kehrt zurück. Ich muß wieder hinauf, damit der lange Aufenthalt in dem verschlossenen Raume mir nicht nachteilig werde. Ich will nicht seekrank werden, wenn es irgend zu vermeiden ist. Krankheit wirkt auf den Geist, aber der Geist beherrscht mehr noch den Körper. Der meinige soll sich aufheitern und stark sein. Nur noch einen Abschiedsblick nach der Wiege meiner Kindheit, nach den Gräbern meiner Lieben; dann teilnehmend gelebt mit der Gegenwart und die Vergangenheit noch einmal wiederholt für meine Adele.


Unser Leben gleicht des Jägers Träumen,
Der am waldbekränzten Hügel ruht.
Er entschlief am milden Strahl der Sonne,
Von der Liebe, von der Jagden Wonne,
Und erwachet in der Stürme Wut.
Sohn des Hügels, morgen wirst du fragen:
Was verlöscht Ronkatlins hellen Schein?
Hat das Meer den glühenden Stern verschlungen?
Selmas Bardenharfen sind verklungen,
Toskars Tochter klaget dort allein!
Ach, Malwina wandelt zu der Halle,
Staubumschleiert lehnen Schild und Speer.
Es empfängt sie geisterhaftes Grausen,
Kleiner Menschen Söhne drinnen hausen,
Ihre Helden findet sie nicht mehr.
[13]
Bald auch kehren Lutas sanfte Mädchen
Ohne die Gespielin von der Jagd,
Wenden ihren Tränenblick voll Trauern
Nach Torluthas moosbewachsnen Mauern,
Wo der Eichen Flamme nicht mehr lacht.

Du siehst, liebe Adele, daß Ossian mein treuer Begleiter ist. Wie hätte ich den vergessen? er ist ja ein Geschenk von Dir. Immer schon war er mein Lieblingsdichter, und jetzt ist er mir über alles teuer, das liebste Gut, welches ich aus dem Schiffbruche gerettet. Erst jetzt verstehe ich ihn ganz, und bei seinen Klaggesängen schweigt mir das Leid im Busen. Oft stehe ich noch abends einsam am Maste gelehnt und betrachte die Gewölke, welche der untergegangenen Sonne nachziehen. Dann will mich's oft bedünken, als lagerten die Helden vergangener Zeiten auf ihrem rötlichen Saum. Teure Gestalten! ihr begleitet Virginia nach dem Lande, wo sie einst ruhen wird unter dem moosigen Steine, den die Hand eines Fremdlings mitleidvoll auf ihren Hügel legt. Doch nicht von meinem Grabe wollte ich mit Dir reden, traute Adele, als ich dieses neue Blatt anfing, sondern von meinem Eintritt in das Leben und wie ich das wurde, was ich bin.


Meinen Vater hast Du gekannt, den schönen, herrlichen Mann. Du erinnerst Dich noch seines hohen männlichen Wuchses, seiner stolzen Stirn, seiner Adlernase, der sanften, großen blauen Augen, des freundlichen Mundes. Du weißt noch, wie ernst und fest, wie wild und freundlich er zu gleicher Zeit war. Als jüngerer Sohn des Ritters von Montorin für die Rechtsgelehrsamkeit bestimmt, studierte er auf dem Kollegium zu Aix – als der Freiheitskampf in Amerika alle Herzen der europäischen Jugend in Bewegung setzte. Sein älterer Bruder, schon früher im Militär angestellt, wußte es dahin zu bringen, daß er zu einem Regimente versetzt wurde, welches, im Laufe des Krieges, [14] zur Verstärkung der französischen Hülfstruppen eingeschifft werden sollte. Lange hatte sich ein Oheim, dessen Erbe er war, diesem Wunsche auf das lebhafteste widersetzt. Der jugendliche Enthusiasmus siegte. Vor seiner Einschiffung wünschte der ältere den jüngern Bruder noch zu sehen und nahm einen kleinen Umweg über Aix. Hier ergriff nun meinen Vater das unwiderstehliche Verlangen, den geliebten Bruder in diesen ehrenvollen Kampf zu begleiten. Plutarch und Xenophon hatten den kaum erst sechzehnjährigen Jüngling zum Manne gereift. Er raffte zusammen, was sich ohne Aufsehen fortbringen ließ, und folgte heimlich dem Bruder, um als Freiwilliger den Feldzug mitzumachen. Sie erreichten glücklich den Hafen von Marseille, wo die Flotte bereitlag, sie aufzunehmen. Mit leichtem Herzen verließen sie Frankreich. Dieselben Wellen, die immer hin und wieder kehren, auf deren Rücken unser »Washington« dahintanzt, dieselben trugen sie fröhlich zu dem ersehnten Ziele.

Mit hochklopfendem Busen landeten die Jünglinge und begannen den Kampf gegen die Macht des stolzen Englands. Drei Jahre fochten sie nebeneinander, mit wechselndem Glücke, doch umschwebte meistens der Sieg ihre Fahnen. Ihre Heldenherzen rissen sie zu jeder schwierigen Unternehmung voran. Wo die Gefahr war, fochten die Brüder. Bei Eutaw wankte das Bataillon, welches der ältere als Oberst kommandierte, auf einen Augenblick. Ein mörderisches Kartätschenfeuer der Engländer trennte die Glieder; da entriß mein Oheim dem weichenden Fähnrich das Panier: »Wer mich liebt und die Ehre«, rief er, »der folge mir! Freiheit und Sieg! Freiheit und Sieg!« Mit diesen Worten stürmte er im raschen Laufe gegen die feindliche Batterie vor. »Freiheit und Sieg!« rief mein Vater; »Freiheit, Sieg und unser Oberst!« tönte es durch alle Glieder. Man stürmte ihm nach. Die Batterie war genommen, aber tödlich verwundet erreichte mein edler Oheim das Ziel seiner Anstrengung. Ein Schuß in die Brust hatte ihn schon im halben [15] Laufe getroffen. Er hielt die linke Hand fest auf die Wunde gedrückt, um das fließende Blut noch einige Augenblicke aufzuhalten, pflanzte mit bebender Rechten die flatternde Fahne neben dem feindlichen Geschütz auf und sank dann sterbend nieder. »Mein Wunsch ist erfüllt«, sagte er mit schwacher Stimme, »der Sieg ist unser. Freiheit und Menschenrechte habe ich diesem dereinst glücklichen Lande erkämpfen helfen. Weine nicht, mein Bruder, weinet nicht, Kameraden, ich sterbe den schönsten Tod.« Mit diesen Worten hauchte der jugendliche Held in den Armen des Bruders seine große Seele aus. Nur ein einfacher, kleiner Hügel konnte über seine irdischen Reste errichtet werden, aber sein Pantheon ist der Ort, wo er fiel, und mit heiliger Ehrfurcht, wie die Spartanerin zu dem Passe von Thermopylä, werde ich dahin wallen. Er kämpfte nicht den zweideutigen Kampf für Land und Besitztum, er focht für fremdes Glück, für die Menschheit, für den Gott im Busen. In den Jahren des Genusses ließ er ein glänzendes Los daheim und hohe Erwartungen; trug in Wüsten alle Beschwerden und Mühseligkeiten des Krieges, um für ein fremdes, gedrücktes Volk zu kämpfen. Indem ich mir ihn so vergegenwärtige, fühle ich, was Ahnenstolz ist und wie er entspringt. Ja, ich bin stolz auf ihn, auf den edlen, nicht auf den adeligen Menschen. Ursprünglich waren beide Worte nur eins. Wehe! daß man in der Folge Zeichen und Sache trennen mußte.

Nach dem Frieden kehrte mein Vater nach Frankreich zurück. Er fand den alten Herzog, seinen Oheim, tief gebeugt über den Verlust seines Lieblings, wurde aber, als nunmehriger Erbe, mit allen Zeichen der Wertschätzung empfangen, bei Hofe vorgestellt, bewundert und mit Schmeicheleien überhäuft. Die Frauen fanden ihn unbeschreiblich schön, den Männern gebot er Ehrfurcht, ein Teil der jüngern, nicht sehr begünstigten, schloß sich mit Begeisterung an ihn an. Der Oheim tat zweckmäßige Schritte und erhielt die sehr nahe Aussicht zu einer ansehnlichen [16] Hofbedienung für ihn. Mein Vater liebte aber den Hof nicht, sowenig man auch hinter seinem gefälligen, zarten Benehmen, welches der Abdruck seines menschenfreundlichen Herzens war, seine Abneigung ahndete. Der Oheim war höchst unangenehm überrascht, als ihm mein Vater mit Festigkeit erklärte, er werde sich niemals an den Hof fesseln. Nun bestand der Oheim darauf, ihm ein Regiment zu kaufen. Mein Vater unterdrückte die Äußerungen seiner Gedanken über dieses unrechtmäßige Verfahren und weigerte sich gleichfalls, scheinbar aus dem Grunde, weil er den Soldatenstand nicht liebe. Man fand diese Abneigung höchst ungereimt an einem jungen Helden, der nur eben mit frischen Lorbeern heimgekehrt war. Mein Vater aber erwiderte, es sei ganz ein anderes, für Freiheit und Menschenrecht in den Kampf zu ziehn als auf Paraden zu glänzen und, als Söldling, völlig fremden Zwecken zu dienen. Man verstand einander fast gar nicht. Der Neffe wünschte, zu seinen Studien zurückzukehren und mit seinen geliebten Griechen und Römern zu leben; der Oheim nannte dies Pedanterie und Verkehrtheit, wodurch er eben für die höhere Welt und seine glänzenden Entwürfe verdorben worden und dem feinern Leben immer mehr entfremdet würde. Die Spannung stieg zwischen beiden, sosehr mein Vater sich auch Mühe gab, durch kindliche Zuvorkommenheit diese Unzufriedenheit zu bekämpfen. Endlich erhielt mein Vater die Einwilligung, auf einige Zeit ein kleines Gut in der Provence besuchen zu dürfen, welches er von seiner Mutter geerbt und seit seiner ersten Kindheit nicht gesehen hatte. Er verließ in den ersten Frühlingstagen das geräuschvolle Paris, wie der Vogel den Käfig. Er hatte dort wohl Freunde gefunden, aber die Luft, welche sie gemeinschaftlich umfangen hielt, war so schwül, daß sie das freie Aufatmen gar sehr erschwerte. Jetzt sog er wieder die junge Brust voll frischer Lebenslust und frohen Mut.

[17] Du hast Chaumerive gesehen, am nördlichen Ufer der Durance, diesen schönen Schauplatz meiner frohen Jugend. Gewiß gedenkst Du noch des blumigen Tales, das sich, mit Rebenhügeln umkränzt, längs den Ufern dahinzieht. Vor allem aber des dunklen Flusses, der vor unsrer Wohnung strömt, von zahllosen Fischerbarken bedeckt; denn gewiß ist Dir die kühne Wallfahrt noch im Gedächtnis, welche wir beide eines Nachmittags auf seinem grünen Uferwall unternahmen, um seinen Ausfluß in die Rhône zu sehn. Wir gelangten dahin; aber schon begann die Sonne zu sinken, als wir, gefesselt von dem großen Schauspiel, an die Rückkehr dachten, wo Dir dann Dunkelheit und Ermüdung manche Träne auspreßten. Hierher begab sich mein Vater. Freilich war es damals bei weitem nicht so reizend, als Du es gefunden. Seit länger als zwölf Jahren von dem Besitzer vernachlässigt, waren die Gebäude verfallen, die Gärten verwildert, die Felder und Weinberge nur für den augenblicklichen Nutzen bestellt. Mangel und Schmutz blickten aus den einzelnen Hütten hervor, und blaßgelbe Gestalten, in Lumpen gehüllt, verrichteten träge die nötigen Fronarbeiten. Doch die Natur war gleich üppig. Die wilde Durance tanzte ebenso trotzig daher. Die dunkeln Oliven schattierten ebenso anmutig mit der frischen Zitrone, und Thymian und Lavendel dufteten selbst von öden Triften.

Es bedurfte nur festen Willen, Einsicht und Geschmack, um mit geringen Aufopferungen ein Paradies zu schaffen, welches späterhin jedes Auge entzückte. Mein Vater hatte schon im Augenblicke der Ankunft seinen Entschluß gefaßt. Er entließ den reichgewordenen Pächter mit einer angemessenen Vergütung, verteilte den größten Teil des Ackers unter seine Bauern, gegen eine jährliche geringe, von ihnen selbst bestimmte Pacht, und hob alle Zeichen der Dienstbarkeit auf. Er stellte sich den erstaunten Menschen nur als ihren Freund und Ratgeber dar und gewann alle Herzen. Jedermann griff mutig zur Arbeit, und die entworfene [18] Verbesserung rückte mit Riesenschritten vor. Der Weinbau wurde ganz auf die Hügel beschränkt, dort aber um so sorgfältiger betrieben. Es wurden für die Kelter nur gleichzeitig reifende Gewächse von verwandten Eigenschaften gepflanzt. Der Ölbaum wurde nur sparsam zwischen den Reben geduldet und bekränzte meist nur den Rücken der Höhen und die nördliche Seite. Die Ebenen wurden mit Weizen besäet und sorgfältig von den schattenden Bäumen und dem wuchernden Gesträuche gereinigt. Die sumpfigen Wiesen und Triften, längs dem Flusse, wurden durch zweckmäßige Gräben trockengelegt und durch Ausrottungen ein sehr großer Teil Acker für den fast unbekannten Kartoffelbau gewonnen. Auf dem magersten Teil des Landes wurden Maulbeerpflanzungen angelegt und Pomeranzen, Zitronen und alle übrigen Obstarten in den Gärten mit großer Sorgfalt gezogen. So wurde durch kluge Sonderung dieses mannigfaltigen, sonst durcheinandergeworfenen Anbaues derselben Grundfläche ein zehnfacher Ertrag abgewonnen. Üppig wallte der goldne Weizen, wo ihn sonst der Maulbeerbaum und das Gesträuch erstickte, und der freie Weinstock lieferte den köstlichsten Wein. Die entwässerten Triften nährten zahlreiche und kräftige Herden, wo sonst nur einige magere Kühe des Pächters weideten. Jetzt nahm der Landmann, durch Vorschüsse meines Vaters unterstützt, an allem teil, und Wohlstand kehrte in seine reinliche Hütte zurück, Gesundheit und Kraft sprach sich in seiner regsamen Gestalt aus und jene liebenswürdige Fröhlichkeit, welche den guten Provenzalen so eigentümlich ist. Oh, wie wurde aber auch mein Vater von seinen treuen Untertanen geliebt! Seine Aussprüche waren Orakel, seine Felder und Berge wurden am besten bearbeitet, seine Bauten unglaublich schnell ausgeführt, und bei den Auszahlungen entstand nur Streit darüber, daß er zuviel geben und der Arbeiter zuwenig nehmen wollte.

Welche hohe Zinsen trugen die kleinen, anfangs gemachten Aufopferungen! Wie wurde ihm seine Leutseligkeit [19] in der Folge mit Wucher vergolten! Wie rührend aber war es auch, den edlen Mann im Kreise seiner Untertanen zu erblicken. Doch liebte er diese Benennung nicht; er nannte sie nur seine Freunde. »Ich bin ärmer als sie«, pflegte er zu sagen, »ich bedarf ihrer Hülfe mehr als sie der meinigen, denn ich bin weniger abgehärtet, und mir sind so viele Bedürfnisse anerzogen, deren Entbehrung sie gar nicht gewahr werden.« Der fein gebildete Mann, dessen geistreiche Unterhaltung von Höflingen bewundert wurde, war mit diesen Kindern der Natur so einfach als sie. Er stimmte seine Begriffe zu den ihrigen herab, um diese zu lenken, legte oft gesellig Hand an bei ihren Arbeiten, mischte sich in ihre Spiele und erfreute sich herzlich bei ihren fröhlichen Scherzen. Bei jedem traurigen, ja nur rührenden Anlaß füllte sich augenblicklich sein blaues Auge mit Tränen, welche er jedoch sorgfältig zu verbergen suchte. Er half, wo er konnte, und tröstete, wo keine Hülfe war. So trat er wie ein Halbgott unter diese gedrückten, vernachlässigten Menschen, und ein neuer Morgen brach an für dieses kleine freundliche Tal. Dem Vater selbst schien ein schönerer Lebensmorgen aufgegangen. Im lieblichsten Wechsel flogen die Tage, flogen Sommer und Herbst dahin. Die Musen besuchten ihn am winterlichen Kamine, dessen Gesimse es nie an frischen Blumen gebrach. Hier ahmte er denn oft Anakreons Lieder nach beim schäumenden Becher voll süßen, feurigen Mostes, öfter noch die heimischen Gesänge der alten Troubadours. So durch Einsamkeit und Dichtkunst zur Liebe vorbereitet, fanden ihn die ersten entzückenden Tage des neuen Frühlings. Man hatte in Paris vergebens auf seine Rückkunft gewartet, der Herzog hatte vergebens schriftlich darauf gedrungen; mein sich zu glücklich fühlender Vater hatte immer auszuweichen gewußt, indem er seine Gegenwart als notwendig zur Vollendung der begonnenen Bauten darstellte. Diese schilderte er so pomphaft, daß der Herzog, von Ehrgeiz ergriffen, unaufgefordert große Summen überschickte, [20] damit Provence und Languedoc von der Pracht seines Hauses reden möchten. Wie weit aber war das, was mein Vater ausführte, von diesen stolzen Ansichten entfernt! Zwar höchst geschmackvoll waren die neuen Schöpfungen, aber auch ebenso einfach; die Wohnung, von mäßiger Größe, war nur für eine häuslich glückliche Familie berechnet, in den Gärten Schönheit mit Nützlichkeit gepaart. Die ersparten Summen kamen ihm gut zustatten, seinen ländlichen Freunden aufzuhelfen und seinem neuen Wirtschaftsysteme Schwung zu geben. Gegen das Ende des Karnevals hatten seine Pariser Freunde bestimmt auf seine Gegenwart gerechnet und ihm vielfältig ihre Erfindungen für die letzten Maskenbälle mitgeteilt, woran er teilnehmen sollte. Er lehnte ihre Einladungen ab; doch veranlaßten sie ihn zu dem Einfall, zum Fastnachtabend nach Aix zu reisen, um der dortigen Maskerade beizuwohnen. Mit innigem Vergnügen betrat er diese Stadt wieder, wo sein Geist die erste Nahrung erhalten und wo noch so viele seiner Jugendgespielen lebten. Mancher von ihnen, der sonst mit ihm in einer Klasse gewetteifert hatte, riß jetzt auf der Rednerbühne des Parlaments durch seine feurige Beredsamkeit hin. Einer derselben – ich nenne ihn bei seinem Vornamen Victor –, der Sohn eines Kaufmannes, jetzt Parlamentsadvokat, ein feuriger, unternehmender Kopf, dessen Herz für alles Große schlug und der, mit Aufopferung seiner selbst, für das Recht kämpfte, war außer sich vor Freuden, seinen Leo wiederzusehn, und lud ihn für die Nacht in das Haus seines Vaters ein. Zuvor wollten sich beide Freunde noch auf dem Orbitello treffen und sich des Maskengetümmels freuen. Lust und Leben empfing meinen Vater auf diesem entzückenden Korso, mit welchem sich kaum die Boulevards von Paris messen können. Die Bäume blühten, die Fontänen sprangen, und bei jedem Schritt umringten ihn hüpfende kleine Mädchen, reichten ihm duftende Sträuße und baten um Zuckerwerk für die Schwalbe. Er ging fröhlich auf diese altgriechische Lust ein [21] und füllte und leerte unaufhörlich seine Taschen für diese lieblichen kleinen Geschöpfe. So gelangte er zur mittleren Fontäne, wo er schon in der Entfernung seinen Freund erkannte, an seinem Arme hing ein Mädchen in der Tracht der Bäuerinnen von Arles, dieser fast griechischen Kleidung, welche so schön steht. Das kurze Unterkleid war aus blaßroter Seide und das Drolet oder Oberkleid aus dunkelgrünem Sammet, um die dunklen Locken wand sich ein Tuch in gleicher Farbe, mit Gold durchwirkt. Schuhschnallen und Armspangen waren mit den schönsten Edelsteinen besetzt, und um den blendendweißen Hals hingen blaßrote Korallen. So erschien diese Nymphengestalt zum ersten Male den entzückten Augen meines Vaters. Sie ward meine Mutter! Du verzeihst mir gewiß, daß ich bei dieser Veranlassung etwas umständlicher erzähle, als es wohl nötig ist. Dieser Moment entschied ja über das Leben zweier mir so unendlich teuern Personen und über mein Dasein. Mein Vater war als Troubadour gekleidet, und Victor stellte ihn seiner Schwester vor. Der Eindruck, den beide aufeinander machten, war überraschend, und als man sich in der Morgenfrühe trennte, waren beide von dem Gefühl durchdrungen, daß Leben ohneeinander Tod sei!


Die Liebe, diese Blütenzeit des Lebens, dieser Silberblick auf seines Stromes Wellen, ist nirgend mächtiger als unter dem schönen provenzalischen Himmel, dem Vaterlande der Lieder. Hier nur vereinigt sie Feuer und Zartheit in gleichem Maße, hier nur ist sie die einzige große Angelegenheit des Lebens. Auch meine Eltern fühlten sie, vom ersten Augenblick, als solche. Leo atmete nur für seine Klara, und Klara dachte nur ihn. Victor war hocherfreut über das Bündnis zweier ihm so teuren Wesen, und seine siegende Beredsamkeit riß den Vater mit sich fort, der wohl anfangs etwas von Standesunterschied bemerkte. Der Zeitgeist entfaltete schon seine Schwingen und fand besonders in den beiden Freunden begeisterte Herolde. Sie hatten [22] früher nur in der idealen Welt der Alten gelebt und sich von je Abkömmlinge altgriechischer Kolonien geträumt. Leo hatte in Amerika den Standesunterschied, welcher seinem sanften Herzen niemals zugesagt, als unbedeutend ansehen lernen, und Victors stolzes Selbstgefühl wurde davon beleidigt. So stand der Verlobung der beiden Liebenden kein Hindernis weiter im Wege, und Leo eilte auf Flügeln der Liebe nach Chaumerive, um die nötigen Anstalten zum Empfange seiner jungen Gattin zu treffen. Er schrieb seinem Oheime mit aller kindlichen Zärtlichkeit eines Sohnes und dem Entzücken eines glücklichen Bräutigams und bat um seinen Segen. Er sahe, für den schlimmsten Fall, wohl einer Unzufriedenheit, einer Mißbilligung des stolzen Herzogs entgegen, doch hielt er dieses für kein Hindernis seines Glücks, da er die Volljährigkeit erreicht hatte und Chaumerive sein unbestrittenes Eigentum war. Mochte doch der Herzog ihm die Erbschaft seines Namens und seiner Güter entziehen, sie waren niemals das Ziel seiner Wünsche gewesen. Wie befremdet aber war er, als ihm ein Kurier die Antwort des Herzogs überbrachte, der ihn im ungemessensten Zorn einen Niederträchtigen nannte, der die Ehre seines Hauses beschimpfe, ihm befahl, sogleich diese entehrende Verbindung für immer aufzugeben und sich zu ihm nach Paris zu verfügen. Mein Vater war empört über diesen Befehl. Er fühlte sich Mann und ward wie ein Knabe gescholten. Daß er dies nicht sei, beschloß er zu zeigen. Er reiste ungesäumt nach Aix und beschleunigte die Anstalten zu seiner Vermählung. Er fühlte zu zart, um seiner Klara und ihrer Familie, durch Mitteilung des erhaltenen Schreibens, trübe Stunden zu verursachen. Er gedachte Klaren künftig nach und nach mit der Spannung oder dem Bruche zwischen ihm und dem Oheime bekannt zu machen, da er annahm, sie werde davon, bei dieser Entfernung von Paris, in ihrem kleinen Paradiese wohl nicht berührt werden. Am Ende sieht der Oheim auch wohl die Sache, wenn sie geschehen, anders an, dachte er, als jetzt, wo er sie noch [23] zu hintertreiben hofft, und so überließ sich der glückliche Leo ohne Sorge der Seligkeit seines neuen Standes. Wenig Tage nach der Vermählung führte er die geliebte Klara in seine Heimat. Die Bewohner von Chaumerive empfingen ihre schöne Frau, wie sie sie nannten, gleich einer Königin, und die freundliche Klara besaß schon in den ersten Tagen alle Herzen, ebenso unumschränkt als ihr Leo. Du hast, meine geliebte Freundin, noch nach vielen Jahren gesehen, wie dieses edle Paar geliebt wurde. Jeder Tag erhöhte ihr Glück, denn an jedem Tage entdeckte einer an dem andern mehr liebenswürdige Eigenschaften. Schöne, selige Zeit! die nur zu bald endete und nie in dieser Reinheit wiederkehrte.


Kaum waren einige Monde wie ebensoviel glückliche Augenblicke geschwunden, als in einer rauhen Novembernacht ein starkes Geräusch meinen Vater aus den Armen seiner Gattin aufschreckte. Fackeln erleuchteten den Hof, er sieht im Schein derselben einen verschlossenen Wagen halten, und in demselben Augenblick treten Polizeibeamte zu ihm ein. Man zeigt ihm einen lettre de cachet vor und bemächtigt sich seiner Person. Kaum vergönnte man dem überraschten Unglücklichen Zeit, seine Lippen noch einmal auf den Mund seiner ohnmächtigen Gattin zu drücken. Man reißt ihn mit Räubereile hinunter. Am Wagen haben sich einige wenige seiner erwachten Leute gesammelt. Sie wollen den geliebten Herrn mit ihrem letzten Blutstropfen verteidigen; man donnert sie im Namen des Königs zurück, der Wagen wird verschlossen, und dahin rollt er unaufhaltsam, der furchtbaren Bastille zu. Mein Vater, mein armer betäubter Vater allein und für den Augenblick ohne Aussicht auf Rettung. Aber er hatte eine männliche Seele, und diese verzweifelt nie. Der Mann wagt auch den mißlichsten Kampf mit dem Schicksal und gibt die Hoffnung des Sieges nur mit dem letzten Lebensfunken auf. Wer vermöchte aber wohl die Verzweiflung seiner unglücklichen Klara zu schildern, als sie von ihrer tiefen Ohnmacht [24] erwachte! Noch nach späten Jahren geriet sie außer sich, wenn sie von dieser fürchterlichen Nacht sprach. Sie umklammerte dann unwillkürlich meinen Vater mit krampfhafter Stärke, als fürchte sie, ihn aufs neue zu verlieren, und Tränen und Küsse überströmten sein Gesicht. Damals fehlte der Unglücklichen sogar die Wohltat der Tränen. Stumm, gleich einem Marmorbilde, saß sie da. Ihre Kammerfrau handelte an ihrer Statt und sandte einen treuen Boten zu Pferde nach Aix. Victor schäumte vor Wut, er übersah mit einem Blick den ganzen Zusammenhang, und zugleich fühlte er in seinem Busen Kraft, zu helfen und selbst mit den Machthabern in die Schranken zu treten. Er versah sich mit Geld und Wechseln, nahm Kurierpferde und flog zu seiner angebeteten Schwester. Hier erschien er wie ein rettender Engel. An seiner hohen Kraft richtete sich die Trostlose mühsam auf. Er hauchte ihr einen Teil seiner Hoffnung ein und begab sich ungesäumt mit ihr nach Paris.

Jede zurückgelegte Station belebte den Mut der unglücklichen Frau, sie kam ja dem Geliebten näher, und schon allein in den Ringmauern derselben Stadt mit ihm zu leben, schien ihr ein Glück gegen jene schreckliche Entfernung. Victor hoffte noch zuversichtlicher. Die Notabeln waren versammelt, alle Deputierte seiner Provinz waren ihm bekannt und befreundet, er durfte auf ihre kräftigste Unterstützung rechnen. Seine Angelegenheit schien ihm die Sache der ganzen Menschheit; wie konnte man ihm Gerechtigkeit versagen? In dieser Stimmung kam das Geschwisterpaar in Paris an. Klara verlangte durchaus in einem Gasthofe, der Bastille so nahe als möglich, zu wohnen, denn es schien ihr unbezweifelt gewiß, daß ihr Gemahl sich in derselben befinde. Victor fand es freilich sehr möglich, daß er nach einem anderen, weit entfernten, festen Schlosse gebracht worden sei; doch widersprach er der Trauernden nicht und gewährte ihr gern den schwachen Trost. Er selbst fing seine Nachforschungen mit rastlosem Eifer an. Er sprach mit seinen Freunden, ging nach Versailles, [25] um den Grafen von Mirabeau, einen alten Freund seines Hauses, aufzusuchen. Überall fand er die herzlichste Teilnahme und den besten Willen zu helfen; doch war die Sache so leicht nicht, als er gewähnt. Alles kam darauf an, zu erfahren, wohin der Gefangene gebracht worden, und hierüber gelangte man durchaus nicht zur Gewißheit. Zwar hatte man von Chaumerive den Weg nach Paris genommen, soviel hatte man in der Nachbarschaft erfahren; ob man aber nicht späterhin diese Straße verlassen, wer konnte das verbürgen? Der Herzog, welcher am ersten Auskunft zu geben vermochte, war fast unzugänglich. Er weigerte sich durchaus, Victor zu sehen, ließ ihn jederzeit abweisen, sooft er auch die Versuche, ihn zu sprechen, erneuerte. Nicht glücklicher waren die Bemühungen derer, welche ihr Rang in seine Zirkel führte. Der alte Hofmann stellte sich völlig unwissend. Nach vielen mißlungenen Schritten brachte es Mirabeau dahin, daß Victor eine geheime Audienz beim Könige erhielt. Der Monarch schien zwar gerührt bei der lebhaften Schilderung des jungen Mannes, doch meinte er, man müsse die Ansichten eines herzoglichen Hauses auch berücksichtigen, dessen Haupt einer seiner ältesten und treusten Diener sei. Alles, was man zuletzt erhielt, war ein Befehl an den Gouverneur der Bastille, daß, wenn sich ein Gefangener dieses Namens in seinem Gewahrsam befinde, diesem, unter gehöriger Vorsicht, eine Zusammenkunft mit seiner Gattin und seinem Schwager zu gestatten. Mit diesem teuren Papier eilten die Hoffnungsvollen in die finstern Mauern. Klarens Herz schlug laut vor ungestümer Freude. Aber, o Schrecken! dem Gouverneur war dieser Name gänzlich unbekannt. Er schlug nach vielen Weigerungen die Register vom Monat November auf, doch vergebens. Victor entdeckte zwar, bei einer raschen Wendung, daß um diese Zeit ein junger Mann eingebracht worden, aber Name und Wohnort trafen nicht zu. Klara verlangte, voll ahndenden Gefühls, diesen Unbekannten zu sehen, aber der Gouverneur schlug es mit Festigkeit ab. Der Befehl laute nur auf eine [26] bestimmte Person, alles übrige sei gegen seine Pflicht. Hart von Natur, und mehr noch durch Gewohnheit, weigerte er sich, auch nur die mindeste Auskunft über diesen Unbekannten zu geben. So verließ man diesen Ort des Schreckens völlig unverrichtetersache. Klara mit der festen Überzeugung, der Unbekannte sei ihr Gemahl, Victor zweifelhaft. Neue Versuche, neue Hindernisse. Dem Könige war schwieriger beizukommen. Er hielt es für unmöglich, daß jemand unter fremdem Namen gefangensäße, und verweigerte eine Erlaubnis, diesen Fremden zu sehn, weil Staatsgeheimnisse dabei gefährdet werden könnten. Am Ende gab er einen ähnlichen Befehl für Saint-Vicenz, und die Geschwister reiseten dahin, obwohl Klara keinen Erfolg davon hoffte. Die Nachforschungen waren wieder vergeblich. So ging der Winter und der größte Teil des Frühlings vorüber. Meine arme Mutter rückte ihrer Entbindung immer näher und versank immer tiefer in Gram. Ihre einzige Erholung war, auf dem Platze vor der Bastille auf und nieder zu gehn und die düstern Mauern anzublicken, die ihr alles umschlossen. Ihr Bruder konnte sie zu keinem andern Spaziergange mehr bereden. Man kannte sie hier schon und nannte sie nur die schöne Trauernde; jedermann betrachtete sie mit Teilnahme. Ihr Bruder traf jetzt nur auf lebhaft beschäftigte und bewegte Gemüter; die Spannung zwischen den Notabeln und dem Hofe stieg aufs höchste, und die Gärung war allgemein, in ihr ging alles einzelne unter. Auch Victor, ob er gleich das Schicksal seines Freundes nie aus den Augen verlor, warf sich doch mit Feuer in die öffentlichen Angelegenheiten. Ihm war klar, daß eine große Umwälzung der Dinge unvermeidlich und notwendig sei. Die Hoffnung für seinen Leo knüpfte er an das allgemeine Wohl, und rastloser als einer arbeitete er an der neuen Organisation.


So kam der Julius heran, dieser so oft beschriebene und in der Weltgeschichte ewig merkwürdige Monat. Meine [27] Mutter wurde von all dem Treiben um sie her nur sehr wenig gewahr, ihr tiefer Kummer machte sie unempfänglich für die Außenwelt. Sie hörte es kaum, wenn man sie bedauerte und Vorübergehende sie laut ein Opfer der Tyrannei nannten. Tief in sich gekehrt, ging sie auch am 14. Julius mittags auf ihrem gewöhnlichen Spaziergange auf und nieder, und es dauerte lange, ehe das Herbeiströmen einer zahllosen Volksmenge sie aufmerksam machte. Man umringt sie, Weiber und Mädchen umwinden sie mit dreifarbigen Bändern: »Auch du sollst gerächt werden!« rufen sie. Das Getümmel nimmt zu. Von allen Seiten das Geschrei: »Nieder mit der Bastille, nieder!« Kanonen werden aufgepflanzt, die Türme vom Zeughause und vom Garten werden eingestoßen, Löcher in die Mauern gebrochen. Meine Mutter fängt an zu begreifen, was vorgeht, sie zittert vor Schreck und Freude, sie sinkt auf die Knie und streckt die Arme nach dem fürchterlichen Gefängnisse aus; die Sinne vergehen ihr, die mitleidigen Umstehenden sind kaum imstande, sie gegen den gewaltsamen Andrang der Menge auf einige Augenblicke zu schützen. Da arbeitet sich Victor durch das dichteste Gedränge, faßt seine ohnmächtige Schwester in seine Arme, drängt sich mit Riesenkraft rückwärts und trägt sie in ihre Wohnung zurück. Sie schlägt die Augen auf, aber in demselben Momente stellen sich auch heftige unbekannte Schmerzen ein, alles verkündigt eine beschleunigte Entbindung. Victor ruft um Hülfe er übergibt sie der Sorgfalt der Frauen, spricht ihr Mut ein und selige Hoffnung und eilt zurück, wohin Begeisterung und Pflicht ihn rufen. Er legt mit der Stärke eines Rasenden Hand an, er ist der zweite in der Bresche. Wütend packt er einen der Invaliden, er muß ihm die Eingänge zu den Gefängnissen zeigen, und ohne auf die übrigen Ereignisse zu achten, ist sein einziges Streben, die Türen dieser höllischen Behälter zu öffnen. Werkzeuge sind schnell gefunden, auch hülfreiche Arme in Menge. Man befreit eine ziemliche Anzahl der unglücklichen Schlachtopfer tyrannischer Willkür, [28] doch findet sich kein Leo. Endlich weicht eine besonders stark befestigte Tür, und mein Vater stürzt dem freudeschwindelnden Victor in die Arme. »Freiheit« ist das erste Wort, welches aus beider Brust sich hervordrängt, das zweite »Klara!« – »Lebt sie?« ruft mein Vater. »Sie ist hier!« schreit mein Oheim, und so machen sich beide, fest umschlungen, unaufhaltsam Bahn durch die teilnehmende Menge. Sie erreichen fast atemlos Klaras Wohnung. Meine Mutter lag blaß und erschöpft im Bette, ich ruhte an ihrer Brust. Seit wenig Minuten hatte ich das Licht der Welt erblickt. Mein Vater stürzte kniend an dem Bette nieder. In sprachloser Freude hing er an den Lippen der Geliebten und überströmte ihre Hände mit Tränen und Küssen. Dann nahm er mich in seine Arme und drückte mich, gewaltsam schluchzend, an sein Herz. Plötzlich hob er mich hoch in die Höhe und rief laut und feierlich:

»Virginia, Virginia! du teures Pfand der neuen Freiheit! Roms Virginia sprengte durch ihren Tod Roms Bande; du verbürgst mir durch den Augenblick deiner Geburt die Freiheit deines Vaterlandes und knüpfest mich mit tausend neuen Banden an dasselbe.« Er legte mich wieder auf das Bett und seine Rechte segnend auf meine Stirn. Victor kniete tief erschüttert neben ihm und legte ebenfalls seine Hand, wie zum Schwur, auf mein Haupt. »Freiheit und Vaterland! Freiheit und Gleichheit!« sprach er mit hohem Ernste. »Vaterland, Freiheit und Gleichheit!« sprach mein Vater ihm nach. Dann schlugen beide Männer kräftig die Hände ineinander und umarmten sich. Lächelnd und selig sah meine Mutter auf dies erhabene Schauspiel herab. Sieh, Adele, so wurde ich geboren. Könnte ich es jemals ertragen, daß man den 14. Julius mit Schmähungen belegt? würden die Deinen mein Fest jemals mit gutem Herzen feiern wollen? Nein, Virginia, die erstgeborne Tochter der Freiheit, muß in einem freien Lande sterben.


[29] Von diesem Zeitpunkt an waren meine Eltern auf immer vereinigt und glücklich. Die Begebenheiten, die den Thron erschütterten, hatten ihr Glück gegründet. Konnte die dankbare Erinnerung daran sie jemals verlassen? konnten sie jemals vergessen, daß die Despotie die ersten frischesten Blüten dieses Glückes abgestreift? – Mein Vater teilte nunmehr seine Zeit zwischen den Freuden seiner Häuslichkeit und den ernsten Bemühungen für das öffentliche Wohl. Er erneuerte seine früheren Verbindungen und knüpfte neue. Sein Einfluß wurde bei den Beratschlagungen und Entwürfen von segensreichem Nutzen. Auch auf seine Familie wendete er seine zärtlichste Sorge. Sein edles Herz mochte nur Böses mit Gutem vergelten, und sein überlegener Verstand flößte ihm gegen die Verkehrtheiten der Menschen mehr Mitleid als Zorn ein. Er versuchte, den alten Herzog zu sehn, und hoffte, ihm in dieser Krisis nützlich zu werden. Aber der erbitterte Mann wich allen seinen Bemühungen aus und war einer der ersten, welche die Sache ihres Vaterlandes und seinen heiligen Boden verließen. Nächstdem war meines Vaters erster Weg zu Deiner Mutter. Er hatte diese, seine einzige Schwester, zwar wenig gekannt, aber er liebte sie mit brüderlichem Herzen. Sie war, als er nach Amerika ging, noch ein zartes Kind und befand sich schon im Kloster Saint-Cyr zur Erziehung. Nach seiner Zurückkunft hatte er sie mehrere Male dort besucht und sich ihrer aufblühenden Schönheit und ihres sanften Wesens gefreut. Aber ein Sprachgitter bleibt immer eine Scheidewand zwischen liebenden Geschwistern, welche, wenn auch nicht die Liebe mindert, doch die Vertraulichkeit hemmt. Mein Vater war schon in Chaumerive, als er erfuhr, daß der Herzog Deine Mutter an den Hof gebracht, wo sie vielen Beifall ernte. Um die Zeit seiner eigenen Verheiratung hörte er, sie werde sich mit dem Herzog von P. vermählen. Er schrieb ihr, sie antwortete ihm zwar zärtlich, doch sehr schüchtern und deutete auf den Zorn des Oheims und auf die Beschränkung, worein ihre nahe bevorstehende Verbindung [30] sie zu versetzen drohe. Sie pries ihn glücklich, als Mann sein Schicksal einigermaßen selbst bestimmen zu können, und wünschte ihm herzlich Glück, doch warnte sie ihn zugleich mit mädchenhafter Furchtsamkeit. Zu dieser geliebten Schwester flog nun mein Vater. Sie empfing ihn mit der lebhaftesten Freude, aber ihr Herz beklemmten ängstliche Sorgen. Ihr Gemahl hatte ihr wenige Stunden zuvor angekündigt, daß die Prinzen entschlossen wären, über die Grenze zu gehen, in Hoffnung, daß der größere Teil des Adels ihnen folgen werde und daß man von dort aus den Anmaßungen des dritten Standes vernichtend begegnen könne. Er hatte ihr befohlen, sich reisefertig zu halten, um ihm zu folgen. Sie befand sich im neunten Monat ihrer Schwangerschaft, liebte ihre Umgebung und fürchtete den unbekannten rauhen Norden. So sank sie weinend in die Arme ihres bekümmerten Bruders. Der Herzog, Dein Vater, trat kurz darauf ins Zimmer. Die Begrüßung der beiden Schwäger war kalt und förmlich. Mein Vater lenkte sogleich das Gespräch auf das Interesse der Zeit, der Deinige wich ihm mit stolzer Höflichkeit aus oder sprach mit wegwerfender Anmaßung ab. Jener beschwor ihn zwar, wenigstens Rücksicht auf seine kränkelnde Gattin zu nehmen, fand aber kein Gehör. Seine redlichen Anerbietungen zu sichernden Maßregeln in betreff der Güter, für den schlimmsten Fall, wurden mit Mißtrauen, ja fast mit Hohn zurückgewiesen. Denselben Erfolg hatte sein edler Wille bei seinem Oheim, dem Herzog, auch er verspottete jede Äußerung von Besorgnis und wies jede ihm angebotene Dienstleistung, in den beleidigendsten Ausdrücken, zurück. Dennoch hat mein Vater diesen Undankbaren in der Folge, wider ihren Willen, die größten Dienste geleistet, indem er ihre Güter, unter Mitwirkung einiger seiner bewährtesten Freunde, durch Scheinkäufe größtenteils rettete und ihnen von Zeit zu Zeit einen Teil der Einkünfte, mit großer persönlicher Gefahr, übersendete. Für jetzt konnte er für die geliebte Schwester nichts weiter tun, als daß er ihr die [31] Vergünstigung auswirkte, nach England zu gehen, wohin er ihr Pässe verschaffte. Victor besorgte, durch die Handelsverhältnisse seines väterlichen Hauses, eine schnelle und bequeme Überfahrt, ebenso Anweisung bedeutender Summen auf Londoner Häuser. So wurde Deine gute Mutter, wider ihren Willen und mit einer grausamen Eile, wie die Umstände sie forderten, aus ihrem Vaterlande und aus den Armen ihres kaum wiedergefundenen Bruders gerissen. Kaum hatte sie den engländischen Boden betreten, als ihre Niederkunft herannahete und sie Deinen Bruder Louis gebar.


Die Revolution ging nun ihren raschen Gang. Mein Vater und sein Freund schwammen in Seligkeit, alle die Träume ihrer früheren Jünglingstage in die Wirklichkeit heraustreten zu sehen. Beschlüsse wurden gefaßt, Grundsätze wurden aufgestellt, welche die Bewunderung der Welt erregten. Europa sah eine herrliche Morgenröte aufglühen, und der größere Teil seiner Bewohner jauchzte ihr entgegen. Arme Sterbliche! ihr hättet bedenken sollen, was schon die Erfahrung den Landmann lehrt, daß das hochflammende Rot im Osten auf einen schwülen Gewittertag deutet. Das ganze Heer menschlicher Leidenschaften mischte sich ins Spiel und verfälschte die reine Begeisterung, welche das große Werk begonnen. Die Edlen unter den Volksführern befanden sich in der Lage des Sisyphus, der Stein rollte wieder bergab, wenn sie ihn bis zur Höhe gewälzt zu haben glaubten, und viele wurden von seinem gewaltsamen Sturz zerschmettert. Mein Vater redete und handelte mutig für seine Überzeugung, aber er sahe mit Schmerz, daß das begonnene Werk nicht nach seinem sanften edlen Sinne zu beendigen sei. Er hatte in seiner großen Seele der Menschheit einen höheren Grad der Reife zugetraut als er jetzt fand. Mirabeau starb, die Jakobiner organisierten sich, und die Parteien fingen an, sich zu bekämpfen. Der Hof und das Ausland trieben ihr finsteres Spiel und verwirrten die geheimen Fäden des Gewebes so künstlich, daß man bei den meisten unglaublichen [32] Begebnissen nicht mit Gewißheit sagen konnte, von welcher Seite die wirksamsten Schläge gekommen. Sicher hätte dessenungeachtet mein Vater den Kampf nicht gescheut; doch meine Mutter zitterte für den teuern, schon einmal verlorenen Gatten. Sie beschwor ihn täglich, diesen unsichern Schauplatz zu verlassen und sie zurückzuführen in ihre glückliche Heimat. Er konnte auf die Länge ihren Tränen nicht widerstehen; auch zog ihn die Sorge für seine verlassenen Anlagen und für das Wohl seiner Bauern zurück nach Chaumerive; Victor blieb in Paris. Sein Feuergeist fand sich am Rande des Vulkans in seinem Elemente.

In Chaumerive legte nun mein Vater alle Auszeichnungen seines Standes völlig ab. Die Wappen wurden überall abgenommen, die Livreen abgeschafft. Man richtete sich bequem, aber sehr einfach ein. Mein Vater versammelte die sämtlichen Bewohner, nannte sie seine guten Freunde und Nachbarn, erklärte sich ganz für ihresgleichen und bat sie, ihn nie mehr gnädiger Herr, sondern schlechtweg Bürger zu nennen. Die guten Leute erstaunten, doch waren sie schon an einen hohen Grad von Leutseligkeit und Gleichheitssinn bei meinem Vater gewöhnt und liebten ihn nun nur um so stärker. Sie legten ihm Rechenschaft ab von ihrem Haushalt während seiner Abwesenheit. Sie hatten seine Äcker, gleich den ihrigen, bestellt und den Ertrag gewissenhaft bewahrt. Mein Vater bezeigte ihnen seine lebhafte Dankbarkeit, und die guten Menschen glaubten sich ihm verpflichtet. Es knüpften sich die schönen Bande der gegenseitigen Liebe und des Vertrauens immer fester und trotzten allen nachfolgenden Stürmen der Zeit. So unruhvoll und blutig auch die folgenden Jahre für Frankreich gewesen sind, mein friedliches Tal, die Wiege meiner Kindheit, ist, dank der Sinnesart meines guten Vaters! immer so ruhig und glücklich geblieben, als läge es auf einer Insel des Stillen Ozeans.

Der benachbarte Adel nannte ihn anfangs einen Tollhäusler und wich ihm aus; späterhin hielt er ihn für einen [33] Schlaukopf und suchte oft seine Vermittelung. Erkannt haben ihn nur wenige; man hielt für Klugheit, was nur Vernunft und Gefühl war.


In dieser schönen Umgebung, an der Hand der Liebe, ging ich meine ersten Schritte, hier wurde mein Geist sich seiner bewußt. Meine Eltern machten zu meiner Erziehung keine künstlichen Anstalten, man überließ mich der Natur und dem guten Beispiele. Liebe, die zärtlichste, aufopferndste Liebe umgab mich und erzeugte in mir tiefes, reges Gefühl. Mein Geist bedurfte keines Sporns, er entwickelte sich überaus frühzeitig und schaffte sich Nahrung. Ich lernte fast von selbst lesen, in einem Alter, wo andere Kinder kaum einige Worte im Zusammenhange aussprechen. Meine Mutter schaffte mir Puppen an und anderes Spielgerät, ich wußte eben nichts damit anzufangen und warf es bald beiseite, traurig fragend: »Was soll Virginia nun machen?« Meine Mutter begriff diese Eigenheit nicht und verlor oft die Geduld. Mein Vater erhielt, durch einen Zufall, ein altes Werk, welches meine kindische Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war eine Weltgeschichte, durchweg in Kupfern bildlich dargestellt, der Text daneben in veraltetem, doch kräftigem Stil. Ich besah eifrig die wirklich schönen Kupfer und verlangte ihre Erklärung; meine Mutter verstand sich wenig darauf und fertigte mich mit Auslegungen ab, welche sie für mein Alter passend glaubte, die mir aber nicht genügten. Ich wendete mich an meinen Vater, und dieser erklärte mir die Bilder einfach, aber wahr. Ich hing an seinen Lippen und wollte ihn nimmer wieder lassen; aber der gute Vater mußte doch oft abwesend sein, und ich blieb dann mit meinem lieben Buche allein. »Wenn du erst lesen kannst«, tröstete mich der Vater, »dann kannst du dir die Geschichten selbst erklären.« Das war ein Blitzstrahl, in meine Seele geworfen. Ich übte mich unermüdet, und in kurzem las ich fertig in meiner lieben Geschichte. Nun war meine Beschäftigung gefunden, ich fühlte keine Leere mehr. [34] Alle Zeit, wo ich nicht im Freien herumsprang oder mit meinen Eltern plauderte, saß ich bei dem Buche. Ich las und las wieder; Begriffe reihten sich an Begriffe, und ich verstand, ich fühlte, was ich gelesen. Ich kann im eigentlichsten Sinne sagen, ich bin unter den Heroen der Vorwelt herangewachsen. Sie waren meine Vorbilder, dienten mir zum Maßstab für die Ereignisse der Gegenwart. Unter meinen frühesten Erinnerungen ist mir eine Szene lebhaft gegenwärtig geblieben, welche diese meine Heroenbilder erregten. Ich mochte vier Jahr alt sein und mein geliebter, ach über alles geliebter Emil ein Jahr, als Frankreich von den fremden Armeen hart bedrängt wurde. Victor war an die Grenze geeilt, das Vaterland zu verteidigen, und mochte meinen Vater wohl aufgefordert haben, ein Gleiches zu tun. Wenigstens war ein Brief angekommen, dessen Inhalt auf meinen Vater einen wichtigen Eindruck gemacht zu haben schien. Er war unruhig, teilte Befehle aus, traf mancherlei Anstalten und schien mit einem großen Vorhaben beschäftigt. Das ganze Haus war in einer ängstlichen Bewegung, und niemand wollte und konnte sich um mich bekümmern. Ich flüchtete, wie immer in ähnlichen Fällen, zu meinem Buche. Zufällig hatte ich eben das Kupfer aufgeblättert, wo Leonidas den Paß von Termopylä verteidigt, als mein Vater in den Saal trat und hinter mir stehenblieb. »Sie starben für das Vaterland!« sagte er nach einer kleinen Pause und legte die Hand auf meinen Kopf, »dreihundert Helden wehrten der großen Persermacht den Eintritt in das heilige Land der Freiheit!« Ich hatte mich umgewendet und schauete nach ihm auf. Zwei große schwere Tränen hingen in seinen Augen. »Sie taten nur ihre Pflicht!« sagte er und fuhr mit der Hand über die Tränen, lächelte mich an und wiederholte: »Sie taten, was sie mußten!« Da kam meine Mutter herein, Emil auf dem Arme. Sie war sehr bleich und hatte geweint. Schweigend zog sie den Gatten zum Sofa, setzte das Kind auf seinen Schoß und sich neben ihn. Sie umschlang ihn, weinte heftig und rief endlich im Ton der[35] Verzweiflung: »Diesen hülflosen Kleinen könntest Du verlassen? mich? mich?« und sank an seine Schulter. Mein Vater umfaßte sie mit Zärtlichkeit, redete ihr zu, sprach viel von Pflicht und Notwendigkeit. Der Knabe lächelte unbefangen drein und spielte mit des Vaters Locken. Mich mochte die Gruppe an das Bild von Hektors Abschied erinnern, ich schlug es auf und sah ernsthaft bald auf Hektor, bald auf den Vater. Endlich richtete sich meine Mutter wieder auf und blickte mich an. »Virginia!« rief sie, »umarme die Knie deines Vaters! flehe ihn, daß er uns nicht verlasse!« – »Die Frau da«, antwortete ich in meinem kindischen Sinn und zeigte auf das Bild, »die Frau da weint nicht, daß der Vater seine Pflicht tun muß. Sie hält ihn nicht, Virginia darf ihn auch nicht halten.« – »Römermädchen!« rief mein Vater und riß mich in seinen Arm. Aber ein verzweiflungsvoller Blick meiner Mutter fiel auf mich, und in demselben Augenblick sank sie leblos zu Boden. Ich stürzte mich mit Geschrei und Tränen über sie hin. Mein Vater hob sie in seine Arme, sie wurde zu Bett gebracht, und ein heftiges Fieber kündigte sich mit den bedenklichsten Zeichen an. Ihre Krankheit dauerte lange, und sie wurde nur dadurch am Leben erhalten, daß mein Vater ihr das feierliche Versprechen ablegte, sie niemals zu verlassen. Meinem Vater mußte es schwer geworden sein, sein Pflichtgefühl, im Kampf mit der Liebe, zum Schweigen zu bringen. Manche seiner spätern unfreiwilligen Äußerungen deuteten darauf. Doch nahm er sich sehr in acht, meine Mutter das mindeste davon merken zu lassen. Über Gefühle dieser Art war ich in der Folge seine einzige Vertraute. In dem Herzen meiner Mutter schien sich, durch diesen Vorfall, eine leise Abneigung gegen mich festgesetzt zu haben. Ich entsinne mich, daß man mich in den ersten Wochen ihrer Krankheit sorgfältig abhielt, sie zu sehen, und daß ich viel darüber geweint. Auch während ihrer Genesung war sie anfangs nicht so gütig gegen mich als sonst; überhaupt lenkte sich ihre Zärtlichkeit mehr auf meinen [36] Bruder. Ich bemerkte dies wohl, aber ohne Neid; denn ich selbst liebte den holden Emil über alles. Du hast ihn wenig gekannt, den freundlichen herzigen Knaben. Er war immer heiter, immer voll Scherz und Fröhlichkeit, und dabei so bieder und treu. Wie hätte man ihn nicht lieben sollen! Überdies war er ja ein Knabe und schien mir schon deshalb jedes Vorzugs wert, je höher mir nach und nach die Wirksamkeit und Tatkraft des Mannes erschien. Ich weinte nur zuweilen im stillen darüber, daß ich ein Mädchen war, eins der unbedeutenden Wesen, von welchen die Geschichte so wenig sagt, während die Taten der Männer jedes Blatt füllen. Nur als Opfer werden sie genannt. Iphigenia, Virginia – nur Opfer für große Zwecke. So glaubte ich, leidende Geduld sei die notwendige Eigenschaft des Weibes; aber mein leidenschaftliches Gemüt stand mit dieser Stimmung im ewigen Widerspruch und störte die Harmonie in meinem Charakter. Mein Vater wurde sehr aufmerksam auf mich und fing an, sich mit Ernst um meine Bildung zu bekümmern. Von ihm lernte ich schon früh Englisch, späterhin auch etwas Deutsch. Ich las unsere vorzüglichsten Dichter und auch die der Ausländer in ihrer Sprache. Mein Gemüt war früh poetisch gestimmt, wozu wohl der provenzalische Himmel vieles beitrug. Doch waren es nicht die leichten Liebeslieder meiner Landsleute, woran ich Geschmack fand, mir stellte sich alles zuerst von der erhabenen Seite dar. Eine Ode über den Krieg war meine erste, sehr geheimgehaltene Arbeit; soweit ich mich ihrer erinnere, freilich sehr fehlerhaft, doch durchaus ohne Vorbild. Überhaupt war ich meist sehr ernst und in mich gekehrt, worüber mich die kleinen Mädchen, meine Gespielen, oft neckten. Ich schwärmte wohl mit ihnen umher und hatte sie alle von Herzen lieb, aber ich war doch nie so ganz Kind als sie. Es machte mir Freude, Blumen mit ihnen zu pflücken und Kränze zu winden, lieber aber saß ich doch mit meinem Vater abends unter unsern Kastanienbäumen und blickte nach dem zahllosen Sternenheere des dunkelblauen [37] Himmels auf. Da war ich unerschöpflich an Fragen, und mein guter Vater antwortete so gern. Er nannte mir die Sternbilder, machte mich aufmerksam auf die Unzählbarkeit der Sonnensysteme, auf die Unendlichkeit des Raumes und der Zeit und knüpfte daran den Begriff von der überschwenglichen Größe und Erhabenheit des Schöpfers. Oft überraschte uns noch die Mitternacht bei diesen Gesprächen, über welche meine Mutter längst eingeschlafen war. Sie liebte diese Unterhaltungen nicht sehr, sahe auch meine fortschreitende Ausbildung nicht allzu gern.

Ihre Kindheit hatte sie, nach der Sitte der Zeit, in einem Kloster verlebt. Weibliche Arbeiten, etwas Lesen und Schreiben und häufige Religionsübungen waren dort alle zu erlangenden Kenntnisse gewesen. Mit diesen hatte sie ausgereicht und nun in meinem Vater das Glück ihres Lebens gefunden; daher bildete sie sich ein, alles, was darüber, sei überflüssig, wo nicht gar vom Übel. Mein Vater ließ sich nicht gern mit ihr in Erörterungen über diesen Punkt ein. Er liebte sie von ganzem Herzen, und sie verdiente es im hohen Grade. Sie war schön und voll Grazie, hatte das beste Herz von der Welt, liebte ihn über alles, war unermüdet für seine kleinen Bedürfnisse besorgt, eine gute Mutter, eine gute Hausfrau, eine Wohltäterin der Dürftigen. Was hätte das Herz eines Mannes noch mehr fordern können? Auch fühlte sich das Herz meines Vaters völlig befriedigt. Doch sein philosophischer Geist empfand nach und nach immer mehr das Bedürfnis eines Wesens, das in seine Ideen eingehen, mit dem er sich über die Gegenstände unterhalten könnte, die ihm die wichtigsten waren. Er hatte oft versucht, sie dafür auszubilden, aber mit wenig Erfolg.

In mir drang sich ihm ein bildsamer Stoff ganz von selbst auf, und mit schöpferischer Liebe legte er Hand an, ohne auf die Menge der Bedenklichkeiten Rücksicht zu nehmen, welche ihn allenfalls davon hätten abmahnen können. Emil, drei Jahre jünger als ich, wurde bald mein treuer Spielgefährte; [38] wir waren ein Herz und eine Seele. Mein Vater schien seine Zärtlichkeit ganz gleichmäßig zwischen uns zu teilen, so wie seine belehrende Sorgfalt. Es war aber sehr natürlich, daß ich einen starken Vorsprung behielt, auch war der Knabe immer mehr in der Sinnenwelt als in der Ideenwelt zu Hause. Es gibt Augenblicke, wo ich ihn deshalb glücklich preise. Aber ach, die Richtung unsrer Seele liegt außer unsrer Macht, geschieht schon, ehe wir uns dieser bewußt werden, und ist fast angeboren.

Wir trieben uns fleißig in der umliegenden Gegend umher und spielten manches verwegene Spiel; ich im romantischen Sinne ritterlicher Vorzeit, er nach wilder Knabenart. So schaukelten wir uns oft in einem Fischernachen auf der wilden Durance und arbeiteten uns mit Stangen längs den Uferkrümmungen hin; Emil, um seine Kräfte zu messen mit der Gewalt des Stromes oder um ein Entennest aufzusuchen, im Schilfe; ich, weil ich in Gedanken Kolumbus begleitete, eine neue Welt zu entdecken und in einer unbekannten Bucht zu landen. Mein Vater kaufte nach einigen Jahren die Ländereien eines benachbarten Klosters, nachdem dieses längst aufgehoben und feilgeboten war. Der Großvater in Aix war gestorben, und ein Teil des Vermögens meiner Mutter konnte nicht vorteilhafter genutzt werden. Diese fühlte wohl anfangs einige Gewissensskrupel darüber, doch wußte sie der Weltgeistliche unsres Kirchsprengels, ein konstitutioneller Priester, zu heben.

Überdies bildete sich bei meiner Mutter der Sinn für Erwerb und Besitz mit den Jahren immer mehr aus. Sie wurde eine äußerst emsige Wirtin und ging in die geringsten Kleinigkeiten ein. Mein Vater ließ sie gewähren; sein Glück ruhete nur auf das Ganze. Ihm war nicht darum zu tun, was er persönlich gewann, sondern wieviel allgemeiner Wohlstand, durch diese oder jene Anlage, verbreitet werden konnte. Für diese seine höheren Zwecke aber war er rastlos [39] tätig, und sein vergrößerter Wirkungskreis ließ ihm bald nur wenig Zeit zum Unterricht für uns übrig; daher er sich, wiewohl ungern, entschloß, von seinem lieben Emil sich zu trennen. Er brachte ihn nach Aix zu einem seiner ältesten Schulfreunde, welcher dort Professor am Lyzeum war. Meine Mutter war mit dieser Trennung sehr übel zufrieden; es beruhigte sie nur wenig, daß ihr Liebling sich in den Händen eines der rechtschaffensten, edelsten Männer seiner Zeit befand und sich in dessen Familie bald so einheimisch als in unserm Hause fühlte. Mir selbst kostete dieser Abschied unzählige Tränen, doch richtete ich mich an dem Gedanken auf, daß es zum Besten meines Bruders sei, ja ich beneidete ihn um sein Los. Er sollte ja Griechisch und Lateinisch lernen und konnte einst die Werke der Alten in der Ursprache lesen, mein höchster Wunsch. Für Emil war diese Aussicht nicht so reizend. Er hatte kein gutes Wortgedächtnis, und das Erlernen fremder Sprachen wurde ihm sehr schwer; dagegen rechnete er mit Leichtigkeit und machte Fortschritte in der Mathematik.


Mit diesem geliebten Bruder schien der Genius der Freude aus unserem Hause gewichen. Meine Mutter vergrub sich, um ihrem Schmerze zu entfliehen, nur tiefer in Geschäfte. Sie fing an, sehr mißfällig zu bemerken, daß mir ein ihr gleicher Sinn für das kleine häusliche Tun und Treiben fehle. Sie wollte mich durch Verweise dazu antreiben, es mangelte ihr aber Geduld, auch ward sie, bei ihrer raschen Tätigkeit, behindert, mich durch allmähliche Gewöhnung dazu tüchtig zu machen. Es fehlte mir nicht an gutem Willen, aber ich wußte es durchaus nicht anzustellen, und ein harter Vorwurf bei einer kleinen Unbeholfenheit scheuchte mich auf längere Zeit von den Geschäften. Ich flüchtete mich in einen einsamen Winkel, zu meinen Büchern. Sie schalt dann zwar heftig auf das Lesen; doch mochte sie es mir nicht ganz verbieten, weil mein Vater es in Schutz nahm und ihren unwilligen Äußerungen immer [40] eine ruhige Freundlichkeit entgegensetzte. »Klärchen, liebes Klärchen«, pflegte er zu sagen, »wolltest du denn, daß alle Bäume deines Gartens nur einerlei Art wären? Der Apfelbaum ist nützlich, aber auch die Granate in ihrer Blüte die Zierde des Gartens. Laß doch Virginien gewähren; willst du gewaltsam in ihre Eigentümlichkeit eingreifen, so zerstörst du ihre innere Harmonie.« Er versuchte nun seinerseits, mich in Tätigkeit zu setzen, und mit weit besserem Erfolg. Er hatte große Maulbeerpflanzungen angelegt und richtete einen Teil der Klostergebäude für den Seidenbau ein. Alle Kinder der Landleute auf seinen Besitzungen wurden aufgeboten zur Wartung und Pflege der Seidenraupen. Die Arbeit war leicht, und auch die Kleinsten konnten Blätter sammeln und den Würmern vorlegen. Kraftlose Greise und Mütterchen, welchen der Feldbau zu schwer war, halfen dabei. Der sehr ansehnliche Ertrag wurde gleichmäßig verteilt und erhöhete den Wohlstand der ganzen Gegend. Ich führte, unter Anleitung des Vaters, die Oberaufsicht, und ganz zu seiner Zufriedenheit. Mit der Morgensonne war ich auf, und immer aufmerksam auf den Gang der Geschäfte, behende und geschickt in allen Handgriffen. Beim Abhaspeln der Seide war ich die fertigste und sorgsamste Arbeiterin. Mit gleichem Erfolge stellte er mich bei der Weinlese an, wo ich dafür sorgte, daß die Beeren, behutsam und eigen, von der Traube gekämmt wurden, welches unserem Wein einen großen Vorzug vor allen Weinen der Provinz gab. Bei allen solchen Geschäften, welche nur tage oder wochenlang dauerten und in großer Gemeinschaft betrieben wurden, war ich unermüdet tätig und in hohem Grade vergnügt und fröhlich. Wir sangen Romanzen und Rundgesänge, erzählten Märchen und Novellen, immer brachte ich neue mit, und jung und alt liebte mich herzlich. Aber wenn ich wieder zurücktrat in den alltäglichen Gang des häuslichen Lebens, da fühlte ich meine Tätigkeit plötzlich gelähmt. Die kleinen, immer wiederkommenden Sorgen des Haushalts vermochten nicht, meine Seele zu füllen, [41] und mein Geist kehrte heißhungrig in die Ideenwelt zurück.

Nicht die Geschichte der vergangenen Zeiten allein war es jetzt, was mich beschäftigte, ich nahm an den Begebenheiten unserer Tage den lebhaftesten Anteil. Von meiner frühesten Kindheit an hatte ich mich gewöhnt, alles nach den Mustern der Alten zu beurteilen, und so mußten meine Ansichten ganz verschieden sein von den Ansichten derer, welche von einem andern Standpunkt auf die Dinge sahen. Mein Vater schien in demselben Falle gewesen zu sein. Als des gutmütigen Ludwig Haupt unter der Guillotine fiel, sah ich ihn tief betrübt. »Es ist traurig«, sagte er, »daß es bis dahin kommen mußte!« O hätte der edle König sich doch gleich anfangs losmachen können von den anerzogenen Begriffen, sich mit Aufrichtigkeit der Sache des Volks angeschlossen – es wäre um vieles anders und besser geworden. Aber es war fast in seiner Lage unmöglich, der Einfluß seiner Umgebungen war zu mächtig, die Ränke der Ausgewanderten und ihrer Verbündeten waren zu eingreifend, es konnte fast nicht anders enden. Er fiel als ein großes Opfer der Freiheit, ein reines schuldloses Opfer! Möge es die unterirdischen Götter versöhnen! Die Nachwelt nennt ihn mit Recht einen Heiligen.

Die Schreckenszeit erfüllte meinen Vater mit Grausen. Sie war aber durch die hohe Erbitterung der verbündeten Mächte fast unvermeidlich herbeigeführt worden. Die Integrität der jungen Republik schien fast nicht anders zu retten als, wenn es sein müßte, mit Aufopferung eines großen Teils der gegenwärtigen Generation. Die Umstände trafen schrecklich zusammen, und die Menschlichkeit mußte der Vaterlandsliebe weichen. Daneben kam so oft die Erhaltung der einzelnen mit der Erhaltung der Nation in Streit, und dieser wird fast niemals ohne Blut geschlichtet.

Meines Vaters sanftes, menschliches Herz litt schmerzlich während dieser Zeit, und er dankte dem Himmel für den Entschluß, sich schon früh in die ländliche Stille geflüchtet [42] zu haben; doch tadelte er auch die härteren Naturen nicht, welche es versuchten, das mast- und steuerlose Schiff des Vaterlandes durch die schäumende Brandung zu führen. Er gedachte oft der beiden Brutus, von welchen der eine seine Söhne hinrichten ließ, weil sie einer Verbindung mit dem verbannten Tarquinius sich schuldig gemacht, der andre den Dolch in den Busen seines Freundes, vielleicht seines Vaters, stieß, als dieser die Republik vernichten zu wollen strebte. Das Schicksal der Girondisten erregte seine Teilnahme im höchsten Grade. Meist waren alle seine Freunde, edle Männer, voll redlichen Eifers für das Beste des Vaterlandes und voll Einsicht, es fehlte ihnen aber die Festigkeit ihrer Gegner, und sie mußten unterliegen, in einem Zeitpunkte, wo Frankreich der Kraftfülle vorzüglich bedurfte. Hätten sie sich dem Vaterlande, durch kluges Zurückziehen bis zum Friedensschluß, erhalten, sie würden es beglückt haben. Mich ergriff besonders das Schicksal der Bürgerin Roland. Oft habe ich in spätern Jahren geweint, wenn ich den ewig unvergeßlichen, einer Römerin würdigen Brief las, welchen sie aus dem Gefängnisse geschrieben. Selbst Charlotte Corday, meine gefeierte Heldin, übertraf dieses große Weib an Charakterstärke nicht.

Als Robespierre gestürzt wurde, atmete Frankreich freier. »Die Menschheit muß sich seines Todes freuen«, sagte mein Vater, »sie wird ihm fluchen, er war ein Tyrann; und doch glaubte er es zu ihrem Besten zu sein. Er war kein Heuchler, nur ein tugendhafter Schwärmer, doch seine Tugend war hart und rauh.«


Waren gleich, nach der Katastrophe vom 9. Thermidor, die Elemente bei weitem noch nicht beruhigt, so hatten doch die fürchterlichsten Ausbrüche des Vulkans nachgelassen, und vertrauter mit ihnen geworden, achtete man der nachfolgenden, immer schwächeren Erschütterungen wenig. Jedes Auge fast wendete sich dem Kriegsschauplatze zu, wo der Ruhm über den französischen Fahnen schwebte. [43] Der alte kriegerische Geist meines Volkes erwachte in neuer Stärke, Galliens Ritterzeiten kehrten wieder. Auch in unsrem friedlichen Tale wurde meistenteils nur vom Kriege geredet. Unsere Knaben warfen Ball und Kreisel beiseite und spielten Kriegsspiele, unsre Mädchen sangen den Marseiller Hymnus. Mein Vater las öfter als sonst die Zeitungen in Gesellschaft seines Freundes, unsers trefflichen Pfarrers, und ihre begeisterten Gespräche dauerten bis spät in die Nacht hinein; ich wurde nicht müde, ihnen zuzuhören. Selbst eine fleißige Zeitungsleserin geworden, stand ich oft schon mit der Sonne auf, um dem Postboten des nächsten Fleckens entgegenzugehn, die Blätter schnell zu durchlaufen und dem Vater schon beim Erwachen eine frohe Siegesnachricht zurufen zu können. Von allen diesen früheren Begebenheiten machte der Übergang über die Bocchetta den stärksten Eindruck auf mich. Hannibal hatte, zur Verwunderung der Römer, diese unwegsame Straße betreten, kein Heerführer nach ihm es gewagt. Nun war Buonaparte der zweite kühne Sterbliche, welcher sich hier Bahn brach. Dieses einzige, damals so angestaunte Unternehmen stellte mit einem Schlag den jugendlichen Helden in Riesengröße vor meine Phantasie. Alle Heroen der Vorwelt, bei deren Taten mein junges Herz gepocht, traten jetzt, in ein einziges Bild verschmolzen, ins Leben, in die Wirklichkeit heraus. Meine Einbildungskraft schmückte dieses herrliche Bild mit allen Reizen männlicher Schönheit und stellte es als Idol auf den Altar meines Herzens.

Du wirst lachen, Adele, aber bedenke, daß ich in der Provence geboren bin, wo man früher und heißer empfindet als in Deinem kalten England, bedenke, daß Gesänge der Troubadours meine Wiegenlieder waren und daß ich in der Ideenwelt, unter Heroenbildern aufwuchs. Die Vergötterung meines Helden schallte mir aus jedem Munde entgegen; mein Vater und der Pfarrer waren von Bewunderung für ihn durchdrungen, und dies steigerte meine Neigung bis zur Schwärmerei. Ich weiß, Adele, nach Deiner [44] leichten Sinnesart spottest Du über diese abenteuerliche Liebe, aber ich erröte nicht. Ich ergötze mich noch in diesem Augenblick an den verblichenen Farben jener Gefühle und würde die ganze Wirklichkeit meines jetzigen Lebens um die Träume meiner Kindheit geben. Ich schäme mich selbst nicht, Dir mein kindisches Opfer zu erzählen, dessen Grund ich damals, sowie überhaupt meine Neigung, tief verhehlte. Als mein Held nach Ägypten ging, erbebte ich; noch mehr, als unsre Flotte geschlagen und ihm der Rückweg abgeschnitten schien. Da schlich ich mich eines Abends in die entlegene Waldkapelle und kniete vor dem Altar der Heiligen Jungfrau nieder. Es dämmerte schaurig um mich her, die efeuumrankten, buntgemalten Fensterscheiben ließen nur spärlich das Licht der untergehenden Sonne ein. Mitten im Gebet schnitt ich meine langen, schönen Locken ab, legte sie auf den Altar und sprach laut das Gelübde aus, mein Haar nicht eher wieder wachsen zu lassen, es nicht eher wieder mit Blumen zu schmücken, bis er zurückgekehrt sei, den ich dem Schutz der Gebenedeiten und allen Heiligen empfahl. Indem ich mich aufrichtete, brach ein Strahl der scheidenden Sonne durch ein Fenster hinter mir und rötete das Angesicht der Jungfrau, welche mir zu lächeln schien. Voll freudiger Hoffnung ging ich nach Hause, wo mich alle mit Erstaunen empfingen. Hocherrötend gestand ich, mein Haar auf dem Altar der Jungfrau geopfert zu haben, und gab stockend als Grund an, einmal gelesen zu haben, daß die griechischen Mädchen, beim Austritt aus der Kindheit, eine Locke den Grazien zu opfern pflegten. Meine Mutter schalt sehr heftig und konnte sich gar nicht zufriedengeben. Mein Vater schien den Sinn meines Opfers zum Teil zu ahnden. Er legte lächelnd die Hand auf meinen Scheitel. »Kleine Schwärmerin«, sagte er, »vielleicht dachtest du auch an jene Weiber, welche ihr Haar zu Bogensehnen hergaben, als Opfer für das Vaterland!« Erglühend küßte ich seine Hand. »Beruhige dich«, fuhr er fort, »die Gelübde der Unschuld sind gewiß der Gottheit angenehm.«

[45] Um gleich in der Reihefolge dieser Neigung zu bleiben, will ich hier erzählen, was sich erst zwei Jahre später begab. Ich hatte mein zwölftes Jahr angetreten, unser Emil war seit einigen Wochen von uns geschieden, um, wie ich schon früher gesagt, in Aix erzogen zu werden. Buonaparte war aus Ägypten zurückgekehrt, er hatte das von Faktionen zerrissene Vaterland gerettet, die Flamme des greulichen Bürgerkrieges gelöscht und mit kräftiger Hand das Steuerruder des Staates gefaßt. Auf ihn gründeten alle Parteien ihre Hoffnungen. Die Gemäßigten hofften feste Ordnung und Gesetzlichkeit – und täuschten sich nicht; die Republikaner Freiheit – man ließ ihnen soviel davon in Form und Wesen, als sich nur mit der Größe des Reichs und dem Grade seiner moralischen Bildung vertrug; die Ausgewanderten Wiederherstellung der alten Zeit und der Bourbons – sie mußten sich betriegen; die Aristokraten, die Ehrgeizigen Glanz und Würde – sie haben davon mehr durchgesetzt, als gut war. Der Erste Konsul wurde von ganz Frankreich vergöttert. Der kühne Held ging wieder über den Simplon, auf unwegsamen Pfaden, sein treu es, begeistertes Heer trug das Geschütz auf den Schultern hinüber. Der Sieg bei Marengo wurde erfochten, und die Völker Italiens wurden frei. Jedes Gemüt, welches sich von dem klassischen Boden angezogen fühlte, war leidenschaftlich bewegt; man hoffte, die Nachkommen der Griechen und Römer würden aus ihrem langen Schlaf erwachen.

Wir hatten die frühe Weinlese begonnen, als der Sieger bei Marengo von seinem Zuge zurückkehrte. Er hatte aus Laune, vielleicht auch, um diesen Landstrich näher kennenzulernen, die gerade Straße verlassen, gedachte bei Avignon über die Rhône und durch Languedoc erst nach Paris zu gehn. Ein Zufall führte ihn nach Chaumerive. Mein Vater beeilte sich, dem Ersten Konsul seinen Glückwunsch zu bringen. Er hatte diesen, als Jüngling, in den ersten Monden der Revolution kennengelernt und Gelegenheit gehabt, ihm einen Dienst zu erweisen. Buonaparte erinnerte[46] sich dessen sogleich, als er meinen Vater erblickte, und zeigte sich demselben äußerst verbindlich und liebenswürdig. Er unterrichtete sich über seine ganze Lage und näheren Verhältnisse und pries ihn glücklich in seinem unbekannten, ruhigen Leben. »Mir wird es so gut nie werden!« setzte er mit einem tieferen Atemzuge hinzu, »ich bin an Ixions Rad gebunden.«

Indem kam ich von den Weinbergen daher. Ich hatte die schönsten Trauben und Pfirsichen, welche meine Mutter so sehr liebte, in ein Körbchen gesammelt und für diese mitgebracht. Im Vorbeigehn an einem Lorbeergebüsch hatte ich einige der schönsten Zweige gepflückt, sie spielend zu einem vollen Kranze gewunden und über die Früchte gelegt. »Virginia!« rief mein Vater mir entgegen, »dein Lieblingswunsch ist erhört. Du siehst hier den größten Helden des Jahrhunderts vor dir.« Wie vom Blitze gerührt, blieb ich stehen. Er war es, Er! der Gedanke meiner einsamen Stunden, der Traum meiner Nächte. Wie ähnlich meinem Bilde und wie unähnlich zugleich? Du hast sein Gemälde von David gesehen, es gleicht; nur freundlicher war sein Mund, sein Lächeln bezaubernd. Ebenso liebenswürdig hatte meine Phantasie ihn gemalt, nur größer die Verhältnisse. Aber was sie ihm nicht zu geben vermocht, war die Hoheit seines Auges, dieser Herrscherblick, welcher mich im Nu so tief und klein vor ihn stellte, daß ich die Augen nicht zu erheben wagte. Ich, die geborene Republikanerin und stolz auf Freiheit, Gleichheit und Menschenwert, kniete vor ihm nieder, ohne zu wissen, was ich tat, und legte das Körbchen mit dem Kranze zu seinen Füßen. Er hob mich mit einiger Verlegenheit auf, küßte mich auf die Stirn, nahm den Korb und dankte in abgerissenen Worten für die feine Überraschung. »Virginia stellte in dem Augenblicke das dankbare Vaterland dar«, sagte mein Vater. »Ich bin dem Vaterlande viel größere Dankbarkeit schuldig«, erwiderte der Held, indem eine freundliche Neigung gegen mich den Worten Doppelsinn gab. »Wollte der Himmel«, [47] setzte er hinzu und nahm eine Traube, »daß meine Lorbeern für dasselbe immer von so süßen Früchten begleitet sein möchten!« Bald darauf reiste er ab, indem er meine Gabe eigenhändig zum Wagen trug, aus welchem er mich noch mehrere Male, mit Hand und Blick, grüßte. Ich blieb in einer sehr veränderten Stimmung zurück. Meine Phantasie schwieg, aber ich fühlte mich von einer Ergebenheit durchdrungen, welche ich, bei meiner freien Erziehung, selbst nicht für meinen Vater empfunden. Dieser war mit der Szene nicht so ganz zufrieden. »Die Überreichung des Lorbeers und der Früchte war ganz hübsch«, sagte er, »ich hätte sie aber stehend dargebracht.« – »Ich konnte nicht anders«, erwiderte ich, »eine höhere Macht warf mich nieder, wie vor dem Beherrscher des Erdkreises.«

Der Nachklang jenes Gefühls hat immerfort in meiner Seele leise getönt, als dieser kleine Vorfall in meinem Kreise längst vergessen war und ich selbst seiner kaum mehr gedachte. Überhaupt ist vorherrschende Eigenschaft meines Gemüts, daß es einmal empfangene Eindrücke mit fast starrer Treue bewahrt. Ich kann durchaus nicht wechseln mit Neigung und Abneigung, vielleicht mit daher, weil meine Neigung so ganz frei von aller Selbstsucht entsteht. Die Welt liebt und haßt nur nach eigenem Vorteil; sie vergöttert, was ihr zu frommen scheint, verdammt, was ihr schädlich zu werden droht; und scheint sie auch einmal für eine Idee zu handeln, gewiß liegen hinter dieser Idee Wohlleben, Glanz und Putz als Grundursachen derselben tief versteckt.


Ruhe, Wohlstand und Ordnung wurden immer mehr in Frankreich hergestellt und gesichert. Das Volk fühlte sich geehrt und glücklich; es wünschte sich den Schutzgott seines Glücks auf immer zu erhalten und kam den Wünschen Napoleons entgegen, welcher endlich den Kaisertitel annahm und sich mit allem Glanze des Thrones umgab, wodurch er sich vielleicht einen sicherern, Ehrfurcht gebietenden Standpunkt[48] gegen das Ausland und seine Ränke zu geben glaubte. Gewiß hatte desselben rastlose Einwirkung den größten Anteil an dieser Katastrophe. Die Ausgewanderten und ihre Verbündeten sahen sich in ihren Erwartungen getäuscht und schnaubten Rache. England fürchtete für seine Alleinherrschaft über die Meere, wenn Frankreich, unter der Regierung eines kräftigen Geistes, die Hülfsquellen benutzen lernte, welche die Natur ihm verliehen; und folglich wendete es seinen ganzen Einfluß auf dem festen Lande dazu an, den gefährlichen Nebenbuhler niederzudrücken. Der Kontinent ist nur zu willig gewesen, in seine Absichten einzugehen, und wahrscheinlich wird erst nach einem halben Jahrhundert einleuchten, welche Fehlgriffe man getan.

Mein Vater war über diese neuen Ereignisse betroffen und verstimmt. Er hatte sich für die Idee eines Ersten Konsuls den großen Washington zum Muster genommen. Der Pfarrer redete ihm auf vielfache Weise zu; er machte ihn aufmerksam auf die große Verschiedenheit in der Lage der beiden Reiche. »Dort bildete sich erst ein Staat«, sprach er, »hier war einer zerstört. Amerika war menschenarm, die Geisteskultur dort noch nicht sehr ausgebreitet, und die Sitten waren einfach. Welch ein Unterschied in Frankreich, wo Übervölkerung, Überbildung und Luxus die höchste Reibung hervorbringen mußten. Amerika war durch Meere gesichert, Frankreich rings von scheelsüchtigen, schlagfertigen Nachbarn umgeben, es bedurfte eines Heldenarmes zu seiner Aufrechthaltung. Aber dieser Führer durfte nicht dem Wechsel unterworfen bleiben, wenn die innere Ruhe nicht gefährdet werden sollte; er mußte mit Glanz umgeben werden, weil leider Eitelkeit die Schoßsünde meines Volkes ist.«

Soweit der Pfarrer. Er ehrte vorzüglich Napoleon, weil dieser die Religion schützte und aufrechthielt; auch meine Mutter nahm deshalb lebhaft seine Partei. Mein Vater ehrte die Religion und das höchste Wesen mit der größten [49] Innigkeit; er behauptete aber, jene bedürfe keines besonderen Schutzes, der herrschende Kultus sei nur das Kleid, nicht das Wesen der Religion. Ich schwieg zu allen diesen Verhandlungen, aber meine Überzeugung war auf seiten des Pfarrers. Damals hatte ich die Geschichte Caesars und seines Zeitalters fleißiger als je studiert. Ich konnte zwar dem Brutus meine Achtung nicht versagen, es leuchtete mir aber ein, daß er von dem neidischen Cassius und seinen Mitverschworenen irregeleitet worden und daß er über seine grübelnde Philosophie das Studium seines Volkes und seiner Zeit versäumt habe. Eines Caesars bedurfte Rom; es mordete ihn und fiel in die Hände eines listigen Octavius.

Soviel man aber auch stritt, ob Napoleon hätte die Krone annehmen sollen, so hörte ich doch nie einen Zweifel gegen die Rechtmäßigkeit des Besitzes. Der Thron war durch den Gesamtwillen des Volkes schon seit fast zehn Jahren erledigt, und der jetzige Inhaber hatte ihn, nachdem er das Reich vom Untergange gerettet, mit Zustimmung der Mehrzahl bestiegen. Wenige Dynastien werden ihren Ursprung aus einer besseren Quelle herleiten können. Daß der Thron noch Prätendenten hatte, konnte dem Volke kein Hindernis scheinen, da es die Ansprüche dieser nicht anerkannte; ja selbst das Ausland konnte nicht ohne Heuchelei diesen Grund als Ursache seiner Abneigung angeben; denn die Geschichte erhält noch in sehr frischem Andenken, daß die Moralität von Europa sich gar nicht beleidigt fand durch die harte Zurückweisung und Zurücksetzung der englischen Prätendenten. Daß Napoleon aus keiner fürstlichen Familie herstammte, konnte der Mehrzahl des Volkes kein Ärgernis sein. Der Freiheitsgeist unterwirft sich lieber dem Genie als der Geburt; nur Neid und Ehrgeiz fragten ganz insgeheim: »Warum nicht ich?« Die Fürstenhöfe freilich hatten, von ihrem Standpunkte aus, eine andre Ansicht. Ihren Dienern und Anhängern ist Moses' Schöpfungsgeschichte bloß deshalb eine Fabel, weil, nach seiner Erzählung, nur [50] ein Menschenpaar geschaffen wurde. Gern möchten sie den Mythos der Schöpfung dahin ausbilden, daß Gott Fürsten, Adel, Priester, Bürger und Bauern, jedes als ein eigenes Geschlecht, geschaffen, wie Wölfe, Füchse, Hasen und Schafe. Mir hat immer so geschienen, als habe diese Ansicht das Unglück der Welt gemacht. Wirkungen und Rückwirkungen sind einander so unaufhaltsam gefolgt und begegnet, daß die Mitwelt schwerlich ohne Parteilichkeit darüber ein Endurteil sprechen kann.

Meinem Vater schienen sich nach und nach dieselben Bemerkungen aufzudrängen. Er hatte den Frieden von Amiens benutzt, um persönlich beim Ersten Konsul Eure Rückkehr auszuwirken, ein Beweis, wie sehr er den mächtigen Mann ehrte, keinen andern hätte er darum gebeten. Ihr wurdet von der Liste der Ausgewanderten gestrichen.

Deine gute Mutter benutzte die erteilte Erlaubnis, um ihrer geschwächten Gesundheit willen und um ihren geliebten Bruder wiederzusehn, mit vieler Freude; Dein Vater gab seine Einwilligung, wahrscheinlich aus ökonomischen und politischen Rücksichten, und so kamst Du, meine geliebte Adele, mit Deiner Mutter zu uns. Welch ein Fest gab das in unserem Hause! ein neues Leben ging für uns alle auf. Ich war damals vierzehn, Du noch nicht viel über acht Jahr alt, aber wie innig schlossen wir uns aneinander! Es war nicht der Begriff der Blutsverwandtschaft allein, was mich so an Dich kettete, ob wir uns gleich beide längst im stillen eine Schwester gewünscht und diese nun ineinander fanden. Meine Eigentümlichkeit trug vieles zu unserem zärtlichen Verhältnisse bei. Es war eine Eigenheit an mir, daß die Gesellschaft der Mädchen meines Alters mir selten zusagte; viel lieber hörte ich den Gesprächen ernsthafter Männer zu oder spielte mit den kleineren Mädchen, welche sich durch diesen Vorzug sehr geschmeichelt fühlten und mit anbetender Liebe an mir hingen. Alle Kinder in unsern Dörfern versammelten sich liebkosend um mich her, wo ich mich blicken ließ, und ich wurde ihres frohen Getümmels [51] niemals müde, nie müde, ihre kindischen Fragen zu beantworten. Mit liebender Sorgfalt nahm ich mich ihrer an, belehrte sie, schmückte sie und wußte ihnen hunderterlei kleine Freuden zu bereiten. Kurz, nächst der Ideenwelt zog mich die Kinderwelt am meisten an.

Nun erschienst Du, das schönste Kind, welches ich jemals gesehen. Dein blaues Auge, Deine goldenen Locken und die zarte weiße Gesichtsfarbe unterschied Dich von allen unsern provenzalischen Mädchen. Der kalte, englische Ernst hatte in Dir die französische Lebhaftigkeit zur sanftesten, einnehmendsten Heiterkeit gemäßigt. Uns allen kamst Du vor wie ein Engel auf einem Gemälde. Deinerseits fandest Du wieder die höchste Freude an unserm südlichen Leben, Dir war, wie den Kindern sein mag, welche man lange gewickelt und denen man nun auf einmal ihre Bande löst. Dir schienen, wie Deine Mutter sich ausdrückte, Flügel gewachsen zu sein. Hättest Du doch immer bei uns bleiben können! Aber so waren es nur drei kurze Jahre, welche wir vereint blieben, unzertrennlich diese ganze Zeit über. Deine Mutter ging nach Paris und knüpfte dort, nach dem Willen Deines Vaters, viele ihrer alten Bekanntschaften wieder an; Du bliebst unterdessen in unserm Hause, wo Du ganz als zweite Tochter behandelt und geliebt wurdest. Du hast es kennengelernt, unser glückliches Haus; Dir brauche ich es nicht zu wiederholen, wie Liebe und Zufriedenheit darin herrschten. Du kennst des Vaters freundlichen Ernst, seine belehrenden Gespräche, seine launigen Scherze, wenn er die oft zu geschäftige Mutter mit Gutmütigkeit neckte. Du weißt, wie sorgsam die treue Mutter war, wie sie Dich liebgewann und manche kleine Vernachlässigung nachsahe, wenn ich sie um Deinetwillen beging. Du hast den herrlichen Emil gesehen, wenn er während der Ferien uns zu besuchen kam. Du weißt, mit welcher grenzenlosen Freude er empfangen wurde, nachdem er schon mondenlang vorher den Tag, fast die Stunde seiner Ankunft bestimmt hatte. Du weißt, mit welchem Jubel die Dienstleute, Einwohner [52] und die Kinder des Dorfes herbeieilten, um den Allgeliebten zuerst zu begrüßen. Wie war er da unaufhörlich bemüht, uns Vergnügen zu bereiten, unsre Spiele und Tänze zu beleben, unsre Gesänge mit seinem rührenden Flötenspiel zu begleiten. Er war die Seele unsres jugendlichen Kreises. Du wurdest bald das Ideal seines jungen Herzens, und Dein Bild hat ihn bis zum letzten Schritte begleitet. Oh, daß das Herrliche und Schöne so schnell vergänglich ist! während das Gemeine und Schlechte alle Stürme überdauert. Treffliche Menschen sind gleich zarten Blumen, sie können dem glühenden Strahle des Mittags und dem eisigen Hauche des Nordens nicht widerstehen. Das Unkraut wuchert fort. Welch ein Unkraut muß Deine Virginia sein, daß sie den Verlust all ihrer Lieben überleben konnte? Sie steht da wie die einsame Distel auf Schottlands öder Heide, welche der verlassene Sänger der Vorzeit so rührend in der Nacht seiner Schwermut besingt.


Ich kann über jenen Zeitraum sehr kurz hinwegeilen, Du hast damals alles gemeinschaftlich mit mir erlebt, auch war es in bezug auf uns nicht viel Merkwürdiges. Unsre Tage flossen gleichförmig und fröhlich dahin; unsre Herzen schlugen ruhig, ungeachtet Du anfingst, in das jungfräuliche Alter hinüberzugehn, welches ich schon angetreten hatte. Dank sei meinem Vater, dessen Sorgfalt unserm Geiste immer einen erhabenen Vorwurf zu geben wußte, so wie er unseren Vergnügungen die Kindlichkeit zu erhalten verstand. Deine Mutter kehrte nach einiger Zeit zu uns zurück, sie hatte weder Neigung noch Geschick, für die Plane Deines Vaters zu wirken. Sie war in Paris auf das beste empfangen, man gedachte allgemein ihrer Auswanderung nicht, weil der Kaiser, aus wohlwollender Rücksicht für meinen Vater, es so zu wollen schien. Die ehemalige Herzogin von Rochefoucauld, eine ihrer Jugendfreundinnen, stellte sie der neuen Kaiserin vor, und die gütige Josephine nahm sie mit all der Liebenswürdigkeit auf, welche in ihrem schönen [53] Gemüte lag. Sie war im Herzen tief gerührt von der erfahrnen zarten Behandlung und äußerte dies in ihren Erzählungen so mannigfaltig. Gegen Deinen Vater hat sie dies aber in ihren Briefen nicht gewagt. Sie suchte ihn nach ihrer Art dadurch zu besänftigen, daß sie in seine Vorstellungsart einging, wohl wissend, wie sehr es ihn aufbringen würde, daß sie seine Zwecke meist verfehlt. Seine Antwort, welche erst spät und, wegen des wieder ausgebrochenen Krieges, auf Umwegen zu uns gelangte, atmete Zorn und Mißmut. Er befahl Deiner Mutter, unverzüglich mit Dir zurückzukehren. Gern hätte die gehorsame Gattin Folge geleistet, aber alle Verbindung mit England war auf das strengste gehemmt; selbst Briefe dahin zu befördern war mit großer Schwierigkeit verknüpft. So verzögerte sich, zu unsrer Freude, diese gefürchtete, so oft angesetzte und ebensooft vereitelte Abreise bis zum Jahre 1806, wo man endlich wagte, den Rückweg durch Deutschland, über Hamburg, anzutreten. Schmerzhafte Trennung von allen Seiten! Wir zerflossen in Tränen. Meine lebhafte Mutter schalt mitten in ihren Tränen auf den Krieg, schmähete den König von England, die Ausgewanderten, die Revolution, ja selbst den Kaiser. Sie warf alles durcheinander und suchte bei jedem Leiden immer eine nächste Ursache, an welcher sie sich ihres heftigen Gefühls entladen konnte. Mein Vater und Deine Mutter hielten sich lange sprachlos umarmt; sie fühlten, es war die letzte Umarmung für dieses Leben. Ungeachtet eine Ahndung dieser Art, in ihrer Lage, recht sehr natürlich war, so konnte doch damals wohl niemand glauben, auf welche unwahrscheinliche Weise sie in Erfüllung gehen sollte.

Eure Abreise ließ lange eine unausfüllbare Lücke in unserm häuslichen Dasein zurück. Vorzüglich litt meine sonst so starke Fassung einen gewaltigen Stoß. Dein Brief, welchen Du mir von Hamburg aus schicktest, war das erste freudige Ereignis, welchem mein Herz entgegenschlug; und doch war dieser Brief selbst so traurig, daß er mir tausend [54] Tränen entlockte. Du fühltest die Trennung so sehr als ich; Du hattest Dich in dem fröhlichen Frankreich schon gänzlich eingebürgert; England und Deine früheren Verbindungen waren Dir so fremd geworden, ja es hatte sich sogar eine gewisse Abneigung gegen jenes Inselland in Dir festgesetzt, seit Du in unserm Hause täglich über seinen unredlichen, engherzigen Kaufmannsgeist reden gehört. Daneben schildertest Du mir mit den dunkelsten Farben eines trauernden Gemütes die Szenen des Elends, welche Dir auf Deiner Reise als Folge des Krieges bemerkbar geworden; auch hier litt meine Seele mit Dir. Wehe dem Volke, über dessen Fluren die blutige Eris hinschwebt! Der Soldat kann der Halmen nicht schonen, über welche sein rastloser Fuß hineilt. Die Selbsterhaltung, dieses erste Gesetz in der organischen Natur, zwingt ihn in den Naturzustand zurück, wo die Güter gemein sind und die Stärke zuerst Besitz ergreift. Hier kann von keiner Moralität die Rede sein. Die Ursache der Kriege kann allein vom Moralisten beurteilt werden; gewöhnlich aber ist sie so verwickelt, daß nicht leicht ein bündiges Urteil gesprochen werden kann.


Vorzüglich ist dies mit Frankreichs Kriegen, seit dem Ausbruch der Revolution, der Fall. Frankreich hatte nichts Feindseliges gegen seine Nachbarn im Sinn, es brach nur das Joch, dessen Last ihm je länger, desto unerträglicher wurde. Es war bisher von der Willkür einzelner gedrückt worden, mithin sehr natürlich, daß, wenn dieser Druck aufhören sollte, die Willkür dieser einzelnen vernichtet werden mußte. Da schrien nun die einzelnen Feuer, und die Nachbarn ergriffen die Gelegenheit mit Begierde, in das verschlossene Haus einzudringen, unter dem Vorwande, zu löschen. Aber mit welchem Rechte? Die Bewohner verbrannten nur einen Teil ihrer durch Krankheit verpesteten Kleidungsstücke und Geräte und würden schon allein Herr des Feuers geworden sein, hätten die unberufenen Helfer nicht die Türen gesprengt und so, durch die Zugluft, die [55] Flamme zum wütenden Ausbruch angefacht. Hätten sie doch draußen zur Sicherung ihrer eigenen Gebäude ihre Löschanstalten nach Belieben in Tätigkeit gesetzt, niemand würde es ihnen verargt haben. Aber die Verletzung des Hausrechts empörte die Bewohner, sie warfen die Eindringenden auf die Strafe hinaus und verfolgten sie bis in ihre eigenen Häuser, Wiedervergeltung zu üben. Nun war der Dämon des Krieges losgelassen, und keine menschliche Macht vermochte ihn wieder zu fesseln. Er kehrt nicht so gehorsam zurück als der zahme Falke, der auf den Ruf des Trägers abläßt von seiner Beize und sich still wieder mit seiner Nebelkappe bedecken läßt. Darum sollten die Fürsten zittern, wenn sie ein Kriegsmanifest unterschreiben. – Die Rachgier der Angreifer wuchs mit jedem Verlust, und ihre Friedensschlüsse, von der Erschöpfung herbeigeführt, wurden bei der Unterzeichnung insgeheim von ihnen nur als Waffenstillstände betrachtet. England wußte die Empfindlichkeit der alten Dynastien immer in Atem zu erhalten, es sparte weder Geld noch Vorspiegelungen, sie immer zu neuen Anstrengungen zu reizen, und zog allein Nutzen aus der allgemeinen Verblendung. Zu spät wird das Festland beklagen, was es, diesem Handelsdespoten gegenüber, versehen. Vergebens hat die Republik, vergebens späterhin oft der Kaiser die Hand zum Frieden geboten; man verweigerte ihn oder schloß ihn mit falschem Herzen. Frankreich mußte immer für seine Selbsterhaltung, für seine Freiheit fechten; um nicht Gesetze anzunehmen, mußte es sich in die Lage setzen, selbst Gesetze zu geben; seine Eroberungen waren mehr Notwehr als Ehrgeiz. Die Fürsten hatten den Streit begonnen, die Fürsten setzten ihn fort, aber die Völker empfanden am härtesten seine blutige Geißel. Die Masse gleicht dem Kinde, welches den Tisch schlägt, woran es sich stieß, und so war es ein leichtes Spiel, Frankreich als die Ursache aller Übel zu verschreien, welche die Zeit mit sich führte.

[56] Von diesem Abschnitte meines Lebens an gewöhnte ich mich, fast ebensoviel zu schreiben, als ich bisher gelesen. Ich war gewohnt, Dir alle kleinen, mich betreffenden Ereignisse zu erzählen, sogar alles, was ich bei dieser und jener Veranlassung gedacht und empfunden hatte. Diese liebe Gewohnheit setzte ich schriftlich fort, und man hätte ein eigenes Paketboot für meine Korrespondenz einrichten können. Da es aber überall keins gab, so mußte von Zeit zu Zeit ein großer Teil meiner in Hoffnung geschriebnen Briefe den Flammen geopfert werden. Ich war dann jedesmal sehr traurig, aber niemals unwillig. Das Kontinentalsystem leuchtete mir zu sehr ein, als daß ich mich nicht gern jeder daraus entspringenden Unannehmlichkeit unterzogen hätte, so empfindlich sie meinem Herzen auch war. Mein Vater nannte diese Maßregeln weise und wohltätig in ihren späteren Folgen, sowohl für Frankreich als für das übrige feste Land, wenn man sie allgemein mit gutem Willen ergreife. Meine wirtschaftliche Mutter war sehr dagegen, weil der Preis der Kolonialwaren dadurch in die Höhe ging; sie wurde aber von dem Triumvirate überstimmt, welches aus meinem Vater, dem guten Pfarrer und mir bestand. Wir waren zu jeder Entsagung bereit und unerschöpflich in Erfindung von Surrogaten. Ich fing an, alle dienlich scheinenden Blumen und aromatischen Blätter, bei ihrem zarten Hervortreiben, sorgsam zu trocknen, und es gelang mir, durch vieles Versuchen und Zusammensetzen, eine Mischung zu treffen, welche dem chinesischen Tee sehr nahekam. Mein Vater pflanzte Farbekräuter und legte eine Fabrik von Zucker aus Runkelrüben an; mir machte es große Freude, bei dieser Anlage, durch Aufsicht, mitzuwirken. Der Pfarrer legte sich fleißig auf Bienenzucht und erfand eine Vorrichtung, dem Gespinste des Flachses eine größere Vollkommenheit zu geben. So sahen wir ruhig auf die Isolierung des Kontinents und den Verlust der ehemaligen Kolonien. Wir bekämpften den Erbfeind mit unblutigen Waffen. Lehre und Beispiel pflanzten sich immer weiter [57] fort; Nationalindustrie ward überall belebt, brachte Nationalwohlstand hervor, und der Sieg war entschieden, hätte der allgemeine Feind nicht unter den andern Völkern verblendete Helfer gefunden. Auf mich hatte dieser kleine Krieg einen ebenso vorteilhaften Einfluß als auf Frankreich, er weckte mich zur Tätigkeit. Bis dahin war ich nur unterbrochen körperlich beschäftigt gewesen, von jetzt an war ich rastlos aufmerksam, daß alles auf das beste geschah, daß man haushälterisch wirtschaftete, das Fehlende ergänzte, das Vorhandene vervollkommnete. Ich wendete die Lehre, welche die Nation erhielt, auch auf mich als Einzelwesen an, daß man nur dadurch sich unabhängig erhält, wenn man alle seine Bedürfnisse selbst befriedigen lernt. Alle die mechanischen Fertigkeiten, welche Du jüngst mit einigem Erstaunen an mir wahrgenommen, haben jener Richtung meiner Ansicht ihren Ursprung zu danken. Da sich sowenig Gelegenheit absehen ließ, einen ordentlichen Briefwechsel mit Dir anzufangen, so belebte ich wenigstens die schriftlichen Unterhaltungen mit meinem Bruder, welche größtenteils Dich zum Gegenstande hatten. Er bewahrte Dein Bild in treuem Herzen und nährte zugleich die angenehme Hoffnung, Dich auf irgendeine Weise bald wiederzusehen. Nächst diesem reichhaltigen Stoffe unterhielt er mich fleißig von einem Freunde, welcher um vier Jahre älter war als er. Mucius war der Sohn seines väterlichen Lehrers. Beim Eintritt in das Haus desselben fühlten sich beide schon sehr zueinander hingezogen, doch war damals der Unterschied der Jahre, bei der früher fortgeschrittenen wissenschaftlichen Bildung des Freundes, noch sehr bemerklich; aber Emils schönes Gemüt und seine schnell reifende Vernunft glichen den Abstand nach und nach völlig aus. Von seinem Freunde hatte mein Bruder mir unaufhörlich zu erzählen, und es wurde mir bald Gewohnheit, am Schlusse meiner Briefe ihm einen Gruß an seinen Pylades aufzutragen. Mucius erwiderte diese Aufmerksamkeit durch einige sehr artige Verse, welche er unter einen Brief meines Bruders schrieb. [58] Ich antwortete durch ein kleines Gegengedicht, ebenfalls in einem Briefe an Emil, und so entspann sich ein mittelbarer Briefwechsel, welcher mich, durch seine romantische Natur, unendlich reizte. Die Artigkeit ging in Gefühl über, und ein dunkles Sehnen bemächtigte sich unsrer Herzen.


Schon als Du noch bei uns warest, freutest Du Dich der Gewohnheit meines Vaters, beim Anfange jedes Frühlings eine kleine Reise mit uns zu machen; nach Deiner Abreise wurden diese Ausflüge in jedem Jahre wiederholt und erweitert. Wir hatten Marseille und Hieres, dann Genf und seine schönen Umgebungen besucht. Die Gesundheit meiner Mutter hatte ebensoviel Anteil an diesen Reisen als das Vergnügen. Sie hatte besonders im Winter des Jahres 1808 sehr an Nervenzufällen gelitten, weshalb wir uns früher als gewöhnlich auf den Weg machten, um, nach dem Rate der Ärzte, nach Montpellier zu gehen. Wir nahmen unseren Weg über Beaucaire und durchschnitten dann die Bergkette gerade auf Bellegarde, wo mein Vater ein Geschäft abzutun hatte. Es war in den ersten Tagen des Februars, die Nordseite der Berge war noch hin und wieder mit Schnee bedeckt, aber in den Tälern sproßte schon das üppigste Grün, Veilchen und wilde Hyazinthen blühten an den sonnigen Abhängen, die majestätischen dunklen Tannen trieben schon ihre goldgrünen Sprossen, Finken und Grasemücken jubelten durch die neubelaubten Gebüsche. Schon waren wir nahe am Ziel unseres nächsten Ruhepunktes, man konnte schon von einer höheren Stelle des Weges die Turmspitze von Bellegarde erblicken, als beim Hinabfahren in einen Hohlweg der Wagen umwarf. Wir kamen zwar fast ohne alle Beschädigung davon, aber der Wagen hatte eine desto stärkere erhalten, so daß es schlechterdings unmöglich war, sich seiner ferner zu bedienen. Wir mußten uns also entschließen, bis zum nächsten Dorfe zu Fuße zu gehen, wobei der Vater und ich meine vor Schreck halb tote Mutter führten. Im Wirtshause war gar kein Aufenthalt [59] möglich, aber der Förster, welcher am Ende des Fleckens wohnte, nahm uns mit herzlicher Gastfreiheit auf. Er bot sogleich eine Menge Bauern auf, unsre Sachen vom Wege zu holen und unseren Wagen bis zur Schmiede zu schleppen. »Ich würde Ihnen zur Fortsetzung Ihrer Reise mein eigenes Fuhrwerk anbieten«, sagte er, »wenn ich solches nicht meinem Neffen entgegengesendet hätte, welcher mich heut zu besuchen kommt. Sie werden sich daher ein Nachtlager bei mir gefallen lassen müssen.« Mein Vater nahm das in Hinsicht meiner Mutter dankbar an. Er selbst aber entschloß sich, ein Postpferd zu besteigen und so, mit dem Postillion, noch heute nach Bellegarde zu reiten, von wo er uns am andern Morgen mit einem Wagen abzuholen versprach. Ich wurde mit meiner Mutter auf ein Oberzimmer geführt. Sie fühlte sich so angegriffen, daß sie sich sogleich zu Bette legen mußte, und da ich nach einiger Zeit Neigung zum Schlaf bei ihr gewahr wurde, so ging ich, wie sie zu wünschen schien, wieder hinunter ins Wohnzimmer. Die Dämmerung war indessen hereingebrochen, ohne daß ich es bei dem Geschwätz der ältesten Tochter des Försters sonderlich bemerkt hätte. Sie machte mich zwar darauf aufmerksam, doch setzte sie hinzu: »Der Vater liebt dieses trauliche Feierstündchen und sieht nicht gern, wenn wir früh Licht anzünden.« Ein Wagengeräusch im Hofe machte uns aufmerksam. »Da kommt der Vetter!« rief das Mädchen und hüpfte aus der Tür. Sie kehrte bald mit dem Förster und einem Fremden zurück, dessen Gestalt ich nur sehr schwach in der Dämmerung unterscheiden konnte. Der Förster machte ihn mit meiner Anwesenheit im Zimmer bekannt und erzählte die Geschichte unseres Mißgeschicks, worüber mir der Fremde sein Bedauern in herzlichen Worten und mit einer sehr schönen Stimme bezeugte. Das Gespräch fiel dann auf allgemeinere Gegenstände. »Wissen Sie wohl, lieber Oheim«, sagte plötzlich der Fremde, »daß Sie mich vielleicht zum letzten Male sehen?« – »Wie das?« fragte dieser. »Ich gehe in einigen Wochen, vielleicht [60] Tagen, zur Armee ab und wünschte nur, Ihnen Lebewohl zu sagen.« – »Du Soldat?« rief der Oheim, »das hätte ich nimmer gedacht. Also hat dich das fatale Los doch getroffen, nachdem es dir schon zweimal vorübergegangen?« – »Ich habe seine Entscheidung nicht wieder abgewartet«, sagte der Fremde, »ich habe mich freiwillig dazu bestimmt.« – »Freiwillig?« rief der Förster mit Erstaunen. »Unmöglich kannst du, nach deiner Lebensweise, Neigung zum Soldatenstande fühlen.« – »Wenn auch nicht diese, so doch Neigung, das Vaterland zu verteidigen.« – »Du mochtest ja niemals meinen Füchsen den Krieg erklären, und wenn ich dich beim Treibjagen aufmerksam auf deinem Posten glaubte, fand ich dich mit dem Virgil in der Hand nachlässig am Baume gelagert, die Büchse neben dir.« – »Oder mit Tyrtäus' Kriegsliedern, Oheim. ›Wollt ihr ewig schlafen den Schlaf des Feigen? weckt euch nimmer der Nachbarn Hahn, nimmer der Schwächeren Mut?‹« – »Aber woher denn so auf einmal diese Änderung? Du wirst doch nicht nach Spanien wollen, um von auflauernden Buschkleppern gemordet oder von Weibern vergiftet zu werden?« – »Nein, Oheim. Ich ahnde den Volkswillen, so unklug er auch sein mag. Aber die Kriegsflamme droht schon wieder, von seiten Östreichs; England bläst mit vollen Backen in den immer glimmenden Zunder, man glaubt uns diesmal in einen Hinterhalt fallen zu lassen. Napoleon ist in Spanien, hinter seinem Rücken will man Frankreich angreifen, welches er sonst mit dem flammenden Schwerte, wie der Engel den Eingang des Paradieses, bewacht; aber nur zu bald werden sie das gefürchtete Antlitz des Rächers sehen. Unterdessen muß Frankreichs ganze Heldenjugend sich erheben, daß der Führer ein schlagfertiges Heer finde.«

Der Fremde sprach diese Worte mit einem solchen Nachdruck, daß ein freudiger Schauer durch meine Nerven bebte. Des Mädchens Hand zitterte in der meinigen. »Ach!« rief sie mit schluchzender Stimme, »ihr bösen Männer redet vom Kriege wie von einem Vogelschießen, ihr denkt nur [61] an den Ruhm, ohne an die Tränen zu denken. Was nützt uns Armen des Kaisers Macht und Ruhm; noch einmal so lieb wollte ich ihn haben, wenn er friedfertiger wäre und nicht so eroberungssüchtig.«

»Liebe Marie«, sagte der Fremde mit einiger Heftigkeit, »du redest wie ein Weib und verstehst es nicht. Napoleons Ruhm ist Frankreichs größte Stärke, seine Macht ist des Vaterlandes Sicherheit. Man möchte gern dies freie Land wieder in die Fesseln des verflossenen Jahrhunderts schmieden, welche wir nur vom Hörensagen kennen, da sie fast mit unsrer Geburt zerbrochen wurden.«

»Ich habe sie wohl gekannt«, redete der Förster dazwischen, »und um sie abzuwehren, wollte ich selbst noch meinen alten Kopf den feindlichen Reihen gegenüberstellen.« – »Um wieviel mehr wir Jünglinge!« fuhr der Fremde fort; »welche Elende wären wir, wenn wir nicht unser Herzblut hingeben wollten für unser Vaterland und seine Verfassung, unter deren Schatten wir erwuchsen, für den Kaiser, der die Wunden der Revolution heilte, den Bürgerkrieg endete und den Ruhm der Nation auf den höchsten Gipfel erhob. Jeder Bürger fühlt sich Teilnehmer dieses Ruhms; sollte es nicht auch ein weibliches Herz?«

Diese Apostrophe an mein Geschlecht reizte mich zum Mitgespräch, ich drückte meinen Freiheitssinn und meine glühende Vaterlandsliebe in lebhaften Worten aus. Der Fremde schien mich mit Bewunderung zu hören, es waren seine eigenen Begriffe, welche er aus einem fremden Munde vernahm. Mir ging es ebenso, ich glaubte mein eigenes Ich zu hören. Jeder von uns setzte häufig, im Feuer des Gesprächs, die angefangenen Perioden des andern fort, genau mit denselben Worten, welche dieser eben laut werden lassen wollte. Es war etwas Übernatürliches in dieser Übereinstimmung. Die beiden andern schwiegen voll Erstaunen still, wir beide redeten allein und vergaßen auch, daß es außer uns noch Wesen gab. Da wir uns nicht sehen konnten, so waren es nur die Geister, welche sich erkannten und [62] eine, wie uns schien, schon früher geknüpfte Freundschaft fortsetzten. Ich fühlte mich auf eine unbegreifliche und mir bis dahin völlig unbekannte Weise zu dem Fremden hingezogen. Daß er in demselben Falle sei, bewies die immer zunehmende rührende Weichheit seiner Stimme. Ich war aufgestanden und hatte mich unbewußt dem großen Tische genähert, welcher, mit einer gewirkten Decke behangen, in der Mitte des Zimmers stand, der Fremde hatte, von seiner Seite, dasselbe getan. So mochten wir vielleicht eine Stunde gegenübergestanden haben; für uns gab es keine Zeit. Tisch und Dunkelheit trennten uns, wir aber fühlten uns vereint, und unsre ineinander verschlungenen Seelen durchflogen gemeinschaftlich den endlosen Raum der Schöpfung, jede Ansicht aus demselben Punkte, in demselben Lichte betrachtend. Finster, stockfinster war es geworden, für uns war es sonnenhell. Da trat endlich die Försterin mit Licht herein und stellte es auf den Tisch. Wir starrten uns sprachlos eine Sekunde lang an, dann hoben wir in demselben Augenblicke die Arme, und »Mucius!« – »Virginia!« tönte im Nu von beider Lippen. Er war es, der Niegesehene; ich, die von ihm Ungekannte. Die Försterfamilie staunte uns an, wir mußten endlich das Rätsel lösen und erzählen. Da war nun des Wunderns kein Aufhören. »Wunderbar sind die Wege des Herrn!« sagte die Försterin. »Ja, es ist Gottes Schickung«, lispelte mit einem leisen Seufzer Marie; der alte Förster schüttelte uns treuherzig die Hände. »Ihr habt mich ordentlich gerührt mit euerm Gespräche, Kinderchen«, sagte er, »mir war's, als sei ich in der Kirche. Nun, Mutter, trag auf, vom Besten, was das Haus vermag, ich weiß doch, du hast dem Mucius seine Leibessen bereitet, ich will auch den Keller nicht schonen. Hätte ich doch nicht gedacht, daß wir ein so vielfaches Fest feiern sollten, Willkommen- und Abschieds-, Freuden- und Trauerfest zugleich, und wer weiß, was noch für ein Fest! nun, nun, der Herr lenke alles nach seinem Willen, dann ist es auch zu unserm Besten.« Er lüftete das lederne Käppchen ein wenig, zündete [63] dann den Wachsstock an, nahm den Kellerschlüssel und eilte hinaus. Mutter und Tochter beschickten emsig den Tisch. Mucius setzte sich neben mich, uns fiel beiden kein Wort ein über das seltsame Zusammentreffen, wir waren alte Bekannte. Wir sprachen viel von Emil; in diesem teuern Gegenstande trafen unsre Seelen am innigsten zusammen. Wir wiederholten hundertmal, wie sehr wir ihn liebten, und hörten es voneinander mit ebensolchem Entzücken, als gälte diese Versicherung uns. Bei Tische erhielt ich meinen Platz zwischen Oheim und Neffen, neben Mucius saß Marie. Die arme Marie war die einzige, welche nicht so heiter schien, als sie bei meiner Ankunft war, doch wurde sie es um etwas mehr, nachdem der Vater öfters auf einen glücklichen Feldzug angestoßen und sie darauf ihrem Nachbar Mucius hatte Bescheid tun müssen. Auch auf meine glückliche Reise wurde getrunken. »Ob Sie die Reise nach Montpellier fortsetzen werden, ist sehr die Frage«, sagte plötzlich Mucius, »Ihr Herr Vater mag das morgen entscheiden.« Wir sahen ihn alle verwundert an und baten um Erklärung. »Heute nicht«, sagte er ablehnend, »laßt uns die Zukunft still bedecken und des heutigen Abends rein genießen.« Damit stimmte er einen fröhlichen Rundgesang an, und der Abend wurde bis spät in die Nacht verlängert und heiter beschlossen. Ich begab mich in einem geistigen Rausche, woran der Wein keinen Anteil hatte, zu Bette und schlummerte erst in der Morgendämmerung zu seligen Träumen ein.


Mein Vater war früh angekommen, ich fand ihn schon am Bette meiner Mutter, als ich mein Kämmerchen verließ; er war ernst und meine Mutter in einiger Unruhe. Ich umarmte beide und eilte hinunter, um ihr Gespräch nicht zu stören, mehr noch, warum sollte ich es leugnen, um Mucius einen guten Morgen zu wünschen. Ich traf ihn im Wohnzimmer, und sein Auge strahlte mir entgegen. »Der Vater ist so ernst«, sagte ich nach einigen freundlichen [64] Reden, »hat er Sie schon gesehen?« – »Jawohl«, erwiderte er, »meine Nachricht hat ihn ernst gestimmt.« – »Welche Nachricht?« rief ich. »Sie wird es nicht erschrecken«, sagte er, indem er liebkosend meine Hand nahm, »Emil begleitet mich ins Feld.« – »Oh, meine Mutter!« rief ich voll Schrecken. »Für diese habe ich gezittert«, sagte er, »doch sie wird sich in das Unvermeidliche finden. Emil ist sechzehn Jahre, das Los kann ihn in kurzem treffen; warum also nicht ein Opfer freiwillig bringen, welches früher oder später doch unabänderlich gebracht werden muß! Jetzt geht er an der Hand der Freundschaft, wer weiß, ob es ihm späterhin so gut wird; auch ist er unwiderruflich entschlossen und war im Begriff, gleich nach meiner Abreise selbst nach Chaumerive zu gehen, um seinen Entschluß kundzutun.« – »Wir müssen zurück!« rief ich hastig. »Allerdings«, sagte er, »Ihr Herr Vater bereitet die Mutter dazu vor.« – »Ach, meine arme, arme Mutter!« klagte ich, »wie wird sie es überleben!« – »Sie bleiben ihr«, sagte Mucius und trocknete mir sanft die Augen. »Er ist ihr Liebling«, fuhr ich fort, »und verdient es zu sein.« – »Beide verdienen es! Beide!« rief Mucius, indem er meine Hand mit Heftigkeit an seine Lippen drückte. »Glücklicher Emil!« setzte er hinzu, und eine Träne glänzte in seinen dunkelbraunen Augen. »Glücklicher Emil, Engel weinen um dich! ich Unglücklicher habe keine Schwester!« – »Ich will auch die Ihrige sein«, sagte ich, und meine Tränen flossen stärker. »Virginia!« rief er im Ausruf des Entzückens und schlang den Arm um mich, ich sank im Übermaß des Gefühls an seine Brust. Unsre Lippen begegneten sich unwillkürlich; wir hielten uns lange in sprachloser Seligkeit umarmt. »Oh, das Leben ist schön!« rief endlich Mucius; »es will mich halten mit all seinem Zauber; gerade da ich es aufs Spiel setzen will, entfaltet es mir seine schönsten Blüten. Aber nicht dem Feigen würde dieses holde Auge lächeln, nein, ich muß kämpfen um so schönen Preis! Wird Virginia den Sieger lieben?« fragte er mit Schmeicheltönen. »Ewig!« entgegnete ich. »Mein?« – »Dein!« [65] riefen wir beide aus einem Munde, und eine zweite Umarmung besiegelte den Bund für die Ewigkeit.


Oh, seliges Gefühl, wenn zwei Seelen, welche der Schöpfer aus einem Lichtfunken gebildet, sich finden und sich verbinden auf ewig! Die Gegenwart und ihre kleinen Verhältnisse verschwinden dem trunkenen Auge, es sieht nur aufwärts zum Quell des Lichts. Auch meine Tränen waren plötzlich versiegt, und mein Herz jauchzte insgeheim mitten unter den Äußerungen der allgemeinen Besorgnis. Die Tränen meiner Mutter taten mir wehe, ich machte mir Vorwürfe, daß ich so glücklich war, aber ich konnte es nicht ändern, ich war glücklich.

Es wurde beschlossen, daß wir sogleich die Rückreise nach Chaumerive antreten wollten, um den geliebten Emil so bald als möglich an unser Herz zu schließen; Mucius war sogleich entschlossen, uns zu begleiten. Der Oheim schüttelte ihm zum Abschiede kräftig die Hand: »Du bist ein braver Junge«, sagte er, »tu deine Pflicht, und Gott sei mit dir, Mucius!« – »Mit dem Schilde, Oheim, oder auf dem Schilde!« entgegnete dieser langsam, mit Nachdruck. »Mucius Scävola« rief mein Vater und schloß ihn mit feuchten Augen an seine Brust. Marie weinte heftig, als er sie zum Abschied küßte, dann umarmte sie mich, sahe mich einen Augenblick nachdenkend an, ein halbes Lächeln schwebte auf ihrem leidenden Gesichte, sie schüttelte leise den Kopf, als wollte sie sagen: »Keine wird ihn haben!« Sie trocknete mutig ihre Tränen und schmiegte sich sanft resigniert an ihren Vater.

Unsre Rückreise war nicht erfreulich. Meine Mutter war meistens leidend und in sich gekehrt, soviel Mühe sich auch die Männer gaben, sie zu beruhigen; mein leuchtendes Auge schien ihr wundes Gefühl oftmals zu verletzen. Auf der andern Seite aber war es mir eine hohe Freude, zu bemerken, wie mein Vater mit jeder Minute mehr Gefallen an meinem Geliebten fand. Er erzählte ihm seinen [66] amerikanischen Feldzug und verjüngte sich mitten unter den Bildern seiner Jugend. »Dein Bruder fiel!« seufzte meine Mutter. »Für seine Überzeugung, für eine gute Sache und von allen seinen Kameraden beweint!« rief mein Vater, »kann das längste Leben einen so schönen Tod aufwiegen?« – »Auch ein Leben voll Liebe nicht?« fragte meine Mutter und drückte zärtlich seine Hand. »Das Leben ist schön«, erwiderte er und umarmte sie, »aber der Heldentod des Jünglings ist es nicht minder.« – »Wohl ist er zu beneiden«, sagte Mucius, »wenn ein schönes Auge um ihn weint; er lebt dann in diesen köstlichen Tränen ein seliges Leben!« Eine dunkle Wolke flog bei diesen Worten durch meine Seele, aber mutig scheuchte ich sie hinweg. »Glückliches Geschlecht«, sagte ich, »das handelnd eingreifen kann in die großen Weltbegebenheiten!« – »Preise das deine glücklich«, antwortete mein Vater, »dem ein kleinerer Kreis bezeichnet wurde; es hat keine schmerzliche Wahl, kann nicht schwanken zwischen den Pflichten für sein Haus und für sein Land.« – »Ich erkenne es, mein Vater«, sagte ich, seine Hand küssend. Ich verstand recht gut, was an seinem Geiste vorüberging.

Wir trafen in Chaumerive fast zugleich mit dem teuern Emil ein. Meine Mutter schloß ihn leidenschaftlich in ihre Arme und schien noch einige Hoffnung zu hegen, ihn zurückzuhalten; doch überzeugte sie seine ruhige Haltung und meines Vaters bestimmte Erklärung sehr bald, daß sie sich dem Unvermeidlichen ergeben müsse. Sie tat es mit der besten Fassung von der Welt, augenscheinlich in der Absicht, das Herz ihres Lieblings nicht schwer zu machen. O Allmacht der mütterlichen Liebe, welche Wunder bringst du hervor! Meine arme Mutter, sonst so heftig in den Äußerungen ihres Schmerzes, gewann es über sich, ihrem Sohn immer ein heiteres Gesicht zu zeigen, während ihr Herz aus tausend Wunden blutete. Sie war rastlos mit seinen kleinen Bedürfnissen beschäftigt und sprach sogar scherzend von seiner baldigen siegreichen Rückkehr. Nur in der Stille des Morgens hörte ich oft ihr Schluchzen im [67] anstoßenden Kabinett und bemerkte, wenn sie in das Wohnzimmer trat, auf ihrer blassern Wange Spuren frischvergossener Tränen, welche sie jedoch sorgfältig zu tilgen suchte, wenn die Frühstücksstunde herannahte. Mit zärtlicher Achtsamkeit forschte der Sohn oft auf ihrem lieben Gesichte und bat dann mit seiner schmeichelnden Stimme:»Sei nicht traurig, liebe Mutter!« Sie lächelte jedesmal und leugnete, es zu sein. So flossen uns noch vierzehn schmerzlich-süße Tage dahin. Emil bemerkte bald das zärtliche Verhältnis zwischen seinem Freunde und mir, welches wir auch gar nicht zu verhehlen strebten. Er zog uns beide in seine Arme. »Ich halte des Lebens größte Schätze an meiner Brust!« sagte er. »Alle?« fragte ich schalkhaft. »Lebend und im Bilde!« erwiderte er. Ich fühlte, daß er, zugleich mit mir, Dein Bild an sich drückte, welches, meinem Busen entfallen, an meiner rechten Seite hing. Im Übermaß meiner Liebe für den teuren Bruder und im Gefühl meines eigenen Glücks nahm ich die Kette mit Deinem Bilde von meinem Halse und schlang sie um den seinigen. »Es sei deine Ägide«, sagte ich, »und schütze dein liebes Herz!« Er war außer sich vor Entzücken und Dankbarkeit. »Ein mutiges Herz wird dagegenschlagen«, sagte er, »bis es zu klopfen aufhört.« – »O nichts vom Stillstehen dieses Herzens!« bat ich, von dem Gedanken erschüttert. »Nun, nun«, sagte er lächelnd, »mir flüstert dies oft eine leise Ahndung zu, doch gehe ich darum nicht weniger mutig dem Feinde entgegen. Sage einst Adelen«, setzte er ernst hinzu, »ich hätte sie geliebt, bis zum letzten Hauch geliebt.« Seine Stimme versagte ihm auf einen Augenblick, aber plötzlich richtete er sich mit ruhig freundlichem Gesichte aus meiner Umarmung auf. Er schien mir, als ich zu ihm aufsah, mit einem Male um ein beträchtliches größer. Voll aufgeregter Ängstlichkeit warf ich mich in Mucius' Arme. »Flüstert dir die Ahndungsstimme auch?« fragte ich zitternd. »Nur Freudiges verkündigt sie mir«, sagte er und umschlang mich. »Sei ruhig, meine Virginia, das Glück ist dem Mutigen hold! [68] wir werden uns alle, und freudig, wiedersehn.« Der Ausspruch des Geliebten ist ja wie die Stimme von Dodona, auch in meine Brust rief sie die Hoffnung zurück.


So brach der Abschiedsmorgen heran. Zum letzten Male begrüßte die Sonne bei ihrem Aufgang eine zärtlich vereinte, glückliche Familie. Mein Vater war weich und freundlich, meine Mutter blasser als je, aber anscheinend ruhig und gefaßt. Emil betrieb lebhaft die Zurüstungen zur Abreise und lächelte jedem von uns zu, um uns seine Bewegung zu verbergen. Mucius, nur mit seiner Liebe beschäftigt, wendete die aufmerksamste Sorgfalt an, meinen Mut aufrechtzuerhalten. Ach, ich bedurfte des Beistandes nur zu sehr! In Gefahr, die beiden geliebtesten Gegenstände meiner Zärtlichkeit auf immer zu verlieren, verließ mich mein sonstiger Heldensinn, und das liebende Mädchen kämpfte fruchtlos mit seinen Tränen. Mein Vater sah den Kampf in meiner Seele, und gütig, wie er immer war, wollte er mir einen stützenden Trost geben. Zärtlich ergriff er Emils und Mucius' Hände und rief mit bewegter Stimme: »Meine beiden Söhne! O ich bin ein reicher Vater! ich weihe an einem Tage zwei Söhne dem Vaterlande. Seid einer des anderen Schutzengel, bleibt einander treu mit hülfreicher Liebe, bleibt euch treu im Leben und im Tode! Das Band der Freundschaft knüpfte schon längst eure Herzen, ich füge in dieser feierlichen Stunde noch ein, wo möglich, schöneres hinzu, das brüderliche. Sobald ihr zurückkehrt, werde Mucius Virginiens Gatte.« Wir waren alle überrascht von diesen Worten, und jeder äußerte seine Bewegung auf verschiedene Weise. Mucius warf sich mit stürmischer Freude in meines Vaters Arme, ich sank schluchzend zu seinen Füßen, Emil umfaßte seinen Freund, meine Mutter sah staunend vom Sofa auf die Gruppe und streckte die Hand nach uns aus. Sie hatte, einzig mit der Reise ihres Sohnes beschäftigt, weniger auf unser Verhältnis geachtet, und es war ihr daher ziemlich fremd geblieben; [69] doch hatte auch sie Mucius liebgewonnen, um seiner selbst willen und als Emils Freund. Als wir daher beide vor ihr niederknieten und um ihren Segen baten, segnete sie uns mit der freudigsten Rührung. Emil küßte sie dafür, kindlich schmeichelnd. Da nahm sie seine Hand, legte sie in die seines Freundes und sagte: »Ich gab Ihnen die teure Tochter, und Ihren Händen vertraue ich den geliebten Sohn, schützen Sie Ihren Bruder.« – »Mit meinem Blute!« rief Mucius und preßte Emil in seine Arme. »Seien Sie ohne Sorgen, verehrte Mutter, ich bringe ihn gesund zurück; an seiner Hand oder niemals wieder kehre ich heim.« Diese unerwarteten Szenen hatten uns allen einen heroischen Schwung gegeben, welcher uns leichter über die gefürchtete Abschiedsstunde hinwegtrug. Die Pferde standen schon lange bereit, der Postillion hatte schon mehreremal ins Horn gestoßen, da ergriff Mucius rasch die Hand seines Freundes. »Wir müssen scheiden!« sagte er mutig. »Lebt wohl, Vater und Mutter! lebe wohl, Virginia! wir kehren bald zurück.« Er küßte uns der Reihe nach, mit Eile, und ließ Emilen kaum die Zeit, ein Gleiches zu tun. Der arme gute Emil! Blässe überzog sein Gesicht, doch schwebte noch das gewohnte Lächeln darauf, wir drückten ihn an uns, er sagte uns Lebewohl. Mit festen Schritten folgte er dann seinem Freunde, welcher ihn rasch mit sich fortriß. In wenigen Minuten waren sie unseren Blicken entschwunden, die beiden hohen Jünglingsgestalten. Ach, auf immer!

Meine Mutter sah ihnen unverwandt nach, und als der Wagen unsern Blicken nicht mehr sichtbar war, sank sie ohnmächtig nieder. Die Sorge um sie und ihre Pflege zogen meinen Vater und mich von unsern eigenen Empfindungen ab. Wir taten alles, um sie zu zerstreuen und aufzuheitern, aber mit geringem Erfolg. Mein Vater bestand eifrig darauf, die unterbrochene Reise wieder anzutreten, die Mutter war aber dazu nicht zu bewegen. »Wenn Emil wiederkehrt, werde ich von selbst genesen«, sagte sie, »kommt er nicht zurück, nun dann –«, sie brach ab, nach einer Pause setzte sie hinzu: [70] »Ich würde ja an jedem andern Orte seine Briefe später erhalten.« – Diese Briefe waren von jetzt an die einzige Nahrung, welche die schwache Flamme ihres Lebens erhielt; unsre Liebkosungen nahm sie freundlich auf und erwiderte sie auch, aber ihre Tränen flossen selbst in den Armen ihres geliebten Gatten.


Als die Schlacht von Eßlingen bekannt wurde, stieg die Angst meiner Mutter auf das höchste. Sie sahe jede Nacht ihren Sohn, verwundet oder tot, in ihren Träumen. Umsonst wendete mein Vater alle Vernunftgründe an; doch wenn das Herz heftig leidet, dann wird es von den Tröstungen des Verstandes nur beleidigt. »Ich bin keine Römerin!« sagte sie mit Heftigkeit. »Und hast kein Vaterland?« fragte mein Vater. »Möge es doch zertrümmern«, rief sie, »wenn ich nur meinen teuern Sohn und euch behalte!« – »Klara, liebe Klara«, sagte mein Vater, sanft verweisend, »der Schmerz tobt aus dir, du wirst dich wiederfinden. Die Pflicht über alles! Kein Gut der Erde tröstet uns, wenn diese verletzt wird.«

Ich meinesteils suchte gar nicht, sie zu trösten, ich weinte mit ihr. Mein armes Herz schwankte zwischen Hoffnung und Furcht, ich hätte selbst des Trostes bedurft; aber das Schauspiel des unbegrenzten mütterlichen Schmerzes gab mir feste Haltung. Ich gelobte mir im stillen, den etwanigen Schlägen des Schicksals mit mehr Fassung zu begegnen. Endlich, nach mancher vergeblichen Bemühung um Nachricht, langte ein Brief von den beiden Geliebten an und gab meiner Mutter das Leben wieder; auch mir und dem Vater sank ein schwerer Stein vom Herzen, und unser Mut erhielt sich auch während der folgenden Zeit. Die Freunde waren an jenem heißen Tage im heftigsten Feuer gewesen und ihre Kameraden rechts und links gefallen, sie jedoch unversehrt geblieben. Dies schien uns ein besonderer Schutz des Himmels zu sein, und wir sahen sie als ein paar Geweihete an, denen keine Kugel nahen dürfe. Die [71] Mutter war nicht ganz so mutig, aber sie hoffte auf schnellen Frieden und betete inbrünstig zu Gott.

Die Schlacht von Wagram erfuhren wir durch einen Brief von Mucius. Er hatte dem schnellfüßigen Gerüchte doch zuvorzukommen gewußt. Mit Begeisterung lobte er den Mut und die schnelle Geistesgegenwart Emils, welcher sogar Gelegenheit gehabt, vom Kaiser bemerkt und gelobt zu werden. »Leider aber«, hieß es am Schluß seines Berichts, »ist der geliebte Bruder gegen den Ausgang der Schlacht am Fuße verwundet worden, doch ist durchaus keine Gefahr, und wir gedenken bald wieder bei unseren Lieben einzutreffen.« Emil selbst fügte einige Zeilen hinzu, worin er uns bat, ganz ohne Sorgen zu sein. Wir bedauerten den Geliebten, doch waren wir nicht allzu besorgt. Eine leichte Fußwunde, meinte mein Vater, dabei sei keine Gefahr, und meine Mutter dankte Gott aus tief aufatmender Brust, daß er es so gnädig gefügt. Auf jeden Fall war nun ihr Liebling geborgen. Selbst wenn, gegen alle Wahrscheinlichkeit, noch einmal geschlagen wurde, er war in Sicherheit. Sie fing an, sich sichtlich zu erholen, nahm wieder an den Geschäften den tätigsten Anteil und erheiterte uns alle durch ihre muntern Einfälle und ihre frohe Laune. Schon seit Jahren hatte sie nicht mehr die Laute berührt, aber jetzt ergriff sie oft die meinige und sang uns mit ihrer schönen Stimme die artigsten Lieder. Mein Vater fühlte sich in die ersten Tage seiner Liebe zurückversetzt und war wieder selig und lebendig wie damals. Der gute Pfarrer und unsre wenigen Hausfreunde freuten sich mit uns. Ich selbst schwamm in einem Meere von Wonne, besonders da bald darauf ein zweiter Brief eintraf, welcher schon auf dem Rückmarsch geschrieben war. Mucius meldete uns, daß er eine zufällige Unterredung mit dem Kaiser gehabt habe, in welcher er ihm über sich und seinen verwundeten Freund, in der Kürze, Auskunft gegeben. Der Kaiser habe sich meines Vaters erinnert und ihm eigenhändig für Emil das Kreuz der Ehrenlegion und den Abschied als Kapitän zugestellt. [72] »Was Sie, junger Mann, betrifft«, hatte er hinzugefügt, »Sie können jetzt gehen, wohin das Herz Sie ruft, ich bin Ihrer gewiß; wenn ich und das Vaterland Ihrer bedürfen, so kehren Sie zum zweiten Male freiwillig unter meine Fahnen zurück.«

Goldne Worte! welchen fröhlichen Rausch verbreiteten sie über unser ganzes Haus! Emil schrieb auch, seine Wunde war noch nicht heil, aber er achtete ihrer nicht, sein liebendes Herz und die Sehnsucht seines Freundes trieben ihn zur Heimat. Sein schönes Herz sprach sich so liebevoll in jeder Zeile aus, er freute sich kindlich über die empfangenen Ehrenzeichen, aber mehr um seiner Eltern als um seinetwillen, wohl auch um Deinetwillen, denn er fügte triumphierend hinzu: »Die Ägide, Virginia, hat mein Herz treulich beschützt.« Guter, herrlicher Bruder! so brav, so liebend, so treu! nur Engel können dir gleichen! Engel, jetzt deine Gesellschafter, deine tröstenden Gefährten!


Meine Mutter war nun geschäftig wie Martha und fröhlich wie die Tochter Jephta am Tage der Rückkehr. Sie schmückte und ordnete das ganze Haus zu dem frohen Empfange. Daneben beschäftigte sie sich mit meiner Ausstattung und scherzte freundlich mit mir über meinen Brautstand und die nahe Verbindung. Ich berührte kaum die Erde, ich schwebte in den Gefilden der Seligen, und doch hatte ich nie die irdischen Geschäfte pünktlicher und sorgsamer verrichtet. So werden alle Fähigkeiten der Seele und ihres Organs, des Körpers, durch die Liebe und die Freude erhöhet, ja verdoppelt!

Die Zeit der Weinreife rückte heran. Ich war schon in den Bergen und ordnete die verschiedenen Vorbereitungen zur Lese an. Die Sonne ging hinter einer entfernteren Bergspitze nieder, und krause rötliche Wölkchen gaben ihr das Geleite. An einem grünen Abhange gelagert, blickte ich fröhlich auf die magischen Beleuchtungen, welche einzelne Sonnenstrahlen noch rechts und links über die schöne Landschaft[73] warfen. Ich hatte eben einen Grashalmenkranz geknüpft auf Mucius' Wiederkehr in den nächsten Tagen, er war sehr erwünscht und bejahend ausgefallen. In der Fröhlichkeit meines Herzens pflückte ich neben mir die Blumen, welche ich erreichen konnte, und reihete sie, halbleise eine von Petrarcas zärtlichen Stanzen singend, zum Kranz, auf welchen Tränen der Wonne tropfend niederfielen. Da gewahrte ich, als ich das Auge wieder über die Landschaft erhob, in der Entfernung einen Landmann, welcher, einen Botenstab in der Hand, eilig den Weg zum Berge daherschritt. Sein Anblick ergriff mich plötzlich mit einem ahndenden Gefühl, mein Herz klopfte voll bangen Schreckens, je näher er mir kam, es war, als wenn ein grauses Schicksal auf mich zuschritt. Ach, nur zu grausend, zu entsetzlich war, was mir nahte! Der Bote reichte mir einen Brief, er war von Mucius' Hand, von Mucius' lieber Hand, und dennoch wagte ich nicht, ihn zu öffnen; auf so ungewöhnlichem Wege, und ich wagte nicht zu fragen, ich war mir selber unbegreiflich. Endlich faßte ich, in gewaltsamer Anstrengung, den Mut, das Siegel mit zitternder Hand zu lösen. Schon die ersten Zeilen dieses Unglückbriefes schmetterten mich zu Boden. Noch in diesem Augenblicke, nach fünf Jahren, versagt mir die Feder fast den Dienst, kaum kann ich mich entschließen, Dir das fürchterliche Wort zu wiederholen, welches mich damals, gleich einem Blitzstrahle aus heiterer Luft, vernichtete. »Emil tot!« Mehr sah ich nicht. Eine tiefe Ohnmacht warf mich auf die Blumen nieder. Ein lauter Ruf des erschrockenen Boten hatte meinen Vater herbeigezogen, welcher sich in der Nähe befand. Er hatte den mir entfallenen Brief aufgehoben und erfuhr so, unvorbereitet wie ich, die schreckliche Nachricht.

Unglücklicher Vater, was mußt du bei dieser fürchterlichen Botschaft empfunden haben! Dein einziger Sohn! dein Stolz! In der Blüte zerschmettert die Hoffnung deines Alters! Die Natur hatte sich mitleidig meiner erbarmt und durch einen totenähnlichen Schlummer meinem Leiden auf einige [74] Minuten Stillstand geboten. Die einzige Ohnmacht meines Lebens. Sie mochte lange gedauert haben, denn es fing schon an zu dämmern, als ich in den Armen meines Vaters erwachte. Er war sehr blaß, doch mit Besonnenheit um mich beschäftigt. »Emil!« rief ich, als das Bewußtsein mir klar zurückkehrte, »Emil! mein Emil!«, und ein Strom von Tränen stürzte aus meinen starren Augen. Mein Vater verbarg sein Angesicht, doch fühlte ich an dem Zittern seines Armes, wie bewegt er innerlich sein mußte. Aber nur einige Minuten lang, dann sahe er wieder mit Fassung auf mich nieder. »Virginia«, sagte er mit liebkosender Stimme, »Virginia, mein starkes Mädchen, erhole dich. Tränen gebühren dem lieben, dem edlen Sohn und Bruder, aber wir haben noch lange Zeit, ihn zu beweinen, jetzt rufen nahe Sorgen unsre ganze Tatkraft auf.« – »Oh, meine Mutter!« rief ich schmerzlich. »Für sie fürchte ich am meisten«, sagte er. »Darum fasse dich, mein Kind. Auch müssen wir ja Mucius sehen.« – »Mucius?« fragte ich, »wo ist er?« – »Hast du nicht seinen Brief gelesen?« erwiderte er. »Nichts als die schrecklichen Worte!« – »Mache dich mit seinem ganzen Inhalt bekannt und komme langsam nach, ich gehe voran und bereite alles vor. Gott stärke uns!«

Nach diesen Worten ging er langsam den Hügel hinunter und überließ mich meiner eigenen Kraft. Laut brachen meine Tränen, meine Klagen aus, doch kehrte mir bald einige Besonnenheit zurück. Plötzlich fiel mir, wie durch Eingebung, eine Stelle aus »Nathan dem Weisen« in den Sinn. Ich hatte Mehreres aus diesem Lessingischen Meisterwerke, zur Übung der deutschen Sprache, übersetzt, jetzt sagte ich mir diese Stelle halblaut unwillkürlich vor.


»Und doch ist Gott!
Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan!
Komm! übe, was du längst begriffen hast;
Was sicherlich zu üben schwerer nicht
Als zu begreifen ist, wenn du nur willst.«

[75] Schluchzend, doch mit Begeisterung, streckte ich meine Arme hoch zum Himmel und rief: »Ich will! willst Du nur, daß ich wolle!« Still und gen Himmel blickend, setzte ich diesen Gedanken einige Augenblicke fort und fühlte mich wunderbar gestärkt und erhoben. Der Odem des Ewigen schien mich zu umwehen. Da stieg der Mond in voller Pracht hinter dem Taugewölk empor und verbreitete sanfte Tageshelle um mich her. Mein Blick fiel auf den Brief, welcher entfaltet mir zur Seite lag und durch dessen Blätter der Abendwind flüsterte. Ich nahm und las mit leidlicher Fassung, was die Verzweiflung geschrieben. – Die zu früh angetretene Reise in dieser heißen Jahreszeit hatte Emils anscheinend leichte Wunde sehr verschlimmert. Er blieb in Frankfurt, am Wundfieber erkrankt. Bald gesellte sich ein bösartiges Nervenfieber hinzu. Vergebens wendete Mucius die treueste Sorg falt an, vergebens rief er die tätigste Hülfe herbei, die Ärzte gaben wenig Hoffnung, sie erklärten, das noch nicht vollendete starke Wachstum des Kranken habe, verbunden mit den Mühseligkeiten des Feldzugs, die Natur zu sehr erschöpft, sie versage die Unterstützung. So schlummerte der holde Jüngling sanft und bewußtlos zu einem schöneren Leben hinüber, beklagt und geliebt, selbst von denen, welche ihn nur in seiner Krankheit kannten. Die Töchter des Wirtes weinten um den schönen Toten und gelobten, Rosen um seinen stillen Hügel zu pflanzen. Mucius hatte, die Erlaubnis seines Feldherrn benutzend, den Dienst schon verlassen, um seinen Freund zu uns zu geleiten, wo ihm die Myrten der Liebe winkten. Jetzt fiel ihm der Gedanke zentnerschwer auf das Herz, ohne den Geliebten, den Pflege- und Schutzbefohlenen, vor der verzweifelnden Mutter zu erscheinen. Es schien ihm unmöglich, unsern vereinten Jammer zu tragen. Angst und Verzweiflung trieben ihn, bei einem Regimente wieder Dienste zu nehmen, welches durch Frankfurt nach Spanien marschierte. Er wollte den Tod suchen. Jetzt schrieb er mir aus einer Entfernung von [76] wenigen Meilen, er fühle sich nicht stark genug, mich noch einmal zu sehen, auch erlaubten es seine Dienstverhältnisse nicht. Er sagte mir ewiges Lebewohl und fügte nur ganz von ungefähr hinzu, der Marsch gehe über Bellegarde und er hoffe, seinen Oheim noch ein mal zu umarmen.

Im Nu verstand ich jetzt, was der Vater gemeint. »Wir müssen hin!« rief ich und sprang auf, »wir müssen hin!«, und dahin flog ich, mit des Windes Eile unsrer Wohnung zu. Im Hofe wurde ein Reisewagen bereitet. Ich stürzte hastig ins Zimmer. »Wir müssen hin! ja wir müssen hin!« – »Freilich«, sagte mein Vater, indem er mir ein Zeichen gab und den Finger an die Lippen drückte. Ich schwieg und suchte mich zu sammeln. Meine Mutter stand uns abgewandt, einige Kleidungsstücke zusammenlegend, sie wandte sich um, da sie meine Gegenwart bemerkte, sie war sehr bleich, und ihre Glieder zitterten. »Weißt du das Unglück schon?« fragte sie. Ich schwieg und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen. »Wir müssen hin!« fuhr sie fort, »vielleicht ist noch Rettung möglich.« Ich merkte mit innerem Beben, daß sie das Schrecklichste noch nicht wußte. Sie trieb mich, etwas Wäsche zu packen, ich gehorchte zum Scheine. Nach einer halben Stunde saßen wir alle drei im Wagen und fuhren der furchtbaren Entwickelung entgegen. Meine Mutter sprach unaufhörlich von der traurigen Lage ihres Sohnes: gefährlich krank, so fern von den Seinen, ohne zarte weibliche Pflege, voll Sehnsucht nach uns. Ich schluchzte und schwieg. Dann kam sie auf den Gedanken, man habe sie gleich anfangs über seine Wunde getäuscht, es sei viel gefährlicher gewesen, er sei gräßlich verstümmelt. Ihre Einbildungskraft erhitzte sich und schuf schreckliche Bilder seines Zustandes. Mein Vater widersprach nicht und wies sie nur sanft auf den Willen des Ewigen hin, ohne welchen kein Haar von unserm Haupte falle. Es wollte keine Wirkung tun auf ihren sonst so religiösen Sinn, sie haderte mit Gott und den Menschen. [77] »Ein Krüppel auf Lebenszeit!« rief sie heftig, »unnütz der Welt, sich selber eine Last!« – »Freilich«, sagte mein Vater, »einem Zustande, wie du ihn schilderst, wäre der Tod vorzuziehn, würde es in die Wahl des Menschen gestellt.« Er malte das Bild der Möglichkeit noch weiter aus. »Nein, lieber tot!« schrie meine Mutter, »lieber tot! Herr des Himmels, höre mich! kann ich ihn nicht mehr glücklich sehn, so nimm ihn mir! ich will ihn lieber missen, als daß er leide.« – »Klara! teure, geliebte Klara«, bat mein Vater, »gedenke dieses Ausspruchs, gedenke deines Gelübdes. Das Schicksal könnte dich mächtig ergreifen.« Ich bückte mich auf ihre Knie nieder und überströmte sie mit meinen Tränen. Sie versank in tiefes Schweigen, wir schwiegen alle. So fuhren wir den übrigen Teil der Nacht hindurch, bis die Morgenröte hervorbrach. Die ersten Strahlen des Lichts regten meine Mutter wieder zu einigem klaren Bewußtsein auf. Sie betrachtete bald die Gegenstände am Wege mit Aufmerksamkeit, bald forschte sie auf unsern Gesichtern. Mir wollte das Herz zerspringen, und der Vater mußte sich fast immer seitwärts wenden, um den schrecklichen Kampf seines Innern zu verbergen. Plötzlich fuhr sie mit dem Kopf zum Schlage hinaus und sah rückwärts. Die Sonne sandte eben ihre ersten Purpurstrahlen herauf. Sie fuhr erschrocken zurück. »Wir fahren der Sonne nicht entgegen«, sagte sie fast vernichtet, »gegen Abend kann Frankfurt nicht liegen. Wohin führt ihr mich?« fragte sie stärker und faßte krampfhaft die Hand meines Vaters. Die Stimme versagte ihm den Dienst. »Wohin führt ihr mich? Virginia, bei deiner Seligkeit! wohin?« – »Nach Monthameau«, stammelte ich leise. Sie warf irre Blicke wechselnd auf uns. »Dort kann er nicht sein«, stieß sie endlich hervor, »er ist tot.« – »Du sagst es«, brachte mühsam mein Vater hervor, indem er erschöpft zurücksank und das Gesicht mit seinem Tuche verhüllte. Auch mich laß eine Hülle über diese schreckliche Szene werfen. Den höchsten Schmerz vermag keine Feder zu beschreiben, wie ihn kein [78] Pinsel zu malen wagen sollte. O Adele, wie leicht trägt sich eigenes Leiden gegen das zerreißende Mitgefühl bei dem Schmerze geliebter Personen! Der Jammer meines eigenen frischblutenden Herzens wurde in jenen Stunden kaum von mir empfunden.


Anfangs wollte die Mutter, als sie wieder zu einiger Besinnung kam, durchaus umkehren, sie wollte Mucius nicht sehn. »Willst du den treuen Pfleger deines Sohnes nicht an dein Herz schließen?« fragte mein Vater sanft verweisend, »willst du den treuen Jüngling nicht hören, der dir die letzten Grüße seines Bruders bringt? willst du nicht hören, wie er starb?« Diese Vorstellungen wirkten, und wir kamen gegen Abend in Monthameau an.

Bleicher Schrecken malte sich auf allen Gesichtern, als man uns erblickte. Mucius glühete einen Augenblick auf in Freude, als er, beim Eintritt in das Zimmer, mich erblickte. Aber nur einen Augenblick. Blässe des Todes scheuchte den rötlichen Schimmer hinweg, er stürzte außer sich zu den Füßen meiner Mutter und rief in Tönen der Verzweiflung: »Ich bringe ihn nicht zurück!« Halb bewußtlos sank die Mutter auf seine Schulter hinab. Alles schluchzte, und es verging eine geraume Zeit, ehe ein Wort die Grabesstille unterbrach. Nach und nach löste sich dann freilich der starre Schmerz in laute Klagen auf. Es wurde gefragt und erzählt, und die Mitternacht rückte heran bei traurigen Gesprächen. Die Natur forderte endlich ihre Rechte, und Schlaf sank auf die müde geweinten Augen herab. Die Morgensonne weckte uns zu neuem Jammer. Mir insbesondre stand der herbe Schmerz der Trennung von Mucius bevor. Du hast noch nie geliebt, meine Adele, Du hast also keine Vorstellung von dem Schmerz, dem Geliebten ein ewiges Lebewohl zu sagen. Ach! und wir fühlten klar und lebendig, es sei das letztemal für diese Welt, daß unsre Herzen aneinanderschlugen, unser Ohr die süßen Töne der geliebten Lippen vernahm. [79] Aber das Schicksal, das unerbittliche, hatte kein Erbarmen mit unserm Jammer. Es mußte geschieden sein. Mucius mußte dem Regimente nacheilen, der Ehre die Liebe weichen; er warf sich halb sinnlos auf das Pferd und war in einem Augenblick für immer verschwunden, der leuchtende Stern auf meiner Lebensbahn für immer erloschen! Marie schloß mich laut weinend in ihre Arme. »Unglückliche Marie! unglücklichere Virginia!« rief sie mit tiefem Jammer. »Wir haben ihn beide verloren!« sagte ich und drückte sie an meine Brust. Mein Vater ergriff zärtlich meine Hand. »Für Virginia fürchte ich nicht«, sagte er mit Vertrauen, »ihr männlicher Geist wird das Unvermeidliche tragen lernen.« Diese einfachen Worte von dem verehrten Munde erhoben meine sinkende Kraft, ich verschloß meinen Gram tief im Busen und vermochte es, mich hülfreich und teilnehmend mit meiner unglücklichen Umgebung zu beschäftigen. Viel lernt der Mensch im Leiden, es ist das eigentliche Seelenbad. Groß ist die Kraft des Menschen, wenn er nur den Willen hat, sie aufzurufen. Nicht den Schlägen des Schicksals erliegt der Mut, er wird nur von der eignen Schwäche gelähmt. Unsre Rückreise war jammervoll, soviel Beruhigung uns auch die weinende Familie des guten Försters nachgewünscht. Noch trostloser war unsre Ankunft in Chaumerive, in den herzlichen Tränen jedes Einwohners spiegelte sich aufs neue unser unersetzlicher Verlust. Meine Mutter kleidete das ganze Haus in Trauer und ließ jeden Morgen eine Seelenmesse für den teuren Toten lesen. Ach, die Ruhe ihrer eignen Seele stellte keine Messe her! Mein Vater ließ sie gewähren, so wie er die ihr anerzogenen Begriffe nie bestritt. Er hatte den Grundsatz, übersinnliche Dinge müsse jeder nach seiner Einsicht abmachen. Seine eigne Überzeugung hatte sich immer frei von Menschensatzungen erhalten. »Ich wünschte«, sagte er mit leisem Kopfschütteln, »der Glaube der Kirche und ihr vorgeschriebenes Zeremonial könnten dieses liebe gebrochene Herz heilen!« Er traf gar keine Anstalten für [80] seinen Gram, aber er gab sich emsiger seinen Geschäften hin und suchte mehr als je den Wohlstand und die geistige Ausbildung der Gemeinde zu befördern, und allmählich kehrte eine sanfte Heiterkeit in sein Gemüt zurück. Nur wenn sein Auge auf meine Mutter traf, trübte sich sein Blick. Ich suchte seinem Beispiele zu folgen, auch zwang mich die Lage der Umstände, den tiefen stillen Gram zu zügeln.

Meine Mutter wurde immer schwächer, sie nahm an keinem irdischen Geschäfte mehr teil und lebte nur noch ihren Andachtsübungen. Vergebens suchten wir sie auf alle Weise zu erheitern, sie war nicht wieder für das Leben zu gewinnen. Mir lagen nun die Geschäfte des Haushalts ob, und unbeschränkt in diesem Kreise, lernte ich mich bald darein finden. So schwand mir der Winter trübe, aber nicht allzu langsam vorüber. Mucius hatte mehrmals geschrieben; er war mit seiner Lage nicht zufrieden. Er achtete die Kraft der Spanier und haßte die Triebfedern, wodurch diese gespannt wurde. Dies brachte ihn mit sich selbst in Streit. Sehnlich wünschte er der englischen Macht entgegengeführt zu werden, welcher er, mit ungeteiltem Sinn, feindlich begegnen würde. Übrigens erhob sich sein jugendliches Herz allmählich wieder zur Hoffnung. Er wünschte und rechnete darauf, mich wiederzusehen.


Der neue Frühling war hoffnungs- und segensreich in Frankreich eingezogen. Eine hohe Nationalfreude belebte jedermann, bis zu den Hütten herab begrüßte man einander mit frohem Jubel. Ganz Frankreich jauchzte der jungen schönen Kaiserbraut entgegen, diesem sanften Friedensengel, der künftigen Mutter eines starken Geschlechts.

Auch in unserm kleinen Kreise wurde fast von nichts als von dieser frohen Begebenheit gesprochen. Mein Vater nahm daran all den Anteil, den er immer an dem Wohl seines Landes und dem Ruhm unsers gekrönten Helden zu nehmen pflegte. Meine Mutter aber schien diese Fröhlichkeit [81] nur zu schmerzen. »Zu spät«, seufzte sie, »mußte ich ein so teures Opfer bringen, damit der Friede einzöge!« – »Oh, Mutter!« rief ich im Auflodern meiner alten Begeisterung, »Emil starb, weil seine Tage gezählt waren. Wäre es aber möglich, daß die Gottheit ein Menschenopfer annähme für Frankreichs Frieden, Freiheit und Glück, so wollte ich ja, mit tausend Freuden, noch heute mein Blut tropfenweise dafür vergießen!« Mein Vater drückte mir schweigend die Hand, meine Mutter sahe mich mit starren Blicken an, schüttelte dann langsam den Kopf, faßte nach ihrem Rosenkranz und versank wieder in stillen Gram.

Die Tage der allgemeinen Freude wurden uns Tage der Trauer. Mitten unter den Vermählungsfeierlichkeiten starb meine arme gute Mutter in meinen Armen. Mein Vater kämpfte männlich mit seinem herben Schmerz. Er küßte den kalten Mund der Geliebten mit zärtlicher Wehmut. »Ruhe sanft, holde Klara!« sagte er, »die Erdenleiden drücken jetzt dein armes Herz nicht mehr, stiller Friede ruht auf deiner reinen Stirn, ich will nicht klagen, da du glücklich bist, ich will mich deines Friedens freuen.« Auch ich empfand wie er, ich weinte um ihren Verlust, aber ich freute mich ihrer Ruhe und schmückte ihren Sarg mit den buntesten Kindern des Frühlings. Ach! oft noch, wenn ich ihren Hügel mit Rosen umkränzt, habe ich sie glücklich gepriesen, daß der Tod sie so früh gegen die Stürme der Zeit in seine dunkle Wohnung gerettet. Ihrer Seele fehlte die ideale Richtung und der mutige Wille, womit man allein so ungeheure Schicksale zu bestehen vermag.

Einsamer und stiller lebten wir nun fort, aber ruhig und heiter. Wir freueten uns des allgemeinen Wohls und strebten nach Kräften, es zu fördern. Mucius' Briefe blieben im Herbste des Jahres 1810 plötzlich aus, und auch die genauesten Erkundigungen konnten uns keine Nachricht verschaffen. Lange schon war ich auf seinen Verlust vorbereitet, doch schmerzte er mich darum nicht weniger tief. Meine Seele wehrte sich lange, daran zu glauben, bis mehrere [82] zurückkommende Soldaten seines Regiments uns versicherten, sie hätten ihn bei der Einnahme von Victoria auf der Brücke vordringen und, den Adler in der Hand, die Freiwilligen des Korps aufmunternd hinüberführen sehen. Auf der Mitte aber sei er über das niedrige Geländer herabgedrängt und unfehlbar von dem reißenden Strome verschlungen worden, da man ihn nicht wieder gesehen habe. Nun war es entschieden, mir blieb nichts zu hoffen, nichts zu fürchten übrig, so glaubte ich wenigstens und richtete mich an diesem traurigen Troste gewaltsam auf. »Jetzt bin ich nichts als deine Tochter!« rief ich und warf mich um meines Vaters Hals. »Wir bleiben uns«, sagte er und drückte mich zärtlich an die Brust. Auch er trauerte schmerzlich über den Verlust des wackern Jünglings, er hatte ihn als Sohn geliebt. Wir redeten oft von den lieben Verlorenen und labten uns an der Erinnerung ihres irdischen Daseins. »Das ist das Los des Schönen auf der Erde«, sagte mein Vater, »daß es schnell verblüht!«

So verlebten wir unsere Wintertage. Ich spielte die Harfe fleißiger als je und sang manches neue Lied, das für unsere Lage paßte und meinen Vater erfreuete. Dieser suchte seine Studien wieder hervor, setzte mit mir den Unterricht in den neueren Sprachen eifrig fort oder übersetzte für mich die trefflichsten Stellen der Klassiker. Das Studium der Geschichte, besonders der ältern, füllte regelmäßig unsere Abendstunden, wobei es nicht an Vergleichungen fehlte, welche mancher neuerlich aufgestellten Meinung nicht sehr günstig waren. Ich beschäftigte mich daneben aufs emsigste mit künstlicher Stickerei und Weberei, wobei mich mein Vater lächelnd mit Penelope verglich.

Als die Hirtenflöten wieder durch die Täler tönten, hüpfte auch ich wieder kindlich froh über die blumigen Matten. Das leichte Blut meiner Heimat verleugnet sich nicht lange in dem jugendlichen Herzen, es wirft die schwarze, trübe Mischung hinaus und hüpft fröhlich durch die Adern; so auch bei mir. Wenn ich zum Sternenhimmel [83] aufsah und weinend an meinen Mucius dachte, so entzückte mich doch bald das Flöten der Nachtigallen und der tausendstimmige Chor der Abendvögel umher. Die Balsamdüfte der Blütengebüsche zogen lindernd in meine Brust, und der schmeichelnde Abendwind trocknete mein feuchtes Auge. Wenn ich Blumen pflückte, das Grab der Mutter und Emils teures Bildnis zu kränzen, so erfreute mich ihr Farbenschmelz, und ich wand mir schon wieder spielend diejenigen in das Haar, deren Anblick den Vater erfreute. Seinem Arbeitstische ließ ich sie nimmer fehlen, und bei jeder Mahlzeit schmückte ich sorgsam die Tafel damit. Den Tänzen unserer Dörferinnen entzog ich mich nicht mehr, die Besuche meiner nachbarlichen Gespielinnen erwiderte ich willig und stimmte heiter in die jugendliche Fröhlichkeit ein. Mein Vater freute sich meiner Heiterkeit. Der Mut, womit ich den Gram bekämpfte und dem feindseligen Leben eine freundliche Seite abgewann, lag so ganz in seiner eigenen Seele. Kein Wunder, ich war ja sein Zögling. Wie leicht war es mir damals, mich aufrechtzuerhalten, an eine so starke Stütze gelehnt! Wie wenig ahndete ich damals, daß das Schicksal mich so bald an meine eigene Kraft verweisen würde! Die feste Gesundheit und die noch jugendliche Kraft meines Vaters gaben mir kindliche Sicherheit, und Ruhe, Zufriedenheit und Wohlsein herrschten in dem ganzen mir bekannten Lebenskreise. Hätte ich es denken können, daß dies mein letzter froher Frühling, wenigstens der letzte auf meines Frankreichs lieben Fluren, in den blühenden Tälern meiner schönen Provence, sein würde? Denken konnte ich es nicht, aber meine Seele schien ein dunkles Vorgefühl zu hegen. Denn liebender als je hing ich mich an jeden mir irgend werten Gegenstand, als könnte er mir über Nacht entrissen werden. Mit durstigen Zügen trank ich jede Naturschönheit, jede Frühlingslust, wie der heitere Sterbende noch begierig den Duft der Blüten und die Strahlen des Lichts empfängt. Selbst da blieb ich noch lebensfroh, als schon [84] mein Vater bisweilen besorgt den Kopf schüttelte. Ich hörte wohl von einem neuen Kriegeszuge gegen Norden, aber ich hatte ja dabei nichts zu verlieren. Ich war unter Kriegern aufgewachsen, wie Frankreichs ganze Jugend; uns konnte das Wort Krieg nicht in dem Grade erschrecken, als es wohl Völker erschreckt, welche lange der Ruhe des Friedens genossen. Frankreich war im Innren glücklich und blickte vertrauend und sicher auf seinen kühnen Helden. Das Heer liebte den Kampf, und die jungen Konskribierten ergänzten es im Gefühl der Nationalehre meistens mit viel gutem Willen. Fand sich mitunter eine Ausnahme, so nannte meistenteils die öffentliche Meinung seinen Namen höchst mißbilligend. »Frankreichs Sicherheit in seiner Macht!« das war seit fast zwanzig Jahren das Losungswort. Die Nachwelt wird richten, wenn ein Irrtum dabei obgewaltet, sie wird scheiden, was die Umstände, was Willkür herbeigeführt, was Ehrgeiz, was Notwehr. Aber nur erst an ferne Jahrhunderte kann der Unterdrückte appellieren, die Gegenwart hat die Gläser zu stark gefärbt. – Mir schien für den Augenblick das Unternehmen gigantisch und fabelhaft, ein neuer Alexanderzug nach Indien. Aber auf welchem Wege? mir schauderte, wenn ich mir ihn malte! tief hinein nach Norden, durch Rußlands Schneegefilde, durch seine menschenleeren, ewig wüsten Steppen. Wie dankte ich Gott, daß nicht Mucius, nicht Emil diesen abenteuerlichen Zug begleiten durften, welchen ich mir so gefahrvoll und schrecklich dachte. Nichtsdestoweniger wurde meine fruchtbare Einbildungskraft diesmal noch von der Wirklichkeit übertroffen; ein seltner Fall. Doch tröstete ich mich wieder damit, daß ganz Deutschland mit uns im Bunde war. Diese Nachbarn des eisigen Nordens waren ja mit seinen Beschwerlichkeiten vertraut, wußten ihnen zu begegnen und konnten unsern Kriegern sehr hülfreich sein.

Sommer und Herbst des Jahres 1812 verstrichen uns abwechselnd unter Beschäftigungen und Vergnügen. Man trank in dem lieblichen Weine der vorigen Lese die Gesundheit [85] der Heerführer und manches einzelnen Kriegers, man hoffte zuversichtlich, sie bald und siegreich wiederzusehn, nur mein Vater schien leise Zweifel zu hegen. Er hatte in einem Briefe an Victor, welcher jetzt einen hohen Rang bekleidete, seine Besorgnisse ausgesprochen. »Bah!« antwortete dieser, »es ist ja nicht unser Lehrwerk!« – »Die Sehne wird zu lang gedehnt«, sagte mein Vater, »der Stützpunkt ist zu fern, sie reißt.« – »Denken Sie an die Römerzüge nach dem entfernten Albion«, tröstete unser Abendgenosse, der freundliche Pfarrer. »Und rechnen Sie Polen, welches sich voll Freiheitshoffnung und Rachgefühl erhebt, für nichts? Es ist als ein zweiter Stützpunkt anzusehn.« – »Zu schwach!« sagte mein Vater. »Oh, mein Vater!« rief ich, »in einem Volke, dem dies geboten wurde, muß jeder einzelne ein Held werden.« Mein armes Polen! nicht erobert, nein, mitten im Frieden durch einige Federstriche mächtiger Nachbarn zerteilt, zerrissen, dann das sträubende Volk gleich einem Rebellenhaufen behandelt. Und gleichwohl beruft man sich auf Moralität und Gerechtigkeit, wenn das Eisen nicht mächtig genug ist.


Der Winter trat auch bei uns früher und unfreundlicher ein als gewöhnlich. Jedes rauhe Lüftchen preßte mir einen leisen Seufzer aus. ›Wie kalt mag es im Norden sein?‹ dachte ich. Oh, dieser unselige Winter! Wieviel Tränen hat er Frankreichs Müttern und Bräuten gekostet! Vernichtet das schönste Heer von Europa! Die Nachricht traf wie ein Donnerschlag das ganze Reich. Ich erstarrte vor Schrecken und Graus. »Selig sind die Toten!« rief ich mit aufgehobnen Armen; »sie haben diese Tage nicht gesehen.« – »Wohl sind sie seligzupreisen!« sagte mein Vater, und Tränen benetzten sein männliches Auge. »Frankreichs Heldenblüte gefallen, sein kriegerischer Ruhm befleckt! o Tage des Jammers! Aber nichts nützen weibische Tränen«, fuhr er fort, sich die Augen trocknend, »es muß gehandelt werden, daß wir uns wieder aufrichten von dem tiefen Fall. In den [86] Tagen der Gefahr muß jeder sich um so fester an den Führer schließen; nur vereinter, mutiger Wille und aufopfernder Sinn können retten, wo Klügeln und Absondern ins Verderben führen.«

Sein männlicher Sinn wurde bald der allgemeine, wenigstens dem Anscheine nach. Der unglückliche Kaiser fand ein treues Volk wieder, welches seinen eigenen Schmerz vergaß, um den verehrten Herrscher zu trösten. Er hatte nichts verloren.

Ein neues Heer zog bald dem nahenden Feinde entgegen, und in gespannter Erwartung wendeten sich alle Blicke gen Osten. Deutschland fiel ab von dem Bunde mit uns, diese Vormauer gegen den andringenden Koloß des Nordens war nicht mehr. Tief schmerzte dieser Abfall mein Volk. Mancher schmähte die tapfern Deutschen, doch ich teilte diese Ansicht nicht. Die Deutschen hatten recht, sobald sie bloß den Druck des Augenblicks in Betracht zogen; und wie konnten sie anders? Die Last des Krieges hatte jahrelang jeden einzelnen gedrückt, sein Ursprung war vergessen und von der Menge unbeachtet, der Sinn für Freiheit und Menschenrecht allgemeiner und lebhafter geworden. Sie fühlten sich gefesselt, klagten Frankreich deshalb an, erhoben sich in ihrer Kraft, wie einst gegen das Joch der Römer, und siegten wie damals. Gebe Gott, daß ihre blutige Saat ihnen goldene Früchte trage! Der Volkswille ist mir etwas Ehrenwertes, und deshalb achte ich die daraus entsprungenen Großtaten der Deutschen, wie tief auch die Wunden sind, welche sie mir und meinem Frankreich schlugen. Möge das Gefühl ihrer Kraft nie wieder in ihnen entschlummern, so gelingt ihnen vielleicht einst, was Frankreich vergebens gewollt.

Mein Vater sahe dem immer näher sich heranwälzenden Ungewitter des Krieges mit ernsten Blicken entgegen. Er traf Vorkehrungen, welche ich oft nicht ganz begriff, beschränkte unsere Ausgaben und suchte die Einnahme auf jede Weise zu erhöhen, selbst durch Verkäufe, welche [87] nicht völlig den Wert der Dinge erreichten. »Die Zeit wird böse«, sagte er, »man kann der baren Hülfsquellen nicht zuviel haben.« Dabei war er der pünktlichste Zahler jeder öffentlichen Abgabe, der freigebigste bei jedem freiwilligen Beitrage. Alle Vergünstigungen, welche er schon längst den Einwohnern auf unsern Besitzungen zugestanden, suchte er gerichtlich auf Kinder und Kindeskinder hinaus sicherzustellen und bewies darin eine Ängstlichkeit, welche mich in Verwunderung setzte. Überhaupt handelte und redete er oft in dem Sinne eines Sterbenden, der seine Rechnung mit der Welt und dem Himmel abschließt obschon er blühend und in Lebensfülle vor mir stand. Wenn ich ihn dann ängstlich umarmte und ihm fragend ins Auge sahe, blickte er mich heiter an. »Meine Virginia«, sagte er, »wird begreifen, was not tut, wenn es not tut; und wird tragen, was Pflicht und Ehre gebieten.« – »Oh, mein Vater«, rief ich, »nach so großem Verlust, was kann ich noch verlieren?« – »Verliere nur dich selbst nicht, so hast du nichts verloren!« sagte er ernst. Und ewig hallt dies Wort in meiner Seele wider.

Es war ein rauher Novembertag, der Sturm heulte durch den Säulengang des Gebäudes und jagte die Blätter der hohen Ulmen an unsern Fenstern vorüber; wir hatten uns zum freundlich leuchtenden Kamine geflüchtet, als der Pfarrer früher und eiliger als gewöhnlich in das Zimmer trat. »Wissen Sie?« fragte er ängstlich. »Was?« fragten wir. »Das Gerücht ist böse«, sagte er stockend, »die Feinde haben den Rheinübergang gewagt und keinen Widerstand gefunden.« Wir schwiegen in starrer Bestürzung. »So erfüllt sie sich denn«, brach endlich mein Vater aus, »jene dunkle Ahndung, welche ich bisher wie ein formloses Nachtgespenst auf mich zuschreiten sahe, welche ich weder mir selbst klarzumachen noch andern mitzuteilen wagte! Jetzt ist es entschieden, und jeder Franzose muß einsehen, daß ihm nur eins zu tun übrigbleibt: jede Faust muß sich bewaffnen, den Thron zu schützen und den eigenen Herd.« [88] Er schwieg und blickte erwartungsvoll auf uns. Mir stockte die Sprache. »Und du, Virginia?« fragte er nach einer Pause, »du äußerst nichts?« – »Auch du, mein Vater?« fragte ich zitternd. »Bin ich nicht des Vaterlandes Sohn?« sagte er. »Sein edelster!« rief ich, und mein Mut kehrte wieder. »Ja, mein Vater, ich sehe, was du mußt, und keine weibische Träne soll dich hindern. Sorge nicht um deine Tochter, sie wird zu sterben wissen.« – »Auch zu leben, hoffe ich«, sagte er und zog mich an seine Brust. »Dem Unglücke durch den Tod entlaufen ist eine feige Flucht, sie entehrt, und nur die Schande darf man nicht überleben. Versprich mir, mutig fortzuwirken, dich an die eigene Kraft zu halten, auch wenn die letzte Stütze bricht, und dir selber treu zu bleiben in diesen Zeiten des Verrats.« – »Ich schwöre, mein Vater!« rief ich schluchzend, »ich schwöre, deiner wert zu bleiben durch alle Zeiten!« – »Ihr frommer Sinn wird Sie stärken, mein Fräulein«, sagte der wackre Pfarrer. »Virginia trägt das Göttliche im Busen, das über alle Form erhaben ist«, erwiderte mein Vater. Gerührt und begeistert hob ich die Hände gen Himmel und rief: »Ich will! willst du nur, daß ich wolle.«


Nun trieb mein Vater eifrig zu seiner Bewaffnung. Ein Teil unserer Dienerschaft und viele der Einwohner folgten seinem Beispiel. Man hoffte anfangs eine allgemeine Landwehr eingerichtet zu sehn, sie kam aber, wenigstens in unsern südlichen Provinzen, nicht zustande. »So müssen wir denn das Heer verstärken«, sagte mein Vater und machte sich zur Abreise bereit. »Laß mich mit dir gehen, Vater!« flehte ich. »Weiber gehören nicht in den Kampf«, sagte er, »ihre Teilnahme an kriegerischen Auftritten ist eine Unnatur, welche sich nur entschuldigen läßt, wenn sie unfreiwillig dazu gezwungen werden.« – »Auch erbebt mein Inneres vor Blut und Mord«, erwiderte ich; »aber laß mich dir wenigstens nahe sein, daß ich oft von dir höre, du bist ja mein alles auf der Welt.« – »Nun wohl«, entgegnete [89] er, »wir reisen zusammen, zuvörderst nach Paris. Dies ist der Punkt, wohin die Feinde streben, das Herz des Staats, von dort muß auch die Verteidigung ausgehn. Der alte ehrliche Antoine und deine treue Manon sollen uns begleiten.« – Ich traf meine Anstalten, und der Vater versah mich reichlich mit Gelde für eine lange Abwesenheit. Am Abend vor unserer Abreise befahl er mir, die Leute zeitig zur Ruhe zu schicken und, wenn alles schliefe, auf sein Zimmer zu kommen; ich gehorchte. Als ich bei ihm eintrat, hatte er ein Kästchen offen auf dem Tische stehen. »Siehe, Virginia«, sagte er, »hier ist, was ich längst für Zeiten der Not gespart, unsre einfache Lebensweise machte mir es möglich. Hier sind fünftausend Napoleondor und eine gleiche Summe in amerikanischen Staatspapieren. Sollte ich das Ende dieses Kampfes für unsre Unabhängigkeit nicht erleben und das Vaterland sich in Geldverlegenheit befinden, dann hilf du statt meiner; gib dem Kaiser, was des Kaisers ist, unter der von ihm hergestellten und geschützten Ordnung wurde es erworben. Geht alles, was ich nimmer denken mag, geht alles in Trümmer, nun so rette dich selbst.« Er schloß das Kästchen, lud es, schwer tragend, auf seine Schulter, reichte mir eine Blendlaterne und Werkzeug, und wir gingen schweigend den Weg zur Kapelle. Hier nahmen wir das Marienbild herunter, öffneten eine unbemerkbare Höhlung des Gemäuers, schoben das Kästchen hinein, schlossen sie ebenso unbemerkbar wieder und hingen das Bild an seine Stelle. ›Werde ich diese heilige Stätte wiedersehen?‹ fragte leise mein Herz. Ich sank kniend auf die Stufen des Altars und betete: »Du Ewiger, gib mir Kraft!« – »Darum flehe auch ich, Du Unerforschlicher!« rief mein Vater und kniete neben mich. Der Anblick erschütterte mich tief, ich hatte nie ihn so bewegt gesehn. »Oh«, fuhr er in seiner betenden Betrachtung fort, »Deine Wege sind dunkel; die Frage ›Warum?‹ drängt sich auf jede Lippe, und jeder beantwortet sie nach seiner Einsicht und wie es ihm selbst frommt. Ich weiß, [90] daß alle Einsicht nur menschliche und Irren das allgemeine Los der Sterblichen ist; doch bleibt das beste Wissen und der reinste Wille immer die einzig sichre Richtschnur; auch ich folge ihr, der Ausgang steht bei Dir. Segne mein Vaterland! doch muß es jetzt untergehen zum Wohl künftiger Geschlechter, zum Wohl der ganzen Menschheit, so gib uns zur Entsagung Kraft, und laß uns edel fallen.«

Er erhob sich mutig und zog auch mich in seine Arme empor. Wir gingen gestärkt und mit neuem Vertrauen in unsre Wohnung zurück, um uns durch Ruhe zu kräftigen für den schmerzlichen Abschied.

Weinend umringten uns am Morgen die Bewohner der umliegenden Gegend. Es war eine einzige große Familie, welche von ihrem Vater Abschied nahm. Segenswünsche erfüllten die Luft; die junge Mannschaft, welche freiwillig Dienste nehmen wollte, stand ebenfalls bereit, sie hatte sich beritten gemacht und wollte uns begleiten, doch nur unter meines Vaters Anführung fechten. Die Greise gaben den Jünglingen kräftige Ermahnungen mit, und selbst die Mütter zitterten nicht für das Leben ihrer Söhne, sondern empfahlen ihnen nur Sorgfalt für die Erhaltung ihres guten Herrn. »Beschützet unsern Vater, beschirmt ihn mit Gefahr, mit Aufopferung eures Lebens!« riefen sie uns noch lange nach. Mein Vater war tief gerührt, und meine Tränen flossen reichlich. – Der Weg nach Paris war mit Truppen bedeckt, welche aus allen Richtungen zu den Armeen eilten. Mein Vater war lange unschlüssig, welcher er sich anschließen sollte; indessen setzten wir unsern Weg fort, weil er mich erst in die Hauptstadt, als den sichersten Aufenthalt, geleiten wollte. Wir langten an einem heitern Tage vor derselben an. Zu jeder anderen Zeit würde mich der Anblick so vieler Pracht und des wogenden Getümmels mit Entzücken erfüllt haben, jetzt aber war meine Seele zwischen schreckender Gegenwart und banger Ahndung geteilt. Doch gewann Paris, in geschichtlicher Hinsicht, bald ein Interesse für mich, welches mich in etwas von meiner [91] eignen Gegenwart abzog. Alle Erzählungen aus den Tagen meiner Kindheit vergegenwärtigten sich mir. Hier war der Schauplatz jenes großen Trauerspiels, welches ehemals mit seinen Greuelszenen, mit seinen Großtaten mich wechselnd mit Schauder und mit Freudentränen erfüllte. Wie oft hatte ich mich hierher gewünscht! Jetzt war ich da, und märchenhaft schien mir die rauhe Wirklichkeit. Hier hatte die furchtbare Bastille gestanden; dort war aber auch wieder die schreckliche Guillotine permanent tätig gewesen. Diesen altertümlichen Dom hatte man damals zum Tempel der Vernunft geweiht; dort erhob sich im großen reinen Stil das majestätische Pantheon. Welche Gegenstände, den Geist zu beschäftigen! Mich wunderte aber nichts so sehr, als daß die Pariser zwischen diesen Denkmälern so leichtsinnig umherlaufen konnten, haschend nach Tand und leeren Zerstreuungen, nach dem Genuß des Augenblicks. Mein Erstaunen wuchs, als ich sie, in diesen ernsten Tagen der Bedrängnis, scherzen und witzeln hörte. Es tat mir wehe, mein Herz blutete.


Persönliche Bekanntschaft veranlaßte meinen Vater, sich mit seinen Untergebenen dem Korps des Marschalls Marmont anzuschließen, mehr noch die Sage, daß der Marschall beauftragt sei, Paris zu decken. Mich hatte er zu der rechtschaffenen Familie gebracht, bei welcher meine Mutter wohnte, als sie mich gebar. Die Wirtin war seitdem verwitwet und lebte mit ihren beiden Töchtern, meines Alters, still und eingezogen. Sie erkannte meinen Vater nach einigen Erläuterungen und konnte sich nicht genug freuen, das kleine Mädchen wiederzusehen, welches sie bei dessen Geburt zuerst auf ihrem Schoße gewiegt. »Sie sind an einem merkwürdigen Tage geboren, liebes Kind«, sagte sie; »noch immer höre ich den Donner des Geschützes und das Vivatrufen im Augenblick Ihrer Geburt. Wahrlich, so wird keine Prinzessin begrüßt! Wir andern Weiber schreckten immer zusammen bei dem Lärmen; und als nun Ihr Vater ins [92] Zimmer stürzte und frei war – ach, du mein Gott! wir weinten alle wie die Kinder. Aber wir liebten, auch die schöne blasse, unglückliche Frau von ganzem Herzen. Nun, wo ist sie denn, die gute Mutter?« Uns traten Tränen in die Augen bei dieser zuversichtlichen Frage. Die darauf folgenden Erzählungen dämpften die Freude der ehrlichen Frau gar sehr, und unsre vernarbten Wunden brannten von neuem. Mein Vater empfahl mich der würdigen Matrone zur mütterlichen Aufsicht. »Sorgen Sie nicht«, sagte sie, »sie soll meine dritte Tochter sein und mein Augapfel. Verlassen Sie sich auf mich, und wehren Sie uns nur tapfer den Feind ab. Unser armer Kaiser, Gott segne ihn! kann sich fast nicht mehr all der Gegner erwehren. Ja, das ist keine Kunst; ›viele Hunde sind des Löwen Tod‹, sagt das Sprüchwort.« So schwatzte sie immerfort, während sie uns in mein Zimmer führte; es war dasselbe, in welchem meine Mutter mich gebar. Mit unnennbaren Empfindungen warf ich mich auf das Bett, wo ehemals meine arme Mutter so viele Tränen geweint. »Wohl dir«, rief ich aus, »daß du jetzt dem Erdenschmerz entnommen bist! Was würde dein Herz erleiden, hättest du auch dies noch erlebt!«

Meine gute Wirtin und ihre freundlichen Töchter taten alles mögliche, mich nach der Abreise meines Vaters zu erheitern. Manon schloß sich mit ihrer gewohnten Liebe an mich; der ehrliche Antoine ging täglich auf die Feldpost, sich nach Briefen für mich zu erkundigen, welche ich auch recht oft erhielt. Der Vater hatte mehreren glücklichen Gefechten beigewohnt und sprach mir viel Mut ein. Die Nachrichten von der Großen Armee lauteten günstig: der Kaiser sah sich wieder stark genug, gegen den Rhein vorzurücken; man hoffte, daß die Feinde ihm folgen würden und müßten und daß so das Kriegstheater über unsere Grenzen hinaus verlegt werden würde. Eitle menschliche Hoffnung, trügliche Berechnungen des endlichen Verstandes! im Buche des Schicksals stand es anders geschrieben als in den Operationsplanen eines erfahrenen Kriegsrats. Der [93] Feind rückte, unbekümmert um seinen gefährdeten Rückzug, mit seiner ganzen Macht auf Paris, und der Marschall Marmont mußte auf Verteidigung denken; er besetzte die feste Stellung von Montmartre. Mein Vater kam bei dieser Gelegenheit noch einmal in die Stadt, mich mit seiner Gegenwart zu erfreuen. In seiner Gesellschaft befand sich ein junger Pole von den Lanziers, jetzt Adjoint des Marschalls, ein junger, schöner Mann voll Feuer und Mut, dem Kaiser von ganzem Herzen ergeben. Die natürliche Leutseligkeit und Zuvorkommenheit meines Vaters machte ihn vorzüglich für Fremde sehr anziehend, welchen er auch seinerseits immer eine besondre Aufmerksamkeit widmete, ein Zug in seinem Charakter, welcher mir immer sehr schätzbar gewesen ist. Er liebte gewiß sein Vaterland und seine Mitbürger mit glühender Seele, wovon sein ganzes Leben und sein Tod unwidersprechliche Beweise gegeben haben. Er war stolz, ein Franzose zu sein, doch war er nicht eitel, es zu sein, er erkannte den Wert eines jeden fremden Volkes und konnte diese vornehme Absonderung durchaus nicht leiden, welche viele für Vaterlandsliebe ausgeben. »Wir sind ja alle Kinder eines Vaters«, pflegte er zu sagen, »und noch immer zeigt dieser gütige Vater, durch seinen gleichverteilten Segen, daß wir ihm, im ganzen, alle gleich wohlgefällig sind. Wir schlagen uns wie unartige Kinder um das Spielgerät, ich hoffe aber, wir werden einst vernünftig genug werden, um uns alle mit Bruderliebe zu umfassen. Freilich, solange die Flegeljahre noch dauern, muß jeder die Partei desjenigen nehmen, mit welchem er eine gemeinschaftliche Mutter hat oder welcher der Schwächere ist oder welcher ihm am meisten recht zu haben scheint; er muß aber nie vergessen, daß er mit den Gegnern einen gemeinschaftlichen Vater hat, und ist die Fehde vorüber, so eifre jeglicher dem andern nach im Guten und lege nicht durch Maulen oder kindisches Prahlen neuen Grund zum Streit. Ja hätte ich nur ein einziges Stückchen Brot zu geben, ich würde es [94] dem hungernden Fremden, vor allen, reichen; denn der einheimische Bruder fände eher eine zweite Hülfsquelle als der, welchem des Hauses Gelegenheit ganz unbekannt ist.« So dachte und fühlte mein edler Vater, wenige werden ihm gleichen. Oh, könnte ich sein schönes Bild malen in der Stunde des Abschiedes! wie er dastand mit dem festen ruhigen Heldenblick. Freundlich trocknete er mir die Augen und strich mir die Locken von der Stirn. »Arme Virginia«, sagte er, »du bist schlimmer daran als wir; wir handeln, du mußt das Schicksal leidend erwarten. Du hast den meisten Mut vonnöten. Schaue jeder Gefahr standhaft und besonnen entgegen, und sie wird kleiner werden. Ich lasse dich in einer Lage zurück, wo ich für jedes andere Weib zittern würde, für dich zittre ich nicht, du wirst dir selbst treu und Herr deines Schicksals bleiben. Ja, mein Freund«, sagte er, sich gegen den Polen wendend, »in dieser Mädchenseele liegt mehr Römersinn und männliche Stärke als in mancher unsrer Waffengefährten.« Der Fremde verbeugte sich gegen mich, mehr ehrfurchtsvoll als höflich; mein Erröten zu verbergen, empfahl ich ihm meinen Vater. »Sie machen mich stolz, mein Fräulein!« sagte der Jüngling und drückte meine Hand an seine heißen Lippen; »nicht des Kaisers Ehre allein wird mich in diesen heißen Tagen begeistern, Virginia sei mein Feldgeschrei! Vergönnen Sie Ihrem Ritter, Ihre Farbe zu tragen.« Ich erstaunte bei dem Ernst, womit er diese Worte aussprach. Lächelnd streifte ich das blaue Band aus meinen Haaren und reichte es ihm; er küßte es mit Begeisterung und schlang es um seinen Hals. Dieses kleine romantische Spiel hatte einige heitere Lichtstrahlen über die düstre Abschiedsszene geworfen und wehrte das Vorgefühl ab, welches sonst mein Herz zersprengt haben würde. Ich trennte mich von beiden fast in der Stimmung, mit welcher, in den Liedern unsrer Troubadours, ehemals die Damen ihre Ritter zur Schlacht ziehen sahen. Mein besonnener Vater unterhielt freundlich diesen Scherz; doch als er mich zum letztenmal umarmte, fühlte [95] ich ein leises Zittern in seinen Armen, welches mich plötzlich wie ein ungeheurer, stechender Schmerz durchbebte. Aber sogleich gefaßt, setzte er den wohltätigen Scherz fort, indem er lächelnd sagte: »So lebt wohl, mein Fräulein, und gedenkt unsrer in Eurem Gebet.« Damit schwang er sich aufs Pferd und verschwand schnell meinen Blicken. Der junge Pole küßte den Zipfel des blauen Bandes, neigte sich und folgte ihm mit Blitzesschnelle.


Da war ich nun wieder allein, unter lieben freundlichen Menschen zwar, aber doch allein. Damals war mir dies peinlicher als jetzt. Von meiner Kindheit an war mir wenigstens der Vater geblieben, mit welchem ich meine Gedanken austauschen konnte, welcher sie verstand, billigte oder befriedigend berichtigte. Das sollte von nun an nicht mehr sein. Der kleine Kreis, welcher mich umgab, vermochte nur untergeordnete Ansichten zu fassen, man berechnete, ob die Lebensmittel teurer werden würden; darüber hinaus sehnte ich mich auch nicht, denn das leichtsinnige Rennen und Fahren, das Drängen zu Theatern und andern Schauspielen beleidigte mich für den Augenblick in tiefster Seele. Ebenso empörend war es mir, wie die vornehme und reiche Welt scharenweise davoneilte und, die Sache ihres Landes feig verloren gebend, nur darauf dachte, sich und ihre Schätze in Sicherheit zu bringen. ›Die Zeichen der Zeit sind böse‹, dachte ich mit Kummer.

Meine häufigsten, liebsten Spaziergänge waren die Boulevards aux Italiens; hier war ich dem Montmartre näher, ja ich wagte mich zuweilen, von Antoine und meinen Gesellschafterinnen begleitet, bis an die Barrieren. Nach wenigen Tagen vernahm ich Kanonendonner, erst fern, dann näher; bald erfüllten kriegerische Szenen die Vorstadt Montmartre, während die eigentliche Stadt ziemlich ruhig war. Dieser Kontrast war mir auffallend, wenn wir gingen und kamen. Hier eine geputzte Welt, welche nach den Tuilerien, nach den Champs Elysées lustwandelte; dort [96] Truppenabteilungen aller Art, Proviantwagen, Geschütz, bewaffnete Bürger, kommend und gehend, Marketender zu Fuß und zu Pferde, alles eilend, lärmend, und zwischen all diesem Geräusch Artilleriesalven, von deren Gewalt die Erde zu beben schien. Mir war diese Szene so neu und ich wurde so sonderbar davon ergriffen, daß ich fast meine persönliche Lage darüber vergaß. Die Töchter meiner Wirtin beschworen mich bei allen Heiligen, mit ihnen nach Hause zu gehen, sie waren voll Furcht und Schrecken, ich aber, wie gefesselt an diesen Schauplatz, hätte ihn gern noch weiter hinaus verlegt. Ja, wenn ich nachgab, um die Forderungen der erschöpften Natur zu befriedigen, so fand ich in der sicheren Wohnung durchaus keine Ruhe, es zog mich unwiderstehlich zurück nach jener Gegend. Dachte ich einen Augenblick nach, so war ich mir selbst unerklärlich. Krieg und Schlachten hatten sonst nur einen geschichtlichen Reiz für mich, niemals konnte ich die ausführliche Erzählung eines Augenzeugen ohne inneres Leiden anhören; die Beschreibung einer Wunde verursachte mir den heftigsten Schmerz an dem eigenen unverletzten Gliede, und niemals hatte ich mich entschließen können, auch nur eine Taube oder ein Huhn schlachten zu sehen. Und jetzt, dem Blutvergießen so nahe, oft blutenden Verwundeten begegnend, und ich lebte noch? Zu erklären mag es nicht sein, doch führe ich es an, wie es sich in der Tat verhielt. Die Besorgnis um den Vater regte sich oft lebhaft in meinem Herzen, aber der Eindruck, welchen das Ganze auf mich machte, die Größe des Augenblicks ließ sie nie überwiegend werden. So ging und kam ich, in gespannter Erwartung, teilte den einzelnen Verwundeten meine Tücher und mein Geld mit und hegte noch immer die Hoffnung eines siegreichen Ausganges, als schon das Gerücht sich verbreitete, man habe Kosaken bis dicht an die Barrieren streifen sehen.

Nun war kein Verweilen mehr. Man riß mich mit Gewalt fort nach unsrer Wohnung. Jetzt erst, da ich daheim [97] war, in den eingeschlossenen Zimmern, ergriff mich die quälendste Unruhe. Eine plötzliche Stille folgte auf den Donner des Geschützes; die Straßen wurden minder geräuschvoll und öder; jeder fragte mit banger Neugier den Nachbar um Nachrichten, diese waren widersprechend und unsicher. Da ließ sich plötzlich Pferdegalopp die Straße hinauf vernehmen, ahndungsvoll stürzte ich an das Fenster. Es war der junge Pole, welcher, mit Staub bedeckt, vom Pferde sprang. Ein furchtbares Vorgefühl warf mich regungslos auf einen Sessel, sein Anblick sagte mir das Schrecklichste, noch ehe er die Lippen öffnete. Verzweiflung rang in seinen Zügen, und Blässe war an die Stelle seiner Jugendröte getreten. Er sank zu meinen Füßen. »Verloren!« hauchte er mühsam hervor. »Mein Vater?« rief ich, fast erstickend. Er zog ein Portefeuille mit dem Bildnisse meiner Mutter aus seinem Busen. »Das letzte Andenken des Edlen und sein Lebewohl!« sagte er kaum vernehmbar. Ich war vernichtet, ich hatte keine Tränen. »Ach«, fuhr er fort, »Ihr Vater starb beneidenswert! die Schlacht, sie war noch nicht entschieden und die Hoffnung noch auf unsrer Seite. Mit seinem Leben hoffte er den Ruhm und die Freiheit seines Vaterlandes erkämpft zu haben. Es ist vorbei!«

Ich drückte heftig das blutbefleckte Andenken an meinen Mund und sank vor Schmerz zusammen. Die Frauen eilten mir zu Hülfe. Auf ihre Fragen erfuhren wir, ach nur zu früh! die fernern Begebenheiten. Man hatte schimpflich kapituliert. Frankreichs Ehre und die Kaiserkrone wankten; soviel vernahm ich. »Mein Fräulein«, rief der junge Pole und drückte meine kalte Hand an seine Brust, »ich war sehr kühn und hegte eine große Hoffnung! Ein Traum, er war zu schön! ich bin herabgestürzt aus allen meinen Himmeln. Verlassen muß ich die kaum Gefundene, zu ihm ruft mich die Pflicht, er bleibt mein Herr, ihn wählte ich mir zum Stern! der Tod nur trennt mein Schicksal von dem seinen.«

Ich ermannte mich auf einen Augenblick, das Feuer des [98] Jünglings regte meine Lebenskraft ein wenig auf. »Gehen Sie«, sagte ich, »gehen Sie, wohin Pflicht und Ehre Sie rufen, meine Achtung begleitet Sie.« Ich neigte mich zu ihm nieder, er drückte mich leidenschaftlich an seine Brust. »Ich gehe, um Ihrer wert zu bleiben«, rief er, »leb wohl für diese Welt!« – – ich sah ihn nie wieder. Matt und in dumpfer Fühllosigkeit fiel ich in die Arme meiner weinenden Manon zurück.


Ich übergehe die zerreißenden Empfindungen der nächsten Stunden; sie waren schrecklich. Keine lindernde Träne wollte meinen brennenden Schmerz kühlen, mein Gehirn brachte nur verworrene gräßliche Bilder hervor. Da erbarmte sich die Natur, die gütige, meiner und rettete meine Sinne durch eine betäubende Krankheit. Lange habe ich in Fieberhitze gelegen, dem Anscheine nach ein Raub des Todes, und nur allmählich und schwach ordnete sich mein Bewußtsein wieder. In dem Zustande eines Kindes, welches die Größe seines Verlustes noch nicht ganz begreift, lernte ich den meinigen fassen und ertragen. Er, der meines Lebens Sonne gewesen, war nicht mehr! Mir grauete in der finsteren Nacht, in welcher ich allein gelassen war. Aber wie Kinder plaudern, wenn sie sich fürchten, so redete ich leise mit ihm, der mir immer gegenwärtig schien. Ich hörte viel reden von den Vorfällen des Tages; mein Anteil daran verstärkte sich nur langsam, doch waren meine Beobachtungen genau und meine Ansichten unverändert. Man äußerte sich überall mit der Behutsamkeit, an welche man sich seit der Schreckenszeit gewöhnt hatte, doch merkte ich leicht an den seichten Trostgründen, womit man einander das Unabänderliche in ein vorteilhaftes Licht zu stellen suchte, wie sehr man des Trostes bedürfe. Ich vermied jede Äußerung über das, was mich, nächst meinem persönlichen Verluste, so schmerzlich bewegte, teils aus körperlicher Schwäche, teils weil ich es für zwecklos hielt, da eine ohnmächtige Weiberstimme zu erheben, wo Millionen [99] Männerstimmen schweigen mußten; aber mit dem Geiste meines Vaters setzte ich in Gedanken diese Gespräche fort. ›Die Sache des Volkes ist verloren‹, sagte ich, ›und die Sache der Fürsten siegt, nach zwanzigjährigem Blutvergießen. Daß der große Mann des Jahrhunderts verlästert wird, ist natürlich und liegt schon in seiner Größe. Flecken und Mäler erscheinen an einer Riesenfigur größer, und Pygmäen finden den Gulliver abscheulich. Sein größtes Verbrechen aber scheint mir immer zu sein, daß er, im Volke geboren, sich den Weg zum Throne gebahnt und das Volk ihn darauf bestätigt hat. Wäre er ein geborener Fürst, man würde ihn in der Geschichte über alle Helden der Vorzeit erheben und ihm seine Eroberungen nicht als Verbrechen anrechnen. Daß Regierungen durch solche Besitzergreifungen nicht befleckt werden, beweisen ja noch in den neuesten Zeiten die Eroberungen Rußlands gegen Süden und Osten, die Handlungsweise der Engländer in Ostindien und die Teilung von Polen. Der Besiegte trägt sein Schicksal mit Größe, und eben dies verbürgt mir die Stärke seines Geistes; ein eitler Ehrgeiziger würde darunter erliegen, doch er, in seinem stolzen Selbstgefühl, würde sich noch in Fesseln erhaben dünken und frei!‹

Mehrere Wochen noch blieb ich, durch einen Zustand von Schwäche, im Bette festgehalten, und auch dann noch konnte ich nur auf einzelne Stunden im Wohnzimmer, auf einem Sofa, dem kleinen Familienkreise unsres Hauses beiwohnen. In demselben hatte sich während meiner Krankheit eine große Veränderung zugetragen. Ein junger deutscher freiwilliger Jäger war bei uns einquartiert und in kurzem einheimisch geworden. Seine Bekanntschaft tat mir wohl und wehe, sein Stand, seine Jugend und seine liebenswürdige Sanftheit und Bescheidenheit erinnerten mich nur zu lebhaft an meinen lieben Emil. ›So würde er jetzt sein!‹ dachte ich, und tausend schmerzliche Betrachtungen drängten sich meinem leidenden Gemüte auf. Tränen füllten meine Augen, wenn ich den schönen Jüngling ansahe, und [100] doch sahe ich ihn so gern in seiner edlen Haltung. Seine ihn besuchenden Kameraden waren nicht alle ihm gleich, manche kindisch eitel, unbillig, anmaßend und großprahlerisch; er zeichnete sich durch Geistesbildung, Bescheidenheit und Billigkeit des Urteils aus. Daß er ebenso tapfer sei, davon gaben ihm ein roter Streif über der Stirn und ein noch etwas steifer Fuß das Zeugnis; er hatte bei Lützen tapfer gekämpft und zwei Wunden davongetragen. Bald merkte ich, daß zwischen dem schönen Freiwilligen und Henrietten, der zweiten Tochter des Hauses, sich eine innige Neigung entsponnen hatte. Die Älteste, Nancy, war mit einem im Zivildienst angestellten Landsmanne versprochen und sahe die wachsende Zuneigung ihrer Schwester mit mißbilligenden Augen an. Es kam darüber bald, in meiner Gegenwart, zu Familienstreitigkeiten. »Mein Gott, ein Ketzer!« seufzte die gute fromme Mutter. »Ist er nicht ein edler Mensch, liebes Mütterchen?« sagte ich besänftigend, »ist er nicht so brav als menschlich im Reden und Handeln? spricht er nicht von seinen Eltern und Geschwistern mit der zartesten Ehrfurcht und Liebe und von Gott, in zufälligen Äußerungen, mit Vertrauen und Dankbarkeit?« – »Alles schön, mein Kind, alles schön«, erwiderte die gute Alte, »es ist ein lieber, guter Mensch, auch nicht unbemittelt, wie man hört, aber er hat doch nicht den rechten Glauben.« – »Darüber kann nur Gott entscheiden«, antwortete ich, »die Formen sind Menschenwerk.« Es kostete mir viele Mühe, das Gewissen der frommen Frau zu beruhigen, doch kam ich damit noch leichter zustande, als das leidenschaftliche Vorurteil der heftigen Nancy zu besiegen. »Ein Fremder!« rief sie mit Erbitterung, »ein Feind!« – »Ist er uns fremd? ist er uns feindselig, gute Nancy?« fragte ich. »Mein Himmel, wie kannst du so reden?« sagte sie heftig. »Kannst du denn wissen, ob nicht gerade sein Gewehr auf die Brust deines Vaters gezielt?« – »Und hätte dies wirklich der Zufall gefügt«, erwiderte ich mit einiger Anstrengung, »so würde ich ihn darum [101] nicht weniger schätzen. Das Schicksal stellte sie einander gegenüber; sie taten beide ihre Pflicht, verfochten beide ihre Meinung und die Sache ihres Fürsten, es war nichts Persönliches in diesem Streit; und setzen schon die Gebräuche des Zweikampfs fest, daß sich nach Beendigung desselben Sieger und Besiegte umarmen, so sollte dies noch eher nach beendigten Völkerfehden geschehen. Die Deutschen hatten recht, sie fühlten sich gefesselt, sprengten die Ketten, erhoben sich in ihrer Kraft, bewaffneten sich und besiegten unsre bewaffnete Macht. Kannst du ihnen das verargen? Wir hätten dasselbe getan, ja wir haben, aus Freiheitsdrang und ängstlicher Besorgnis für unsre Aufrechthaltung, noch ganz andre Dinge getan. Nein, ich werde die Deutschen immer bewundern und lieben! Ich sage noch mehr: wäre unsre männliche Jugend Deutschlands Heldenjugend gleich gewesen, es stände besser um uns. Und nun zumal dieser edle Jüngling, unser Gastfreund, und wir, unkriegerische Weiber.«

So verfocht ich täglich mit Eifer die Sache der Liebenden. Der Fremde mochte manches davon, durch Henrietten, erfahren haben, er bezeugte die zarteste Teilnahme für das liebe kranke Fräulein, wie er mich nannte. Späterhin hatte ich die Freude zu hören, daß Henriette ihn in seine Heimat begleiten würde, und es gewährte mir einen großen Trost, zu glauben, daß ich einigen Anteil an dem erwünschten Ausgang ihres Schicksals gehabt.


Bei dem allen wurde mir der Aufenthalt in Paris unerträglich. Das Geräusch betäubte, und die Charakterlosigkeit der Einwohner ärgerte mich. Ich sehnte mich nach der Stille von Chaumerive zurück, mit dem täuschenden Trostgefühl, als würde ich dort meine alte Welt wiederfinden; meine Schwäche verhinderte mich aber immer noch, Anstalten dazu zu treffen. Auch meine Manon sehnte sich im stillen zu den harmlosen Tänzen unsres Dörfchens zurück. Antoine, der ehrliche Antoine, welcher schon so lange im [102] Dienste unsers Hauses gewesen und mich noch auf den Armen getragen hatte, betrübte sich herzlich über den Verlust seines guten Herrn und über meinen Schmerz. Er war es, welcher plötzlich meinem Schicksale eine unvorhergesehene Wendung gab. Ohne ihn wäre ich in einigen Tagen abgereist, wäre vielleicht noch lange vergessen geblieben, und in einer andern Lage, anders beraten, würde ich vielleicht einen anderen Plan befolgt haben, als ihn mir die Umstände jetzt aufgedrungen. Du weißt, liebe Adele, wie der ehrliche Alte, in den Tuilerien herumschlendernd, Dich und Deine Mutter erblickte, die Schwester seines teuern Herrn. Er war außer sich vor Freude. Durch ihn erfuhrt Ihr meine Anwesenheit, und wenig Minuten darauf hielt Euer Wagen vor unsrer Tür. Ich in Euren Armen, welches Entzücken für mein verwaistes Herz! Auch überließ ich mich demselben anfangs mit Trunkenheit, bis sich Wehmut unsrer gemeinschaftlich bemächtigte. Nachdem wir lange miteinander geweint und geklagt hatten, kündigte mir Deine Mutter an, daß sie mich am folgenden Morgen abholen würde und daß ich in ihrem Hotel wohnen sollte. Ich versprach, bereit zu sein, ob ich gleich eine dunkle Abneigung dagegen in mir spürte. Meine guten Hausgenossen hörten mit Betrübnis von dieser Veränderung. Der Glanz Eurer Erscheinung und der Titel Gräfin, unter welchem Deine Mutter von mir zu ihnen sprach, hatte die armen Leute ganz schüchtern gemacht. Es kostete mir viele Mühe, sie zu überzeugen, daß ich die alte Virginia sei und bleiben wolle. Sie weinten alle recht herzlich, als ich am andern Tage mit Deiner Mutter davonfuhr.

Im Hotel angelangt, führte mich Deine Mutter in ihr Kabinett, und nachdem sie mich zärtlich umarmt und mir ihre mütterliche Liebe zugesichert hatte, machte sie mir bekannt, daß sie mich ihrem Gemahl, dem Herzoge, vorstellen werde, mit welchem sie schon meinetwegen gesprochen und ihn zu meinem Vorteil gestimmt habe. Ich kann es Dir unmöglich beschreiben, welchen widrigen Eindruck [103] diese fremde, vornehme Wendung auf mich machte. Wie wurde mir aber erst, als sie fortfuhr: »Der Herzog weiß bloß im allgemeinen, daß dein Vater tot ist, ich muß dich aber bitten, es ihm und jedermann zu verhehlen, daß er, mit den Waffen in der Hand die Sache unsers Königs bekämpfend, gestorben. Es könnte uns nachteilig sein in der Gunst des Hofes und würde dem Herzog äußerst mißfallen.« Ich erstarrte. »O mein Vater!« brach ich endlich schluchzend aus, »kann man von deiner Tochter verlangen, deine Vaterlandsliebe und deine heldenmütige Aufopferung zu verleugnen?« – »Sei vernünftig, Virginia«, sagte Deine Mutter, »die Dinge haben sich sehr verändert, du wirst dich darein finden lernen und die eingesogenen Vorurteile ablegen. Mein guter Bruder war, durch Umstände, in eine schlechte Sache verflochten worden, Friede sei mit seiner Seele! Gern will ich im stillen mit dir über seinen Verlust weinen; aber ich untersage dir, mit mütterlichem Ansehn, mich nicht öffentlich in Verlegenheit zu setzen.« – »Ich werde schweigen, wenn man mich nicht ausdrücklich fragt«, sagte ich entrüstet, und die mit Rührung begonnene Unterredung endete ziemlich lau. Sobald gemeldet wurde, daß der Herzog sichtbar sei, wurde ich, von Deiner Mutter begleitet, zu ihm in den Saal geführt. Er empfing mich recht artig, stellte sich mir als das Haupt der Familie durch das Testament des Großoheims vor und versicherte mich seines väterlichen Schutzes. Er umging jede frühere Beziehung und sagte mir vieles Schmeichelhafte über sein Vergnügen, mich in die große Welt einzuführen, wo ich gewiß mit Erfolg auftreten würde. Dann fügte er, sich gegen Deine Mutter wendend, mit Bedeutung hinzu: »Sie werden Sorge tragen, daß unsre Nichte mit all dem Glanze auftritt, welcher ihren Annehmlichkeiten und unserm Range gebührt. Ich liebe die traurigen Farben nicht«, fuhr er, mit einem Blick auf mich, fort, »sie rauben den schönen Wangen alles Feuer.« Dann entließ er uns mit einer höflichen Wendung. Ganz betäubt von diesen befremdenden [104] Szenen kam ich auf mein Zimmer, wo Du mir in die Arme flogst. Du warst die alte, meine herzige Adele. Deine Liebkosungen, Deine heiteren Scherze beruhigten mein empörtes Gemüt. Dein Bruder Louis ließ sich melden, um die Bekanntschaft seiner schönen Cousine so schnell als möglich zu machen. Du warst Zeuge, wie sein Benehmen und seine Manieren mir auffielen, und lachtest mehrmals laut auf über meine verlegene Befremdung. Ja, man wirft im Auslande unsern Landsleuten Frivolität und Leichtsinn vor, und wohl leider nicht mit Unrecht, wie ich seit meinem Aufenthalt in Paris mit Unwillen wahrgenommen habe; hier aber überbot ein Ausländer alle Muster, welche ich bisher in dieser Art gesehen. Wie froh war ich, als ihn seine Vergnügungen von uns rissen, ganz gegen seine Neigung, wie er tausendmal schwur. Jetzt fing ich an, aufzuatmen und mich ein wenig in dieser neuen fremden Welt zu finden. Tausend Stimmen in meinem Innern riefen, daß sie nimmer, nimmer die meinige werden könne; doch war ich entschlossen, sie näher ins Auge zu fassen und reiflich zu erwägen, was mir zu tun vonnöten sei. Wir verlebten nun unsre Tage ganz angenehm, unter uns, indem wir uns durch Musik und Lesen aufheiterten. Deine Mutter war meistens so gütig und liebreich wie in jenen schönen Tagen in meiner Provence. Mein Herz neigte sich wieder kindlich zu ihr; als Du aber in Deiner schaulustigen Art vorschlugst, einen nahen Spaziergang zu besuchen oder ins Theater zu fahren, und sie sich weigerte, weil ich in Trauer sei, welches ich anfangs dankbar für zarte Schonung hielt, jedoch sie mir bald darauf, mit einer kleinen Verlegenheit, den Vorschlag machte, ob ich mich nicht wenigstens weiß kleiden wolle, indem die Tracht Aufsehn errege und ich ihr durch deren Ablegung einen Gefallen erzeigen würde, da konnte ich mich nicht enthalten, in größter Leidenschaft mit Hamlet auszurufen: »O Himmel, ein vernunftloses Tier würde länger getrauert haben!« Deine Mutter schwieg beschämt. Das Vertrauen war wieder vernichtet, obschon es [105] mir am andern Tage vor Augen lag, daß sie gegen ihr Gefühl, nur nach der Vorschrift Deines Vaters, handle.

Der Herzog, vergib mir, Adele, daß es mir nicht möglich ist, Deinen Vater anders zu nennen, er war mir fremd, kündigte sich mir als solcher an und wurde in Eurer Familie selbst fast nicht anders genannt; der Herzog, welcher mehrere Tage auswärts gespeist hatte, erschien nämlich bei der Mittagstafel. Bald bemerkte ich, daß er öfters finstere, mißfällige Blicke auf mich warf. Nach aufgehobener Tafel näherte er sich mir und nötigte mich, in ein Fenster zu treten. »Warum noch immer in dieser Farbe, gegen welche ich mich schon anfangs mißbilligend erklärt habe?« fragte er mit gebietender Stimme. »Die Zeit der Trauer ist noch nicht vorüber«, stotterte ich. »Trauer paßt nicht für diese Zeit!« sagte er herrisch, »wäre auch der Tote erst gestern begraben; Trauerzeichen sind zweideutig, und sie sollen, wenigstens in meinem Hause, nicht gesehen werden. Zudem sollen Sie am Montage der Prinzessin... vorgestellt werden, bereiten Sie sich gehörig dazu vor.« Ich wollte etwas erwidern, er ließ mich aber nicht zu Worte kommen. »Ich meine es gut mit Ihnen, Gräfin Nichte«, fuhr er etwas milder fort, »aber Sie müssen sich zu fügen wissen.« Er entfernte sich aus dem Zimmer. Ich wankte nach dem meinigen; Deine Mutter folgte mir und umarmte mich mit einiger Rührung. »Ich hätte es dir gern erspart«, sagte sie, »aber du wolltest meine Winke nicht verstehen.« Ich brach in Tränen aus. »Beruhige dich, liebe Virginia«, sagte sie, »wir Weiber sind ja einmal zum Gehorchen geboren, gib diesen kleinen Eigensinn auf.« Eigensinn! o Himmel und Erde! – Du kamst dazu und liebkosetest mich mit Deiner gutmütigen Art, redetest mir so freundlich zu, daß ich am Ende Eure Friedensvorschläge annahm, mich, wenn ich außerhalb meines Zimmers erschiene, bunt zu kleiden und mich öffentlich und in Gesellschaft mit heiterem Gesichte zu zeigen. Oh, welch ein Opfer brachte ich der bittenden Freundschaft, und mit welcher Sehnsucht eilte ich in meine [106] Einsamkeit zurück, um meine schwarzen Gewänder anzulegen und mich von ganzer Seele betrüben zu können! Welch ein Wechsel für mich! ich, die nie den Schein des Zwanges gefühlt hatte, frei aufgewachsen war, wie das Reh des Waldes, nun umgarnt mit tausend Netzen und noch keinen Ausgang gewahrend!


Für den Augenblick gab ich der Notwendigkeit nach und ließ mich einführen in diese fremde Welt. Ihr alle waret nun voll Besorgnis für mein erstes Auftreten und eifrig bemüht, mir Mut einzusprechen. Ich mußte innerlich lächeln, denn er fehlte mir nicht. Wohl fühlte ich Widerstreben, aber keine Ängstlichkeit. Was Euch imponierte, ließ mich im Gleichgewicht. Auch schien man allgemein überrascht von meiner ruhigen Besonnenheit. Ich war in den spiegelglatten Sälen des Hofes, unter hoffähigen Leuten, mit meinem sicheren Gange eine fremde Erscheinung. Aber wie fast immer das Fremde Glück macht, so wurde auch ich nicht ungünstig aufgenommen, ja es hätte vielleicht nur bei mir gestanden, zu einer gewissen Berühmtheit zu gelangen, wenigstens unterhielt mich Dein Bruder unaufhörlich von dem glänzenden Eindruck, welchen ich gemacht; mir wurde aber mein Glück mit jedem Tage unerträglicher. Es war mir gleich unmöglich, die Maske der Unterwürfigkeit vorzunehmen oder in Schmähungen gegen die verflossenen Zeiten einzustimmen. Die ewig witzelnde, schale Unterhaltung, welche, in derselben Viertelstunde, vom Ball zur Politik und von der neuesten Mode zur neuesten Mordtat überspringt, war mir in tiefster Seele zuwider.

Es war bei meinem wahrhaftigen Charakter wohl nicht möglich, die Eindrücke ganz zu verbergen, welche ich in der Gesellschaft empfing. Einige unsrer Tischgenossen, um sich, meiner Kälte wegen, an mir zu rächen, machten sich das boshafte Vergnügen, mich oft in Verlegenheit zu setzen, indem sie meine Meinung über diese und jene der neuesten Begebenheiten zu hören wünschten. Ich suchte mich [107] zwar immer geschickt herauszuwickeln, um weder meine eigene Meinung zu verleugnen noch der fremden wehe zu tun, aber meine Mäßigung machte die Angreifer nur kühner. Selbst Dein Bruder gesellte sich nicht selten zu ihnen. Der Herzog warf, bei solchen Vorfällen, wütende Blicke auf mich, und Deine Mutter hielt mir insgeheim lange Strafreden, welche mir wehe taten, ohne mich zu überzeugen. Sie ging immer deutlicher mit dem Plane gegen mich heraus, welchen ich schon seit einiger Zeit geahndet hatte, mich an Louis zu vermählen. »Du gehörst zu unsrer Familie«, sagte sie, »und mußt deine Gesinnungen ganz nach den unsrigen zu ändern suchen.« Ich fühlte mich empört von diesen anmaßenden Zumutungen, und meine Erwiderungen mochten keine große Unterwürfigkeit ausdrücken. Man fing an, mich immer häufiger zu schmähen und zu kränken, Dein Bruder nahm ein zuversichtliches, herrisches Betragen an. Er nannte mich oft seine schöne Zukünftige und behandelte meine Prostestationen als Scherz. Dann hielt er uns, mit altkluger Miene, lange Vorlesungen über die Pflichten unsers Geschlechts als Gattinnen, welche mit meinen Begriffen sehr wenig übereinstimmten. Du lachtest ihn geradezu aus, brachtest ihn aus der Fassung und mich zum Lächeln; mir war aber das Ganze nichts weniger als lächerlich.

In den Stunden der Einsamkeit fing ich ernstlich an, darauf zu denken, mich dieser drückenden Lage zu entziehen. Nach Chaumerive zurückzukehren und dort, wenn auch nicht glücklich, doch ruhig zu leben fand ich sehr einfach. Ich waffnete mich mit meinem ganzen Mut, um diesen Entschluß dem Herzoge bekannt zu machen, nachdem Deine Mutter ihn schon als einen kindischen Einfall aufgenommen und mir geraten hatte, nicht weiter daran zu denken. Ich ließ mich förmlich beim Herzoge melden. Ruhig trug ich ihm den Wunsch vor, in den nächsten Tagen nach meiner Heimat abzureisen. Er schwieg einen Augenblick betroffen, dann antwortete er, an sich haltend: »Ich denke, [108] Gräfin, Sie haben kein andres als mein Haus.« – »Ich werde es mit den dankbarsten Empfindungen verlassen«, erwiderte ich, »aber der Aufenthalt meiner Kindheit fordert mich unwiderstehlich zurück.« – »Es ist Zeit, diesen romantischen Hang abzulegen«, antwortete er, »ich werde Sorge tragen, daß Ihr Interesse dort aufs beste wahrgenommen werde; ich werde einen sicheren Geschäftsmann dahin senden, welcher alles reguliert, und was Sie sich etwa noch von dorther wünschen, haben Sie nur die Güte zu bestimmen.« Ich sahe ihn während einer kleinen Pause mit großen Augen an, dann sagte ich bescheiden, aber nachdrücklich: »Chaumerive und seine nachbarlichen Besitzungen waren meines Vaters rechtmäßiges Eigentum, und ich bin mündig.« – »Die Töchter großer Familien sind dies niemals«, erwiderte er, »und ich bitte, nicht zu vergessen, daß ich die Ehre habe, das Haupt der Unsrigen zu sein.« – »Ihnen meine Achtung zu bezeugen, Herr Herzog, legte ich Ihnen meinen Entschluß vor«, sagte ich mit vieler Ruhe. »Den Sie auch ohne meine Zustimmung ausführen zu können glauben?« rief er zornig; »aber ich sage Ihnen, Sie werden es nicht wagen, meine trotzige Republikanerin! mein Arm reicht weit, und dem Könige muß daran liegen, daß der Glanz seiner Getreuen, durch reiche Erbinnen, erhöhet werde, ich habe deshalb schon Einleitungen getroffen. Ihre Hand ist meinem Sohne bestimmt, dieses Bündnis stellt alle Parteien zufrieden, und Ihre Meinung ist darin von keinem Gewicht; Töchter hoher Abkunft werden immer nach den Gesetzen der Konvenienz vermählt.« – »O Gott! ich bin nicht von hoher Abkunft«, rief ich aus. »Man wird einen Schleier über die Vergangenheit werfen«, erwiderte er, »Sie werden vom Hofe nur als die Enkelin des Herzogs von Montorin angesehen werden, suchen Sie sich dieser Gnade würdig zu machen, und vor allem scheuen Sie meinen Zorn.« Damit entließ er mich. Ich kam ganz verstört in mein Zimmer zurück, wo ein heftiger Tränenstrom meine gepreßte Brust erleichterte. Deine Mutter [109] erschien bald darauf. »Unglückliche«, sagte sie, »warum mußtest du dir eine so unangenehme Szene zuziehn, und um welcher kindischen Grille willen! Hättest du einen Augenblick nachgedacht, so würdest du selber eingesehen haben, wie unschicklich es sei, allein nach Chaumerive zu reisen. Nach deiner Vermählung wird Louis gewiß die Gefälligkeit haben, dich auf einige Wochen dahin zu führen.« – »Sie setzen da einen Fall, liebe Tante«, sagte ich, »welcher meiner Seele sehr fremd ist.« – »Fremd?« rief sie, »und warum, wenn ich bitten darf? Louis liebt dich, das wußtest du längst, und worauf könnte sich bei dir eine Abneigung gegen ihn gründen? Er ist jung und liebenswürdig, er sichert dir einen hohen Rang in der Gesellschaft; überdies aber ist diese Heirat in der Familie einmal beschlossen, und ich hoffe, daß du wenigstens soviel Erziehung haben wirst, um zu wissen, daß du deiner Familie Gehorsam schuldig bist.« – »Meine Eltern, welche ihn zu fordern ein Recht hatten, haben ihn nie an mir vermißt«, antwortete ich gefaßt, »aber gewiß würden diese teuren Eltern niemals über meine Hand verfügt haben, ohne mein Herz zu Rate zu ziehen.« – »Ja, ja«, sagte sie, »mein Bruder dachte freilich etwas bürgerlich; in unserm Stande kann aber davon die Rede nicht sein. Ich will doch nicht hoffen, daß dein Herz schon eingenommen ist? etwa für einen kleinen Emporkömmling von ehemals? Ich rate dir, ihn in der Stille daraus zu verbannen, es könnte ihm leicht ein schlimmes Spiel machen.« Ich schwieg, denn ob ich gleich die versteckte Drohung nicht zu fürchten hatte, so war mir Mucius' Name und meine Liebe zu heilig, um sie hier auszusprechen. Deine Mutter glaubte in meinem fortdauernden Stillschweigen und in meiner ruhiger werdenden Miene ein günstiges Zeichen zu sehn; sie glaubte mich zum Nachgeben gestimmt und verließ mich mit vieler Zufriedenheit, indem sie mich wiederholt umarmte und mich ihre gute Tochter, ihre vernünftige Virginia nannte – sie irrte sehr. In meiner Seele arbeitete sich der Vorsatz empor, [110] diese Fesseln, um jeden Preis, zu brechen, und dieser mutige Gedanke gab mir Festigkeit und Ruhe.


Sobald ich allein war, fing ich an, über Mittel nachzudenken, durch welche ich zum Ziele gelangen könnte, und ich befand mich in einem ziemlichen Labyrinthe.

Sosehr ich auch von der Rechtmäßigkeit meiner Forderung und von meinem Anspruch auf Unabhängigkeit überzeugt war, so wußte ich doch nicht, wie weit die Gewalt der Willkür gehen könnte. Ich hatte in meiner Kindheit zu viel von Machtsprüchen und Gewaltstreichen dieser Art gehört und gelesen, als daß sich mir nicht die Möglichkeit hätte aufdringen sollen, man werde zu einer Zeit, wo man eifrig darnach zu streben schien, das Alte ganz wiederherzustellen, ohne Bedenken dazu wieder seine Zuflucht nehmen. Auf wessen Schutz konnte ich hoffen? Meine Gegner waren von der siegenden, meine Freunde von der unterdrückten Partei. Wen sollte ich mit dem gefahrvollen Amte meiner Verteidigung belasten? Versperrte ich mir nicht bei einem offenbaren Auflehnen, im unglücklichen Falle, jeden Weg der Rettung? Bald begriff ich, mein einziges Heil liege nur in der Flucht und nur meinem eignen Mute dürfe ich mich vertrauen. Sobald ich hierüber mit mir einig war, fühlte ich mich beruhigt und erschien wieder unter Euch, mit meiner gewohnten Heiterkeit, wodurch Ihr alle auch über mein Vorhaben getäuscht worden seid. Im stillen fuhr ich jedoch zu beobachten fort, und bald wurde mir klar, daß ich fast wie eine Gefangne gehütet werde. Man hatte mir eine zweite Kammerfrau gegeben und meine Manon ziemlich überflüssig zu machen gesucht. Antoine wurde mit Pension entlassen, um nach seiner Heimat zurückzukehren, und kam, um mir zum Abschiede die Hand zu küssen, Deine Mutter war dabei zugegen. Aber vorbereitet darauf, drückte ich ihm, indem ich ihm einige Goldstücke zum Andenken schenkte, unvermerkt einen kleinen Zettel in die Hand, worin ich ihm befahl, bis auf [111] weitere Nachricht auf dem nächsten Dorfe zu verweilen. Mit Behutsamkeit fand ich nun Gelegenheit, Manon mein Vorhaben zu entdecken. Die Schlauheit des Mädchens glich ihrer Treue; sie war schnell orientiert und spielte ihre Rolle vortrefflich, denn auch sie sehnte sich ebenso nach den Blumenufern der Durance zurück als ich mich nach Freiheit. Reichlich durch mich mit Geld versehen, fing sie ihr Spiel damit an, daß sie sich sehr schau- und tanzlustig stellte und mit einigen Bedienten der Nachbarschaft die öffentlichen Örter besuchte, worüber sie einigemal sich meine Mißbilligung und ernstliche Verweise Deiner Mutter zuzog. Sobald sie sich in dieses Licht gestellt hatte, nützte sie die angenommene Meinung über ihre Gänge, um Antoine aufzusuchen und alles mit ihm zu verabreden. Sie kam oft spät nach Hause, wobei sie sich immer von einem jungen Menschen begleiten ließ und dann dem aufschließenden Schweizer schmeichelte, damit er ihr spätes Ausbleiben verschweigen solle. Ihn zu beschwichtigen, brachte sie ihm mehrere Abende nacheinander ein Fläschchen Madeira mit, welches ihr, wie sie sagte, ihr Liebhaber verehrt habe, der die Aufsicht über seines Herrn Weinkeller führe; der Wein sei ihr zu hitzig, meinte sie, der Schweizer fand ihn dagegen sehr nach seinem Geschmack. Nachdem sie ihn so einige Tage sicher gemacht hatte, mischte sie eines Abends einen leichten Schlaftrunk unter den Wein, dessen Wirkung schnell, aber nur von kurzer Dauer sein sollte, und erquickte beim Nachhausekommen den Wartenden. Ich war durch einige Winke benachrichtiget und lag wachend in meinem Bette. Schnell stand ich auf, warf nur eine Unterkleidung über, hüllte mich in ein großes Tuch, und so schlichen wir behutsam die Treppe hinab. Der Schweizer lag glücklich im tiefsten Schlaf, Manon nahm den Schlüssel, öffnete, und wir erreichten glücklich die Gasse. An der nächsten Ecke erwartete uns Antoine mit einem Wagen. Manon hatte für Kleider, Antoine für einen Paß, auf sich und zwei Töchter lautend, gesorgt. So [112] kamen wir ohne Hindernis aus den Barrieren, und ich atmete tief auf, als die Steinmasse hinter mir lag, welche für mich ein Gefängnis gewesen war. Vergib mir, teure Adele, es tat mir wohl wehe, Dich verlassen zu müssen, aber das Gefühl der Freiheit überwog jede andre Empfindung. Selbst meinen großen Verlust und das Unglück meines Vaterlandes fühlte ich in diesen Augenblicken nur schwach.

Wir eilten schnell vorwärts und gönnten uns kaum die notwendigste Rast. Doch glaubte ich, selbst bei diesem Vorüberfluge, zu bemerken, daß die Stirnen überall tiefer gefurcht waren als in Paris. Dies tat mir einigermaßen wohl; denn hätte ich länger in der Hauptstadt gelebt, ich glaube, ich hätte mein Volk hassen gelernt. Ich hatte mich sehr davon entwöhnt, mich über etwas zu äußern, und beobachtete dies auch während der Reise. Doch hörte ich auch einen Postmeister, während des Pferdewechselns, ganz ohne Veranlassung sagen: »Hier kam er durch, als er von Fréjus kam, um das Reich zu retten; damals ahndete ich nicht, daß ich ihm noch einmal Pferde geben würde, um aus seinem geretteten Reiche in die Verbannung zu gehen.« Die tiefbewegte Stimme des Mannes erschütterte mich. Er stand an der Schwelle des Greisenalters; weinend und schweigend reichte ich ihm die Hand. »Oh, mein Fräulein«, sagte er, indem er sie zwischen den seinigen drückte, »ich habe im Kampfe für das Vaterland drei Söhne verloren, wackre Jungen, aber ich tröstete mich, denn Frankreich war groß und glücklich. Soll all das Blut, welches der Freiheit geopfert wurde, vergebens geflossen sein?« Ich verbarg schluchzend das Gesicht und zeigte mit der Hand gen Himmel. »Wohl, mein Fräulein«, sagte er, »Gottes Wege sind nicht unsre Wege, und dem Sterblichen geziemt Entsagung.«


Hoch schlug mein Herz, als ich den Ventoux in weiter Ferne erblickte, noch höher, als die weißen Gemäuer von [113] Chaumerive sichtbar wurden. Der Wagen fuhr mir zu langsam, ich verließ ihn und flog mit Windeseile auf dem Fußpfade dahin. Mir war, als müßte ich all die lieben Verlorenen wiederfinden. Ach, ich fand sie nicht! Aber ein treues Völkchen fand ich wieder, das mich mit ausschweifender Freude umarmte, fragte und hörte und dann teilnehmend mit mir weinte um meinen Vater und um mein Vaterland. Erquickende Tränen, welche mein verarmtes Herz wieder an die Menschheit banden! O hätte ich hier bleiben können, getrennt von der übrigen Welt und vergessen! Aber dies durfte ich nicht hoffen; selbst der Pfarrer, dessen Rat ich einholte, fürchtete für die Sicherheit meines Aufenthalts und sah wenigstens viel Unruhe und Verdruß voraus. So mußte ich denn mit schwerem Herzen mich losreißen von der Wiege meiner Kindheit. Weinend besuchte ich noch einmal jedes Plätzchen der Erinnerung, kränzte zum letzten Male das Grab meiner Mutter, mit Sommerblumen, und verschloß mich dann in mein Zimmer, um meinen Mut in der Einsamkeit zu stärken. Mein altes Bilderbuch fiel mir in die Augen, ich nahm es mechanisch heraus und schlug es auf. Bald traf ich auf Szenen, wie Athens und Roms Helden ruhig in die Verbannung gingen, wie das ganze Volk der Messenier, von dem stolzen Sparta besiegt, seine geliebte Heimat verließ, um an Siziliens Küste und unter dem glücklichen Himmel meiner Provence seine Freiheit und seine Sitten zu retten. Klein und unbedeutend erschien mir mein eigenes Schicksal gegen diese Beispiele; ich war wieder die alte, besonnen und ruhig. Ich packte das wenige zusammen, was ich mit mir zu nehmen gedachte, und ließ eines Abends den Pfarrer bitten, mir zu helfen, um meine Angelegenheiten zu ordnen. Sobald es finster geworden war, ging ich, in seiner und Antoines Begleitung, zur Kapelle, wo mein Vater, im ahndungsvollen Gefühl der Zukunft, jenes Vermächtnis niedergelegt hatte. Wir zogen das Kästchen aus seiner sichern Verborgenheit, und der ehrliche Antoine trug es in mein[114] Zimmer. Darauf kniete ich auf den Stufen des Altars nieder, schmerzliche Erinnerungen drangen auf mich ein, und meine Standhaftigkeit wollte mich verlassen; doch der ehrwürdige Pfarrer stärkte mich durch die Hinweisung auf eine ewige Vorsicht und erteilte mir seinen Segen. Er führte mich in mein Zimmer zurück, und während Antoine Pferde besorgte und den Wagen packte, beauftragte ich ihn mit allen den Andenken, welche ich für meine Getreuen zurückließ, dann trennten wir uns weinend voneinander. Er war seit meiner Kindheit ein treuer Freund meines Hauses gewesen; mir war, als ob ich in ihm einen zweiten Vater verlöre. Aber ihn hielt die Pflicht seines Amtes zurück, mich trieb die Pflicht der Selbsterhaltung hinweg, wenigstens der Erhaltung meines besseren Selbst. – In finstrer Nacht reiste ich ab; es wäre mir zu schwer geworden, mich von der weinenden Menge zu trennen, ja unerträglich fast, die geliebten Gegenden so allmählich entschwinden zu sehen.

Ich reiste ganz allein mit Antoine, welcher mich bis Marseille geleiten sollte. Gern wäre er mir auch weiter gefolgt, aber ich mochte ihn nicht von seinen Kindern trennen, so wie ich denn auch meine gute Manon unmöglich ihren Eltern entziehen konnte und ihr deshalb das Weitere meines Vorhabens verschwieg. Ich ließ ihr eine gute Aussteuer zurück, welche sie jedoch, bei ihrer Anhänglichkeit, nur wenig getröstet haben wird.

Bei meiner Ankunft in Marseille erkundigte ich mich sogleich im Hafen und fand ein segelfertiges amerikanisches Schiff, welches nur auf den ersten günstigen Wind wartete, um die Anker zu lichten. Der Kapitän, aus Philadelphia, hatte eine von den einnehmenden Physiognomien, welche sogleich Vertrauen erwecken. Ich trug ihm meinen Wunsch vor, und er war sogleich bereitwillig, mir einen bequemen Platz in der Kajüte einzuräumen, ja er war so lebhaft besorgt für mich, daß er in mich drang, sein Schiff sofort zu besteigen, um jede Nachfrage zu vereiteln. Ich[115] ließ also meine Sachen an Bord bringen und trennte mich von meinem treuen Antoine, welchem ich ein sorgenfreies Alter zugesichert hatte, mit der schmerzlichsten Rührung und mit der Bitte, auf einem weiten Umwege in unsre Heimat zurückzukehren.


Nun war ich allein, zum ersten Male ganz allein, in fremder Umgebung. Kein Gegenstand, kein Gesicht erinnerte mich an eine bekannte Vergangenheit. Der Eindruck war neu und erfüllte mich mit inniger Wehmut. Alles, was ich verlassen hatte, was mir war entrissen worden, verlor ich erst in diesen Augenblicken. Ich bedurfte eines Wesens, in dessen treue Brust ich meine Klagen ausströmen konnte. Du warst mir diese geliebte treue Seele. Gewiß wirst Du diese Blätter, wenn sie zu Dir gelangen, nicht ohne das regeste Mitgefühl lesen. Sie enthalten meine Rechtfertigung, wenn ich deren bei Dir bedarf. Auch bei Deiner Mutter werden sie mich entschuldigen, wie ich zu hoffen wage. Ungern nehme ich ihren Zorn mit in die Neue Welt hinüber, sie wird mir ewig die geliebte Schwester meines teuern Vaters bleiben. Bringe ihr mein zärtlichstes Lebewohl und sage ihr, Virginia sei nur unglücklich, nicht undankbar. – Was den Herzog betrifft, für den bin ich tot, und die Erbschaft meiner Besitzungen wird ihn hoffentlich über mein frühes Ende trösten. Louis hat mich gewiß schon längst vergessen. Seine Neigung war wohl nur ein Kind der Konvenienz; er erreicht jetzt seinen Wunsch ohne die lästige Zugabe, welche ihm doch vielleicht oft fühlbar geworden wäre, und kann durch eine neue, glänzende Verbindung seinen eigenen Glanz noch um vieles erhöhen.

Euch gehört nun Chaumerive. Ach, Adele, sei Du der Schutzgeist meiner verlassenen Freunde! Du bist ja auch unter ihnen glücklich gewesen. Deiner guten Mutter empfehle ich sie gleichfalls, es waren ja die Kinder, die Freunde ihres wahrhaft edlen Bruders, dessen Name noch von den Enkeln mit Liebe genannt werden wird. Oh, meine [116] Adele, wenn Du in den schönen Sommermonden durch diese lieblichen Täler wandelst, so gedenke meiner! Sprich mit meinen Getreuen oft von mir, und bringe ihnen meinen Gruß. Wenn Du in der Geißblattlaube ruhest und die tanzende Durance betrachtest und es lispelt ein leises Lüftchen durch die Blüten, so denke, es ist die Stimme Deiner Virginia. Ihr Geist wird Dich immer umschweben; ja aus den Gefilden der Seligen würde er noch zu diesen lieben Gegenden zurückkehren.


Diesen langen Brief Dir zu schreiben, mein Leben noch einmal an mir vorübergehen zu lassen war mir Bedürfnis. Aber nur in seinen Hauptmomenten habe ich es Dir dargestellt, nur die Grundzüge angegeben. Ich habe vermieden, manche Gegenstände und Ereignisse zu berühren, weil sie mit fremden Personen in Beziehung standen. In einer Zeit wie die unsrige muß man sehr behutsam sein, um niemand der Verfolgung auszusetzen. Nun aber habe ich abgeschlossen mit dem alten Leben, ein neues Dasein beginnt für mich; und wie der Sterbende all den irdischen Tand hinter sich läßt, so lasse ich Europas verworrene Angelegenheiten hinter mir. Ich hoffe, künftig nur darauf zurückzuschauen wie ein abgeschiedener Geist auf die Welthändel, welche ihn nicht mehr berühren.


Über meine Reise will ich Dir nun noch einiges mitteilen. – Von dem Schauspiel, welches das Meer gewährt, brauche ich Dir nichts zu sagen, Du hast von Hamburg aus einen kleinen Begriff davon, obschon das Weltmeer viel ergreifender als die Nordsee ist. Auch die Fahrt auf demselben soll angenehmer sein, wie Seefahrer versichern; die Wellen brechen sich nicht so kurz, und das Schwanken des Fahrzeuges ist weniger beschwerlich. Diesem Umstande muß ich es wohl mit zuschreiben, daß ich gar nichts von der Seekrankheit empfunden habe, welche Du mir so fürchterlich geschildert hast. Auch trat ich ihr mit starkem[117] Willen entgegen, brachte meine ganze Zeit, in den ersten Tagen, auf dem Verdeck zu, nahm zweckmäßige Nahrungsmittel und vermied, die von dem Übel ergriffenen Passagiere zu sehn. So blieb ich gesund und erhielt mir den Mut, dessen ich nur zu sehr bedurfte. Nach und nach befreundete ich mich mit der Equipage, und jedermann fing an, sich für das verlassene Mädchen zu interessieren. Der Kapitän besonders beweist mir die herzlichste Freundschaft, die nahe an Zärtlichkeit grenzt. Er heißt Ellison; sein Vater, ein Kaufmann dieses Namens, ist Chef eines ansehnlichen Handlungshauses in Philadelphia. Ellison hat mir das Versprechen abgewonnen, bei seinen Eltern zu wohnen; dorthin, an dies bekannte Haus, kannst Du Deine Briefe schicken, wenn Du es möglich machst, mir zu schreiben. Ellison ist groß und schön gebauet, sein blaues Auge blitzt von Feuer, seine Muttersprache ist die englische, doch spricht er auch fertig französisch; in beiden Sprachen drückt er sich kurz und kräftig aus und ist sehr unterhaltend und belehrend, ohne eben gesprächig zu sein. Seine Gesellschaft hilft mir vorzüglich die Länge der Seereise verkürzen. Sooft ich meine Kammer verlasse, wo ich auf das zierlichste eingerichtet bin und täglich einige Stunden mit Schreiben zubringe, hat seine Aufmerksamkeit mir ein kleines Fest bereitet. Ein schmackhaftes Mahl, ein Spiel, ein Fischfang, ein Matrosentanz und mehr dergleichen wechseln miteinander ab. Auch kleine Konzerte geben wir, wobei Deine Freundin, mit ihrem Harfenspiel und ihrer Stimme, viel unverdiente Ehre einerntet. Unsre Reisegesellschaft besteht aus zwei Kaufleuten aus New York, einem jungen Maler aus der Schweiz und zwei Florentinerinnen, Mutter und Tochter, welche dem Manne und Vater nachreisen, der sich in der Havanna etabliert hat, alles freisinnige, wenigstens tolerante Menschen. Während der ganzen Reise gab es nicht eine einzige politische Streitigkeit; unsere Tage flossen schnell und angenehm dahin. Auf Sankt Helena nahmen wir Erfrischungen ein. Ein origineller Felsen mitten in der [118] großen Wasserwüste. Ich erging mich in seinen üppigen Tälern und träumte mir die Möglichkeit, mit einer kleinen auserwählten Gesellschaft von Freunden, abgeschieden von der ganzen Welt, hier glücklich zu leben. Es möchte wohl tunlich sein, die schon schwierige Landung auf immer unmöglich zu machen.

Unweit dieser Insel hatten wir das erhabene Schauspiel eines Seesturms, für mich höchst wichtig und erwünscht. Ich sehe Dich den Kopf schütteln, meine zarte, furchtsame Adele, aber mir ist nun einmal diese Freude an großen wilden Naturbegebenheiten angeboren. Schon als kleines Kind freute ich mich, wenn die Durance aus ihren Ufern brach, und bei jedem Gewitter nahm mich mein Vater mit hinaus, während die Mutter sich ängstlich verbarg. Er machte mich aufmerksam auf die Schönheit wie auf den Segen dieser Erscheinung und zeigte mir die Zufälligkeit und seltene Gefahr des Blitzes, wie er überhaupt mich es als lächerlich ansehen lehrte, immer die Gefahren des Lebens zu bedenken und zu vermeiden. So saß ich als Kind ruhig unter meinem Platanus, wenn der Donner über mir krachte. ›Es stehen ja Hunderte dieser Bäume rings um diesen‹, dachte ich, ›warum sollte der Strahl gerade ihn treffen? und tut er es, so war es mir bestimmt, und er könnte mich ebensoleicht im Bette töten.‹ – Jetzt freute ich mich der hochtürmenden Wasserberge, des heulenden Orkanes, der Behendigkeit unserer Matrosen, des verdoppelten Lebens um mich her, und ich legte mich am Abend so ruhig in meine Hangmatte nieder als sonst zu Bett. War ich nicht in der Hand Gottes, wie immer und überall? Was zitterst Du, Adele? bist Du denn sicherer auf dem festen Lande? O nein. Ihr alle steht auf einem glutschwangern Vulkane, traue seiner Stille nicht, er kann sich in jedem Augenblicke öffnen und Euch alle in sein Flammenmeer hinunterschlingen. Ist ein Schiffbruch fürchterlicher? Verschlänge mich der Ozean, so wäre meiner gezählten Tage letzter abgelaufen. Würfe mich eine freundliche [119] Welle an das Ufer, so wäre mir ja der Güter höchstes, das Leben, und mein frischer Mut gerettet; denn glaube nicht, daß ich um die versunkenen Schätze trauern würde. Der Inhalt meines Kästchens ist nicht die Basis meiner Sicherheit, mein eigner Inhalt ist es. Vier Sprachen, Musik und andre Früchte einer sorgfältigen Bildung sichern mir ein bequemes Fortkommen in der vornehmen Welt, in der bürgerlichen manche Geschicklichkeit, welche außer Europa noch neu sein dürfte, als die italienische Strohflechterei, die Perlweberei usw. Und für die ländlichen Verhältnisse habe ich in den letzten Jahren soviel Kenntnisse und Fertigkeiten erworben, um überall, wo nicht belehrend, doch nützlich zu sein. Mehr als dies sichert mich meine Ansicht von dem Leben und seinen Verhältnissen. Für mich gibt es keinen Standesunterschied, und ich kann auf jedem Platze zufrieden leben, wo ich nur im Inneren ich selber bleiben darf.


Da sind wir nun bis nahe an das Ziel unsrer Reise gelangt. Die Küste der Neuen Welt liegt schon in blauer Ferne vor uns. Ein dünner Nebelschleier ist darübergebreitet, es ist der Schleier meiner Zukunft. Mit hochklopfendem Herzen blicke ich dahin, was birgt er mir? Zu fürchten habe ich nichts, denn ich stehe allein. Wer nichts zu verlieren hat, kann nur gewinnen in dem ewigen Wechselspiele des Lebens.

Aber was ist zu gewinnen, wenn man nichts zu wünschen weiß? Ellison steht neben mir auf dem Verdeck und betrachtet mich mit glühenden Blicken, doch mein Auge wechselt ruhig zwischen dem Anblick der blauen Berge und der raschen Strömung des Delaware, an dessen Mündung wir Anker geworfen haben. Ein Teil unsrer Reisegesellschaft wird uns hier verlassen, wir aber steuern längs den Küsten hin, um in die Bai zu gelangen, welche hinauf nach Philadelphia führt. Von dort her schreibe ich Dir wieder. Für jetzt lebe wohl. Jetzt will ich, ohne Unterbrechung[120] und Störung, die neuen Eindrücke in mir aufnehmen, welche mich umringen und erwarten. Psyche landet an Acheron; wird sie die Lethe finden? Gewiß! Und alles will sie hineintauchen in die dunklen Wellen, nur nicht die Bilder ihrer Lieben und nicht Dein Bild, meine traute Adele. Bewahre Du das meinige, und versuche, mir zu schreiben, lebe wohl! Lebe glücklich! Lebt alle wohl! Und Du, mein Frankreich, sei glücklich! Tausend, tausend Lebewohl von Deiner


Virginia. [121] [125]

Zweiter Teil

Virginia an Adele

Philadelphia, im Dezember 1814


Sei gegrüßt, tausendmal gegrüßt aus der Neuen Welt, meine Adele! Es ist ein eigenes Gefühl, mit den Einwohnern eines andern Weltteils zu reden, und es fällt mir auf Augenblicke ordentlich schwer aufs Herz, daß ich nun bei keiner Lebensverrichtung mehr denken kann, jetzt tut vielleicht Adele dasselbe. Wenn ich von Gegenstand zu Gegenstand, betrachtend, irre und dabei Deiner gedenke, so schläfst Du, und mein Bild begegnet Dir nur in Deinen Träumen. Wenn mir die Sonne strahlend aus dem Meere aufgeht und mich mit neuer Lebenslust durchströmt, rufe ich Dir sanften Schlummer zu, und wenn sie sinkt hinter die fernen blauen Gebirge, bringe ich ihr meinen Morgengruß für Dich. Oh, wie ist alles um uns her so verschieden! und doch, denke ich, bleiben wir einig und unveränderlich. Göttliche Abkunft der Geister! sie sind unabhängig von Raum und Zeit.

Der Anblick meines neuen Vaterlandes ist mir gar fremd und wundersam gewesen. Die Küsten Europas sind meist unbewachsen und bieten fast überall einen offenen Landstrich dar; hier ziehen sich die dunkeln Urwälder noch häufig bis an das Meer hin, die Küsten sind bewachsen, buschig, der Eindruck romantisch, aber ernst. Die Ufer des Delaware sind mit Städten und Ansiedelungen geschmückt, und überall herrscht Fleiß und Tätigkeit, doch vermißte ich jene Lebendigkeit sehr, welche mich an meiner heimischen Küste ergetzte.

Philadelphia ist groß und schön, und die Regelmäßigkeit [125] seiner Anlagen spricht sogleich deutlich den Geist der Ordnung und Gesetzlichkeit aus, welcher hier herrscht. Ellison hat mich in seine Familie eingeführt, in welcher ich mit patriarchalischem Wohlwollen empfangen wurde. Da ich meinen Aufenthalt wenigstens auf längere Zeit hier zu nehmen gedenke, so will ich Dich mit den Personen bekannt machen, mit welchen ich lebe. Ellison, der Vater, ist ein kleiner hagerer Mann mit klugen Augen, ein tätiger Kaufmann, und meist nur auf dem Comptoir einheimisch. In Geschäften mag er gern den Charakter als Quäker behaupten, ob er gleich sich sonst, in Kleidung und Sitte, nicht an ihre strengen Regeln hält und nur höchst selten ihre Versammlungen besucht. Seine Frau ist eine wohlbeleibte lebendige Matrone, welche die herrlichsten weiblichen Eigenschaften einzig durch eine zu starke Beimischung von Pedanterie verdunkelt. Sie ist wirtschaftlich, aber ein zuviel verbrannter Schwefelfaden entflammt ihren heftigsten Zorn, ein zu kurz geputztes Licht, ein nicht ganz gerade gezogenes Rouleau veranlassen ihre Ordnungsliebe zu den längsten Strafpredigten. Ihre Wäsche ist, nach löblicher Sitte, numeriert; aber sie würde lieber nackt gehn als zu einer Schlafhaube Nr. 15 ein Hemde Nr. 14 anziehen oder Nr. 4 auf Nr. 2 folgen lassen. Neulich brach über ihre Tochter ein gewaltiges Ungewitter los, weil es sich entdeckte, daß sie in ihrer Tasche Nr. 9 ein Schnupftuch Nr. 10 trug. Sogleich wurde eine Revision ihrer Wäsche verhängt, es fand sich nun, daß auch die Strümpfe mit Nr. 10 bezeichnet waren, Sturm und starker Unwille brachen aus. Die arme Verbrecherin verteidigte sich vergebens damit, daß sie unversehens in eine Pfütze getreten und dabei vor Schreck ihr Tuch habe fallen lassen. Sie hätte sogleich auch das erst vor zwei Stunden angezogene Hemde wechseln und Tasche, Halstuch, Schlafhaube usw. ungebraucht in die Wäsche liefern sollen. Bei Gelegenheit des Beschmutzens erfolgte eine neue Predigt über die geziemende Ehrbarkeit, da es nicht wohl denkbar sei, daß, wenn [126] man den Blick immer fest auf den Boden hefte, man eine Pfütze übersehen sollte. Das gute Mädchen, die einzige Tochter des Hauses, leidet vorzüglich von der Pedanterie ihrer Mutter. Es ist ein liebes, frohes Geschöpf von Deinem Alter, eine bildschöne Blonde namens Philippine. Sie freut sich am meisten über meine Anwesenheit, welche ihr manche Erleichterung verschafft. Ellison, der Sohn, hat mich ihr auf das angelegentlichste empfohlen; sie liebt ihren Bruder über alles, und er verdient es in der Tat. Wenn ich ihn in diesen Umgebungen betrachte, so stellt er sich als eine schöne fremde Erscheinung dar, und man bemerkt nur an der Liebe, womit ihn alle umfassen und womit er allen begegnet, daß er Sohn des Hauses ist. Die ganze Familie macht die Bemerkung, daß er diesmal heiterer als jemals von seiner Reise heimgekehrt sei, und man scheint sich dabei, fast mit einer Art von Dankbarkeit, gegen mich zu neigen, was mich etwas verlegen macht. Seit einigen Tagen hat sich die Szene um etwas verändert und macht eine eigene Wirkung auf mich.

Ich fand es, nachdem ich gehörig Bescheid zu wissen glaubte, für gut, eines Morgens mich mit dem Inhalte des bewußten Kästchens zu Vater Ellison auf das Comptoir zu begeben, um solchen bei seiner Ehrlichkeit und Industrie unterzubringen. Er war überrascht und nahm mich recht wohlbehaglich auf. Eine volle Stunde unterhielt er mich von den verschiedenen Fonds, in welchen die Gelder, mit ansehnlichem Vorteil, arbeiten könnten. Ich bat ihn, die Angelegenheit zwischen uns beruhen zu lassen, glaube aber schwerlich, daß er imstande gewesen ist, sein Wort pünktlich zu erfüllen. Seitdem ist sein gastfreundlicher Ton viel rücksichtlicher geworden. Sein anfängliches Ansehn von Wohlwollen ist in eine Art von Ehrerbietigkeit übergegangen, welches jedem bemerklich werden muß. Mutter Ellison überhäuft mich mit Liebkosungen und ist gegen ihre Gewohnheit sinnreich, mir Zerstreuungen zu verschaffen. Sie veranlaßt kleine Spazierfahrten mit ihrem Sohn [127] und ihrer Tochter und fordert die letztere täglich auf, hier und dorthin mit mir zu gehen, um mir dies und das zu zeigen. Philippine macht mit Entzücken von dieser neuen Freiheit Gebrauch und liebt mich aufrichtig, als die Schöpferin ihrer Freuden. Nur William Ellison ist nicht so heiter als bisher; eine trübe Wolke lagert auf seiner Stirn, und ein fremdes Etwas scheint zwischen uns getreten zu sein. Gestern, als wir am Ufer des Delaware spazierenfuhren, blickte er lange schweigend dem Flusse entgegen. »So nachdenkend, William?« sagte ich und legte die Hand auf seinen Arm. Er fuhr aus seinen Träumen auf, preßte meine Hand und sagte wie erst halb erwacht: »Wäre unser ›Washington‹ dort untergegangen!« – »Schön«, rief Philippine lachend, »dann könnten wir uns heute nicht der lieblichen Winterlandschaft erfreuen.« – »Doch«, sagte er nach seiner lakonischen Weise, »Virginia ist leicht, ich schwimme gut.« Wir ließen das Gespräch fallen. Guter William! daß Virginia mehr gerettet als das nackte Leben, das scheint dir ein Hindernis deiner Wünsche? Oh, wäre nichts als das, zartsinniger Mann, ich würde es freudig in den Fluß werfen und mich in deinen Arm.

Aber es türmt sich eine andere Scheidewand zwischen uns auf, welche du nicht siehst, nicht ahndest, die ich selber hinwegschieben möchte, die aber nur stärker wird, sooft ich Hand daran legen will. Sieh, William ist so lieb und gut, ich achte ihn hoch, ich habe ihn so gern, ich kann mir stundenlang denken, wie glücklich eine Gattin mit ihm leben wird; aber wenn mir dann einfällt, daß ich diese Gattin sein könnte, dann versinkt plötzlich, wie durch einen Zauberschlag, das ganze Gemälde, und Mucius' Bild erscheint auf derselben Stelle und droht mir mit wehmütigem Lächeln. Ja, Mucius, ich bin dein! du hast recht! »Für die Ewigkeit!«, so sprachen wir. Guter William, ich kann nimmer die Deine sein. Wenn ich meine ersten Schwüre bräche, welche Bürgschaft hättest du für die zweiten?

[128] Das Leben hier sagt mir recht wohl zu, nur für die Länge mag es in der Stadt ein wenig langweilig werden. Die Gesellschaft der Freunde, woraus der größere Teil der Einwohner besteht, sind sehr brave, rechtliche Menschen, nur etwas zu pedantisch in ihren Sitten. Ich stimme den meisten ihrer Grundsätze und Einrichtungen mit inniger Überzeugung bei, kann aber durchaus nicht begreifen, warum der Geist der Fröhlichkeit damit unvereinbar sein sollte. Kann es dem höchsten Wesen wohlgefällig sein, auf lauter ernste oder traurige Gesichter zu blicken, und können Tanz und Spiel der wahren Tugend zuwider sein? Daß doch des Menschen Wahn immer auf Übertreibungen fällt, er in seinem geistigen Stolze nicht auf die Winke seiner Lehrerin, der Natur, achtet! Das höchste Glück, welches ich hier finde, ist die völlige Freiheit der Meinungen. Niemals hört man weder einen religiösen noch politischen Streit; ein jeder sagt ohne Rückhalt sein Urteil und hört ruhig ein entgegengesetztes an. »Es ist möglich, daß du recht hast«, sagt der eine, »mir scheint es jedoch so, aber ich kann irren«; der andre äußert sich ebenso, und kein Tropfen Wermut fällt in den Becher der Freundschaft. Diese Mäßigung ist um so bewundernswürdiger im gegenwärtigen Augenblick, wo der Krieg und die daraus entsprungenen Unglücksfälle die Gemüter mehr als gewöhnlich spannen. Nur unter diesem ruhigen Volke konnte die Freiheit ihren Sitz aufschlagen, ohne daß ihr Weg mit Blut bezeichnet wurde. Mir ist, als ob ich hier ausruhte von all dem Weh, welches mein armes Herz in den letzten Jahren unaufhörlich bestürmt hat, als ob ich nach langer Pilgerschaft Quarantäne hielte. Diese ist freilich nicht sehr ergetzlich, aber sie sichert die Gesundheit, und deshalb sei sie meinem Geiste willkommen. Zwar schüttelt er oft ungeduldig die Schwingen und will mich hinziehen und -tragen zu jener erhabenen Bundesstadt, wo sich das neue Kapitolium baut, zu Schutz und Hut der köstlichen Freiheit. Aber ach! die Goten aus Albion haben [129] Frevlerhände an die entstehenden Heiligtümer gelegt und weilen noch immer in der Nähe. Tief wird dies hier empfunden, doch hofft man, bald den Frieden hergestellt zu sehn und die empfangenen Wunden zu heilen. Wie aber auch Europa sich dagegen sträuben mag, die Neue Welt wird, in kurzem, zur riesenstarken Manneskraft gelangen, und wehe Europa, wenn sie jemals den Gedanken faßt, die Beleidigungen zu rächen, welche ihre Kindheit erfuhr. Nicht der Norden allein ist frei, auch im Süden schüttelt man die überseeischen Ketten ab. Wenige Jahre noch, und das Panier der Freiheit weht von der Hudsonsbai bis zur Magellanischen Meerenge, und unter seinem Schatten blühen Wissenschaften und Künste, aus allen übrigen Weltgegenden dahin verpflanzt.


Das neue Jahr ist hier mit viel schönen Hoffnungen und tausend guten Wünschen begonnen worden. Ich hatte am ersten Tage desselben eine lange Unterredung mit William, welche unsern unsichern Standpunkt gegeneinander wieder einigermaßen festgestellt hat. Er schickte mir am Morgen, nach der Sitte meines Vaterlandes, einen großen Korb voll der auserlesensten Treibhausfrüchte und Blumen; ich hatte ihm dagegen, sowie der übrigen Familie, einige künstliche Arbeiten verfertigt, welche hier noch neu waren und viel Bewunderung erregten. Sehr natürlich hatte er das Vorzüglichste erhalten. Er kam, mir mit vieler Freude zu danken. »Es ist für meine Verbindlichkeit und für meinen guten Willen sehr wenig«, sagte ich ablehnend, »ich wollte, ich könnte mehr für Sie tun.« – »Sie können nicht?« fragte er. »Ach, Sie könnten unendlich viel gewähren, wenn ich nur wünschen dürfte.« – »Hören Sie, William«, sagte ich, »Sie haben sich mir zum Bruder erboten, so lassen Sie uns auch geschwisterliches Vertrauen bewahren.« – »Geschwisterliches?« sagte er kleinlaut. »Ja«, fuhr ich fort, »als Schwester will ich jetzt mit Ihnen reden. Alles, was ich habe und besitze, habe ich durch Sie gerettet, und ich [130] lege nur insofern einigen Wert darauf; sonst weiß ich die Zufälligkeit der Erdengüter zu würdigen und schätze nichts als den Geist. Ich kenne den Ihrigen, der meinige ist ihm verwandt.« (Er rückte mir freudig näher.) »Es gibt aber der verwandten Geister mehr«, fuhr ich fort, »und die ersten Bande dürfen nicht durch spätere gelöset werden.« – »Frühere Bande?« rief er erschrocken. »Nein, nein, unmöglich, wie hätten Sie da Ihr Vaterland so willig verlassen können, wie könnten Sie in der Fremde so heiter sein!« – »Fremd ist mir der ganze Erdkreis«, sagte ich, »meine Heimat ist seit langer Zeit dort oben.« – »Tot?« fragte er. – »Tot«, erwiderte ich, und nachdem ich mich etwas gefaßt hatte, erzählte ich ihm die Geschichte meines Herzens. Er hörte mich mit Teilnahme an, und oft glänzten Tränen in seinen Augen. Wir schwiegen beide lange, nachdem ich geendet, dann beugte er sich über meine Hand, und als er sich wieder emporrichtete, flog ein Schimmer von Freude über sein Gesicht. »Mit einem edlen Toten die Neigung dieses schönen Herzens zu teilen scheint mir ein seliges Los«, sagte er, »und in jenen Regionen des Lichts fordert man kein Eigentum mehr.« – »So will es auch mir oft scheinen«, antwortete ich, »doch widerspricht ein unerklärliches Gefühl augenblicklich dem Verstande. Lassen Sie mir Zeit, lieber William, ob vielleicht dieser Zwiespalt in meinem Innern sich löst, viel, viel Zeit, und mag es ausfallen, wie es wolle, wir müssen Freunde bleiben, fest und unzertrennlich für dieses Leben.« Ich hielt ihm die Hand hin, er schlug versichernd ein. Seitdem ist er wieder heiterer; er hofft. Ich hege keine Hoffnung, aber ich fühle mich erleichtert und darf ganz vertraulich mit ihm umgehen. In meiner Brust herrscht tiefer Friede; um die lieben Verlorenen fließt zwar manche einsame Träne, doch trocknet sie das Bewußtsein des Wiedersehens. An die übrige Vergangenheit werde ich nur selten erinnert und meide es fast, von meinem lieben Frankreich zu hören. Ach, wenn das Vaterhaus abgebrannt ist, dann überfällt [131] uns Grauen, die Brandstätte zu sehn; und wird schon gleich an derselben Stelle ein Palast aufgebaut, es ist die freundliche Wohnung nicht mehr, woran so schöne Erinnerungen haften. Nur von Dir möchte ich so gern Nachrichten haben und sehne mich vergebens danach; der böse Krieg hemmt den freien Verkehr der Länder gar sehr. Sonst wäre auch William schon längst in See gegangen, um mir Kunde von Dir zu verschaffen und dies neben mir liegende, ungeheure Pack Geschriebenes sicher in Deine Hände zu befördern. Bis dahin muß ich schon fortfahren. Ein günstiges Geschick wird es wohl zu Deinen Händen bringen. O tätest Du doch ein Gleiches! Ich kann mir das Leben und Treiben in Paris kaum mehr denken, es ist bei uns alles so ganz anders. Kein Schauspiel, keine Maskeraden, wenig kirchliches Gepränge, wenig Musik, aber viel Familienfeste, viel Teezirkel, häufiges Spazierengehen und -fahren. Die Gegend ist schön, der Winter gemäßigt, wie in dem südlichsten Frankreich. Bald wird er ganz von uns scheiden, und dann muß die Landschaft entzückend sein, wenn mit dem ernsten Grün der Zedern und Tannen sich das helle Laub des Platanus und der zahllosen Nußbäume mischt. Als ich hier ankam, hatte das Ganze schon ein falbes und bräunliches Ansehn. Ich freue mich wie ein Kind über das Aufkeimen der jungen Pflanzenwelt, immer war sie es, wohin ich mich flüchtete, wenn das Leben mich zu rauh berührte. Hier duftet mir heilender Balsam für jede Wunde, und der Odem des Friedens haucht durch die zarten Halme und Blüten. Überall in der belebten Natur zeigt sich das widrige Bild der kämpfenden Leidenschaften; nur die Pflanzen blühen friedlich beisammen, liebend sich zueinander neigend und strebend, sich mit zarten Ranken zu umarmen. Darum sei mir gegrüßt, freundliche Blumenwelt, ihr säuselnden Bäume und ihr zarten Halme des Grases, zwischen welchen ich so oft stundenlang lagerte und mit inniger Lust den Wanderungen kleiner glänzender Käferchen, dem Spiel bunter Schmetterlinge zusah und [132] mich und die übrige Welt vergaß. Nirgend auf dem Erdenrund kann Virginia unglücklich sein, wo sie frei und die Natur nur nicht ganz öde ist. Der Mensch macht so viel Anstalten, um glücklich zu sein, und er bedarf so wenig!


Noch keine Nachricht von Dir, und der Frühling ist schon in seiner vollen Pracht bei uns eingezogen. Man hat um meinetwillen ein sehr malerisch gelegenes Landhaus unweit der Stadt bezogen, und fast bin ich froh wie einst an der Durance. Den größten Teil des Tages bin ich mit meiner Philippine allein, weil der Vater nicht das Comptoir, die geschäftige Mutter nicht das Hauswesen verlassen mag. William besorgt die Befrachtung seines Schiffes, mit welchem er wieder nach Europa zu segeln gedenkt, da der Friede so gut als abgeschlossen ist. Nach Tische aber versammelt sich die ganze Familie, dann und an Feiertagen werden köstliche Spazierfahrten am Delaware oder am Schamuny gemacht und Besuche auf mancher freundlichen Pflanzung. Morgens schwärme ich oft mit Philippinen umher und kehre, wenn wir ermüden, auf dem Meierhofe eines ehrlichen Quäkers oder auf der kleinen Besitzung eines Negers ein, wo wir, ohne Unterschied, mit gleicher Herzlichkeit empfangen werden. Die schwarzen Pflanzer stehen an Betriebsamkeit den Weißen nicht nach und werden ihnen nach fünfzig Jahren vielleicht an Vermögen ziemlich nahekommen, da sie fleißig die Schulen zu besuchen anfangen und ihre Bildung in der Nähe der Städte merklich fortschreitet. Unfern Paris würde es wohl sehr auffallen, zwei junge Mädchen, im Morgenkleide und im Sonnenhute, durch Felder und Gehölze streifen zu sehen; hier ist dies, Dank sei den schuldlosen Sitten des Landes, gar nichts Ungewöhnliches. Die treuherzigen Pennsylvanier grüßen uns überall mit freundlicher Unbefangenheit und reden uns mit dem vertraulichen Du an, welches ich so gern höre, weil ich es in meiner Kindheit so allgemein vernahm. Philippine hat sich mit leidenschaftlicher Liebe [133] an mich gehängt, und ich umfasse das holde Mädchen mit schwesterlicher Zärtlichkeit, freilich nicht in dem Sinne, wie es die Familie zu erwarten scheint. Überhaupt ist dies die Kehrseite meines sonst so glücklichen Lebens, daß man etwas voraussetzt, wovon ich mich noch weit entfernt fühle. Der Vater ist voll Eifer für die Benutzung meines Vermögens, macht dabei so listige Anmerkungen, nennt mich oft sein liebes Töchterchen und gibt mir zu verstehen, daß ich einst um das Dreifache reich sein würde. Die geschäftige Mutter schürt noch emsiger zu und spricht oft schon weitläufig über künftige häusliche Einrichtungen. Der arme William ist dabei auf Kohlen und wendet all seinen Fleiß an, solche Gespräche abzubrechen, weshalb er manches unwillige Gesicht von der Mutter erhält, wenn er den Fluß ihrer Rede unterbricht. Es ist ein kleiner Sturm zu befürchten.


William hat schon erklärt, daß er nächstens in See gehe, aber man rechnet darauf, er werde zuvor noch eine Verbindung mit mir unauflöslich machen. Was wird man aber sagen, wenn man sieht, daß dies nicht der Fall ist? was, wenn man erfährt, daß ich eine große Reise nach Washington und von da zu den Seen und dem Niagara zu machen gedenke? William, welcher gern auf alles eingeht, was mir Freude macht, hat zu dieser Reise schon im stillen die besten Anstalten getroffen. Er gibt mir seinen eigenen Bedienten mit, einen treuen und erfahrenen Menschen, welcher schon einen großen Strich jener Gegenden durchreist ist, dann zwei ehrliche Schwarze, auf welche er sich verlassen kann, Vater und Sohn. Der Vater, John, war in seiner früheren Jugend als Sklave in Virginien, entlief damals seinem strengen Herrn und geriet zu den Wilden, welche ihn aufnahmen. Er war sechs Jahr unter ihnen und lernte ihre Sprache und ihre Sitten vollkommen. Im Kriege zog der Stamm, bei welchem er sich befand, den Engländern zu Hülfe, wurde aber in einem Gefechte mit den Amerikanern zerstreut, und John geriet auf seinem [134] Irrwege nach Pennsylvanien, wo die menschenfreundliche Begegnung ihm so wohl gefiel, daß er dort seinen Aufenthalt nahm. Er fand bald Arbeit, erwarb sich nach und nach ein kleines Eigentum, heiratete eine freie Schwarze und ist jetzt Vater von fünf Kindern, drei Söhne und zwei Töchter, welche alle verheiratet sind, bis auf die jüngste Tochter, welche mich, sowie einer ihrer Brüder, ebenfalls begleiten wird. Seine Hütte und sein kleines Feld grenzen nahe an Ellisons Landhaus, deshalb kennt ihn William seit seiner frühesten Jugend und wird von dem Alten, fast mehr als seine eigenen Kinder, geliebt. Überhaupt ist Anhänglichkeit und unerschütterliche Treue ein vorzüglicher Charakterzug dieser guten, bis jetzt so unterdrückten Menschengattung. Wer nur irgend Wohlwollen und Aufmerksamkeit gegen sie blicken läßt, kann ihrer innigen Liebe versichert sein. Ich habe oft auf unsern Morgenstreifereien die kleinen schwarzen Buben geherzt und mit dem Alten freundlich geredet, aber dafür könnte ich auch mit ihm bis zu den Huronen reisen, er würde jede Gefahr von mir abwenden und mich nur mit seinem letzten Lebenshauche verlassen. Zittre daher nicht, liebe Adele, vor den Schrecknissen, welche diese Reise für mich haben könnte. Das Land ist so wüst nicht mehr, als du es vielleicht noch aus früheren Reisebeschreibungen kennst. Es gehen regelmäßig Landkutschen von hier auf Baltimore und Washington, Landstraßen und Wirtshäuser sind nach allen Richtungen angelegt, und wo diese in der Gegend der Seen aufhören, da geht für mich der romantische Teil der Reise erst recht an. Ein leichtes Fuhrwerk ist bald gekauft, ja selbst für eine Fußreise habe ich hinreichende Kraft und Lust. Wenn Du diesen Brief erhältst, welchen William heilig gelobt hat nach zwei Monaten in Deine Hände zu liefern, dann kannst Du denken, daß ich an dem großen Wasserfalle sitze, wohin mein Herz mich mit einer unwiderstehlichen Sehnsucht zieht, wie den Wilden,welcher dorthin geht, um den Großen Geist anzubeten.

[135] Vor der Abschiedsstunde graut mir recht von Herzen. Soll ich den armen William ohne Hoffnung ziehen lassen? und kann ich ihm Hoffnung geben? Soeben war er hier und meldete mir, daß sein Schiff segelfertig liege und der Wind sich günstig zu wenden scheine. Meine Augen wurden feucht, der Gedanke, den Freund, den Beschützer meines Lebens zu verlieren, drang schmerzlich auf mich ein. Er trocknete schnell meine Tränen mit seinem Tuche ab und drückte dies an seine Lippen. »Du sollst mich begleiten und mich stärken«, rief er, »wenn die Niedergeschlagenheit zu mächtig werden will!« – »Guter William«, sagte ich, und meine Tränen flossen stärker, »ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr geben.« – »Sie wünschen es und können nicht?« sagte er erblassend. »Jetzt noch nicht.« – »Wann aber?« – »Wenn wir beide unsre Reise beendigt haben.« – »Was kann da verändert sein?« – »Viel, o viel, lieber William! Das Leben steht ja nie still, und in vier, fünf Monden verändert sich die Erde so sehr.« – »Auch das Herz? auch das Herz, Virginia?« rief er heftig. »O welche Aussicht eröffnen Sie mir!« – »Sie kennen die seltsame Lage meines Herzens«, sagte ich, »ich habe Ihnen niemals meine Gefühle verhehlt, und auch jetzt mag ich Ihnen einen fast mir selbst lächerlichen Gedanken nicht bergen. Es scheint mir nämlich, als könne nur am Fall des Niagara der Zwiespalt sich lösen, welcher in meiner Seele sich erhoben hat, seit ich unter Ihrem Schutze lebe.« – »Ach, es ist nur der Wunsch nach weiter Entfernung von mir«, sagte er mit traurigem Kopfschütteln. »Nein, nein!« rief ich, »ich verlasse Sie mit Schmerz, aber ein unerklärliches Etwas reißt mich fort. ›Am Niagara!‹ tönt es in meinen Träumen; und wie andre Pilger sich gen Osten wenden, so scheint mir im Westen die Sonne der Verheißung zu glänzen. Ihr Weg geht dem Osten zu, o möchte die freundliche Morgenröte auch Ihrem Herzen Hoffnung schimmern!« – »Ich lasse die Hoffnung hier zurück«, erwiderte er. »Ach, das Meer zieht mich nicht mehr an, wie ehemals, mit seinem ewigen[136] Wechsel! Wäre es nicht, um Ihnen Nachrichten zu verschaffen, ich würde schon diese Reise nicht mehr unternehmen; es wird die letzte sein. Der stille Reiz des heimatlichen Lebens spricht mächtig zu meinem Herzen, mein Sinn strebt nicht mehr in die Weite hinaus. Was ist der Lohn des Weltumseglers? des Welteroberers? Ruhm, kalter Ruhm. Aber auch Glück? Nein, das Glück wird ewig vor ihm fliehen, es wohnt nur in der stillen Hütte, wo ein treues Weib ihm lächelt und muntre Kinder um ihn spielen.« – »Wohl, wohl!« sagte ich gerührt, »auch ich kannte den seligen Frieden der begrenzten Heimat, und mein Herz sehnt sich dahin zurück, wie nach dem Paradiese der Unschuldswelt. Aber ein feindseliges Geschick vernichtete mein Eden, und wie die Trümmer einer zerstörten Welt muß ich irren durch den Raum, bis ich meinen Pol finde und meine Bahn.« – »Sie glaubten hier die Ruhe zu finden«, sagte er mit halbem Vorwurf. »Was glaubt, was hofft nicht der Mensch!« erwiderte ich. »Auch fand ich viel. Schon fühle ich mich im Vorhof des Heiligtums, die Balsamdüfte der Paradiesesblüten wehen schon zu mir herüber, o lassen Sie mir Zeit, den Eingang zu suchen.« – »Ich habe nur Wünsche«, sagte er und verneigte sich mit Entsagung; »die ersten und heißesten sind für Ihr Glück. Ich bin auf alles gefaßt, nur Sie auf immer zu verlieren, der Gedanke übersteigt meine Kraft.« – »Auch ich darf ihn nicht denken!« rief ich und ergriff seine Hand; »empfangen Sie meinen Schwur, daß, wie auch unser Verhältnis sich wende, ich mich nicht von Ihrer lieben Nähe trennen will, bis der Tod uns scheidet.« – »Oh, Virginia!« rief er und hob meine Hand zwischen seinen gefalteten Händen empor, »welch einen himmlischen Trost geben Sie mir zum Reisegefährten. Nimmer will ich mehr verlangen, wenn Sie es nicht selber wünschen.« Mit freudestrahlendem Gesicht verließ er mich.


[137] Er hat der Familie seine Abreise angekündigt, die mißvergnügten Gesichter aber augenscheinlich durch den Zusatz aufgehellt, daß dies die letzte Fahrt sein solle und daß er dann eine Lebensart aufgeben werde, welche der Vater immer nur ungern zugelassen hat. Dieser hofft, ihn für sein Handlungshaus zu gewinnen, ich glaube, er trügt sich; Williams Sinn strebt nach der Stille des Landlebens, ihm fehlt der spekulative Geist, dessen der Kaufmann bedarf.

So muß ich denn diese Blätter schließen und siegeln; mögen sie glücklich zu Dir gelangen, meine Adele. Mein ganzes Sein haucht Dir aus ihnen entgegen, nimm sie freundlich auf und tausche sie gegen andere von Deiner Hand aus, worauf ich so sehnlich hoffe. Gib mir Kunde von den Deinen, vorzüglich von Deiner guten Mutter; grüße diese herzlich von mir. Schreib mir auch, ach, nur in wenigen Worten, was mein armes, liebes Frankreich macht. Glücklich scheint es nicht zu sein, es kommen viel Ausgewanderte hier an. Seit einigen Tagen verbreitet sich ein Gerücht, welchem ich aber keinen Glauben beimesse, die Schiffernachrichten sind öfters falsch.

Übermorgen reise ich mit meinem kleinen Gefolge ab. Die Mutter schüttelt zwar sehr den Kopf zu dieser Wallfahrt, doch sie ist mit sorglicher Geschäftigkeit bemüht, alles zu ordnen und herbeizuschaffen, was ihr zu meiner Bequemlichkeit nötig scheint. Der Vater gibt mir Empfehlungsschreiben nach Baltimore und Washington mit. Philippine weint schon im voraus über die lange Trennung und tröstet sich nur durch mein Versprechen, daß ich dann auf immer bei ihr bleiben wolle. Es wird mir in der Tat schwer, mich von diesem Mädchen und von diesem freundschaftlichen Hause zu trennen; aber der Zug nach Westen ist stärker als die Freundschaft, ja selbst stärker als meine Vernunft.

Lebe wohl, meine Adele! Tausendmal lebe wohl! William eilt an Bord und nimmt Abschied von Deiner


Virginia. [138]

Virginia an Adele [1]
Virginia an Adele

Baltimore


Glücklich bin ich hier mit meinem Gefolge angelangt, und ein Handelsfreund von Ellison hat sich nicht abhalten lassen, mich aufzunehmen. Unsre Reise war nur wenig verschieden von einer Reise in Frankreich, so kultiviert ist schon der Distrikt zwischen hier und Philadelphia; nur waldiger ist das Land als dort und der Baumwuchs üppiger, saftvoller, auch gibt es mehr Viehzucht und mehr kleine zerstreute Besitzungen. An das Gemisch der verschiedenfarbigen Menschen, welches dem Reisenden anfangs sehr auffällt, habe ich mich schon gewöhnt. Von hier aus will ich erst nach Washington, um die Nachbildung jenes Kapitols zu sehen, wohin mein Geist so oft mich trug und welches jemals wirklich zu sehen mir nun jede Hoffnung entschwunden ist. Dann kehre ich hierher zurück, um von hier aus die große Wanderung zu den Seen anzutreten. Baltimore ist freundlich und um vieles lebhafter als Philadelphia. Es wohnen hier viele Franzosen. Meine Wirtsleute sind noch jung, besonders die Frau, ein Irländerin, voll Lebhaftigkeit und beweglich wie Quecksilber. Sie erzählt mir unaufhörlich; schade nur, daß ich mich mit ihr so schlecht verständigen kann, denn sie spricht das Englische nach ihrer vaterländischen Mundart aus und kann wenig Französisch. Besonders wünschte ich mich über einen Teil ihrer Erzählungen vollständig unterrichten zu können, welcher mich seltsam anzieht. Sie spricht nämlich oft von den Freiwilligen von Baltimore, welche im vorigen Jahre Washington zu Hülfe gezogen, und daß darunter mehrere Ausländer gewesen. Unter diesen erwähnt sie oft eines jungen Franzosen, welcher lange in ihrem Hause gewohnt habe. Die Beschreibung scheint mir, wunderbarerweise, auf Mucius zu passen, auch der Name hat in ihrer Aussprache einige Ähnlichkeit, und so fest ich von der Unmöglichkeit seines Lebens überzeugt bin, so nimmt mein törichtes Herz doch einen Anteil an diesen Erzählungen, [139] der mich mit Unruhe erfüllt. Gern möchte ich nun etwas Näheres über diesen Fremdling erfahren, möchte seine ferneren Schicksale, seinen jetzigen Aufenthalt wissen; aber entweder weiß die gute Davson nur wenig, oder ich verstehe sie schlecht. Ich kann nicht einmal mit Bestimmtheit erfahren, ob er mit den Freiwilligen zurückgekehrt ist, sie spricht immer, »der gute junge Herr ist gegangen«. Ich entschloß mich, mit einer kleinen Schamröte, den Mann deshalb zu befragen. »Hat Ihnen meine Frau davon gesagt?« fragte er mit einem finstern Blick, welchen ich noch gar nicht an ihm gesehen hatte. »Ich weiß nicht mehr als Betty«, setzte er hinzu, »es hat mich nicht interessiert.« Und damit brach er das Gespräch ab, welches ich nicht wieder anzuknüpfen wagte.

Der Fremde ist ein Zankapfel zwischen dem Ehepaare gewesen, das bemerke ich wohl. Aber weshalb beunruhigt mich das? warum ist mir seitdem die Schönheit der jungen Frau auffallender? warum bemerke ich sie mit halbem Neide? warum fällt mir ihre Lebhaftigkeit doppelt auf, wenn sie von dem Fremden spricht? was geht das mich an? Wahrhaftig, Deine Virginia ist recht kindisch! lache sie nur tüchtig aus, und schilt sie zugleich. Sie scheint eifersüchtig auf einen Schatten und war es nie auf den lebenden Mucius.

Auf jeden Fall aber wird dieser Umstand meine Abreise nach Washington beschleunigen. Es drängt mich hin zu dem Schauplatze, wo der Unbekannte gekämpft, vielleicht geblutet hat. Vergib mir, William! dich konnte das törichte, undankbare Mädchen verlassen, und hier jagt es dem Truggebilde einer kranken Phantasie nach, dessen Urbild über den Sternen lebt. Guter William! ich fürchte, so wird es immer sein.


Mein Gefolge ist es sehr wohl zufrieden, daß wir bald weiterreisen. Meinen Negern gefällt der städtische Aufenthalt nicht. Corally, das schwarze Mädchen, kann gar nicht begreifen, wie man sich in einen so großen Ort einsperren [140] könne, wo man gar keine Rasenplätze zum Tanzen, keine Blütengebüsche vor seiner Haustür habe. Ihr Bruder Ismael horchte auf die Erzählungen seines Vaters von der Lebensart der Wilden. Er hofft immer, einigen Stämmen am Ontario oder Erie zu begegnen und mit eigenen Augen ihr Treiben zu sehen. Dann aber sehnt er sich nach seiner Frau und seinen kleinen Buben zurück. Corally hat mir auch ganz heimlich vertraut, daß sie einen jungen Schwarzen gar liebhabe, er sei aber arm, müsse noch verdienen und sparen, denn Vaters kleines Feld könne keine neue Familie mehr ernähren. Gutes Kind der Natur, wie wenig bedarf es, dich zu beglücken! Einige Morgen Land, eine Hütte, ein paar Kühe, und daran soll es dir bei unserer Rückkunft nicht fehlen.


Washington


So bin ich denn gestern eingezogen in diese Hauptstadt des freien Amerika, vielleicht bestimmt, dereinst der Neuen Welt Gesetze, Sprache und Sitten zu geben, wie Rom sie vormals der Alten gab. Möge sie sich nie zu Roms Üppigkeit und Übermut erheben, um einst zu sinken wie sie! Welche Vergleichungen, welche Erinnerungen und Betrachtungen bieten sich hier bei jedem Schritte dar. Kühn und groß ist der Entwurf zu dieser großen Bundesstadt, wie überhaupt der Riesenbund dieser freien Staaten. Gebe das Schicksal Gedeihen! die Saat ist vollwichtig, die Säemänner sind voll redlichen Eifers, und nur der Sonnenschein des Friedens ist not. Das Hagelwetter, welches jüngst vorübergeflogen, hat vieles zerstört. Prachtvolle Gebäude stehen dachlos und ausgebrannt, und der Mond scheint verwundert in die leeren Räume hinabzublicken. Die Säulen des Kapitols sind beschädigt von dem feindlichen Geschütz, aber die Säulen der Republik trotzen jedem Anfall, hier wird sich die Macht des neuen Karthago brechen. Unter Kämpfen ward hier das Riesenkind der Freiheit geboren, Kämpfe und Gefahren stärken seine [141] Kräfte und ziehen es groß, wie die junge Eiche mitten unter Stürmen emporwächst.

Mit stiller Ehrfurcht habe ich das noch nicht ganz vollendete Denkmal des großen Mannes besucht, dessen Name durch die Stadt selbst der späten Nachwelt überliefert wird und dessen Andenken in dem Herzen jedes Amerikaners lebt. Wahrlich, ein beneidenswerter Sterblicher, den selbst seine Gegner nicht zu verunglimpfen wagen! Die einfachen Sitten seines Landes, die ruhige Art der hiesigen Entwickelung bewahrten ihn vor dem kühnen Auffluge, welchen unser französischer Adler nahm. Napoleon übertraf Washington an Geist und Energie, wurde aber von ihm an Mäßigung und stiller Bürgertugend weit übertroffen. Washington war der Cincinnatus des tugendhaften Roms, Napoleon der Caesar des verderbten. Bei der Charakter leiden sowenig eine Vergleichung als die Lage ihrer Umgebungen.


Das Gewühl des Hafens und die Tätigkeit, womit man die Brandstätte abräumt und den Schaden zu heilen strebt, hat mich mehrere Tage ergetzt und festgehalten; daneben habe ich manche Forschung nach dem Unbekannten angestellt. Humphry Dyk, der Bediente von Ellison, ist mir dabei sehr nützlich gewesen, und ich habe diesen Menschen recht liebgewonnen, seines Diensteifers wegen. Aber ach, es ist alles vergebens, man weiß hier nichts von einem schwarzlockigen Franzosen, welcher unter den Freiwilligen von Baltimore sich befunden. Alle Behörden sind befragt, alle Krankenanstalten besucht worden; hier ist er nicht, wenn er überhaupt noch lebt. »Was geht es mich an!« rufe ich trotzig aus oder verlache mich selbst mit dieser kindischen Grille; aber es hilft wenig, ich kann den Gedanken nicht loswerden. Das beste wird sein, daß ich mich bald von hier entferne, die Anstalten zu einer Reise und die immer wechselnden Gegenstände werden mich zerstreuen. Wann wird Virginia die Ruhe ihres Herzens wiederfinden!


[142] Baltimore


Hier bin ich wieder, und in voller Geschäftigkeit für meinen großen Zug. Wir haben uns, in der Tat, wie zu einer Entdeckungsreise gerüstet. Humphry hat fürchterliche Vorstellungen von der Ungastlichkeit der Gegenden, wohin wir gehen, ich lasse sie ihm, weil mir beiläufig der romantische Gedanke, durch Wildnisse zu irren, ein geheimes Vergnügen macht.

Wir haben einen Wagen, mit zwei Pferden bespannt, gekauft und für den Zweck zurichten lassen. Gegen Regen und Sonne wird er durch eine Art von Zelt geschützt, welches nicht nur an den Seiten in die Höhe gewunden, sondern auch abgenommen und durch Stangen vergrößert werden kann. In diesem Wagen sitzen Corally und ich auf Sitzkasten, welche mit Decken und Wäsche angefüllt sind. Außerdem befindet sich ein großer Fächerkorb voll Lebensmittel und ein tüchtiges Flaschenfutter mit Wein und Rum, ein Bratspieß nebst dazugehörender blecherner Pfanne, sechs Teller aus Silberblech, ein kleiner kupferner Kessel, Messer, Gabeln und Löffel, einige leere Korbflaschen, einige hörnerne Becher, ein Beil, eine Matratze und ein Tragekorb auf demselben. Da hast Du unsre ganze wandernde Haushaltung. John hält uns für fürstlich ausgestattet, Humphry hätte gern noch mehr hinzugetan. Er und John befinden sich, zu unsrer Bedeckung, zu Pferde, sind mit guten Flinten bewaffnet und reichlich mit Pulver und Blei versehen; Ismael macht den Kutscher. So werden wir nun morgen, in aller Frühe, unsere Wallfahrt antreten. Ich habe mich mit einem kleinen Reiseschreibzeuge versehen und werde ein ordentliches, an Dich gerichtetes Tagebuch halten, welches Du vielleicht einst erhältst. Mir hüpft das Herz vor Freude bei dem Gedanken an diese Pilgerfahrt. Das neue, ungekannte Leben reizt mich, und ich werde diese Nacht kaum schlafen können, wie die Kinder, welchen das ganze Leben meist noch fremd ist, schon vor einer Spazierfahrt nicht schlafen. Oh, wie ist man so selig, wenn man noch Kind ist! da zieht uns [143] nur der Blumenhügel an, welchen wir erreichen können, jetzt schließen kaum die blauen Berge und das Meer mein Sehnen ein.


Den 20. Junius


Wir sind vor Tage aufgebrochen, um in der Morgenkühle zu reisen. Die Sonnenhitze in den Mittagsstunden ist jetzt unerträglich, wir werden dann an einem schattigen Orte rasten, wo Wasser in der Nähe ist und Weide für unsere Pferde. Heute trafen wir einige artige Meiereien an, wo wir uns mit herrlicher Milch und mit Eiern versahen, welche nebst dem frischen Fleisch, welches wir aus Baltimore mitgebracht hatten, eine leckere Mahlzeit gaben. Zur Nacht haben wir bei dem Hause eines Pflanzers haltgemacht. Mein Gefolge wird draußen, bei Vieh und Gerät, Corally und ich werden in dem Hause schlafen. Von hier aus möchten wir wohl nicht oft mehr ein Obdach finden; je weiter wir gegen das Gebirge kommen, desto sparsamer werden die Wohnungen, und doch habe ich diesen Weg vorgezogen, statt auf Albany zu gehen, die Gegend wird hier viel romantischer.

Die Kinder unsres Wirtes sehen mir neugierig zu, wie ich beim Schein ihres Küchenfeuers schreibe. »Was machst du da?« fragt ein kleiner Knabe. »Ich spreche mit meiner Schwester«, erwidere ich, »welche da über dem großen Wasser wohnt.« – »Mit den Fingern?« sagt er und sieht mich kopfschüttelnd an. »Ich zeichne die Worte auf dies Papier, wie du dort ein Pferd mit Kohle auf die Wand gemalt hast«, gebe ich zur Antwort. Er blickt hinein und sagt: »Du mußt an kein Pferd, an keinen Vogel, keinen Baum, kein Haus gedacht haben, ich kenne kein einziges von deinen Worten.«


Den 26. Junius


Die Landschaft wird wilder, aber unbeschreiblich schön. Wir machen nur kleine Tagereisen, um unser Vieh bei der [144] Hitze zu schonen. Bis jetzt haben wir noch immer Wohnungen angetroffen, wo wir Geflügel, Milch, Eier und Früchte kaufen konnten. Diese Nacht brachten wir zum erstenmal im Freien, am Saum eines Waldes, zu, wo ein klarer Quell uns mit vortrefflichem Wasser versorgte, und auch jetzt, indem ich dies schreibe, lagern wir am Fuß eines Berges, welcher dicht mit Ahorn und weißen Zedern bewachsen ist; hundert Schritte von uns braust ein Waldstrom durch eine Bergschlucht hinab. John und Humphry sind auf die Jagd gegangen, und Ismael dreht den Bratspieß, Corally hat Wasser geschöpft in unsern Kessel und bereitet die Lager, ich stehe der kleinen Küche vor, die Pferde weiden neben uns. Du glaubst nicht, welchen eigentümlichen Reiz dieses Nomadenleben hat, selbst für den kultivierten Menschen; ich wundre mich gar nicht, daß die Eingeborenen es nicht verlassen mögen.


Den 30. Junius


Schon seit vier Tagen irren wir in den Gebirgen umher, uns bloß nach der Sonne und den Gestirnen richtend, worauf sich John sehr gut versteht. Oft denke ich mir, wie Du Dich ängstigen würdest, Du weintest ja ehmals fast jedesmal, wenn auf unsern Spaziergängen die Turmspitze von Chaumerive sich uns versteckte, aus Furcht, Dich zu verirren. Hier sind wir deshalb ganz unbesorgt, denn diese Wildnisse sind so überraschend schön, daß man sie nie wieder verlassen möchte. Die Waldvögel über unsern Häuptern lassen ihre hundertfältigen, oft so fremden und seltsamen Stimmen hören, Erdbeeren und die Beeren anderer Rankengewächse röten den Rasen an den Abhängen der Berge, von deren Wipfeln neugierige Gazellen auf uns herniederblicken. Wir leben zum Teil von dem Ertrage der Jagd, welche hier nicht mühsam ist, da das Wild sich nicht sehr scheu und furchtsam zeigt; auch die Eier einiger Wasservögel haben wir schon häufig an sumpfigen Stellen gefunden. Ich schlafe unter dem Zelte; die [145] Nächte sind kalt, aber entzückend schön durch ihre Klarheit, und mit Vergnügen betrachte ich die neuen Sternbilder, welche ich sonst nur auf der Himmelskarte antraf. Mein Schlaf ist vortrefflich, ein wenig Rum, mit Wasser, Ei und Zucker vermischt, mein Frühstück, wenn wir, mit dem ersten Anbruch der Morgenröte, uns auf den Weg machen.


Den 5. Julius


Wir haben, auf mancherlei Umwegen, die südliche Spitze des Eriesees glücklich erreicht und müssen hier einen Rasttag halten, denn unsere Pferde sind ziemlich erschöpft. Das Land war schon in den letzten Tagereisen flach und offen. Der See gewährt einen schönen Anblick, die jenseitigen Ufer sind nur in einzelnen nebeligen Punkten bemerkbar. John hat mehrere Wasservögel geschossen, welche unsere Mahlzeiten würzen. Er späht überall nach den Wilden umher, deren Wiedersehen ihm sehr am Herzen liegt; ich selber bin auf ein solches Zusammentreffen höchst gespannt.


Den 8. Julius


Unser Wunsch wurde erfüllt. Der Zufall wollte, daß grade von dem Stamme, mit welchen John verschwistert ist, ein Trupp von sechs Männern und vier Weibern in ihren Canots über den See kam, um auf die Rehjagd zu gehen, welche hier am Fuße des Alleghany-Gebirges sehr ergiebig ist. John wurde sehr bald von ihnen als ihr Bruder erkannt, und die Freude war von beiden Seiten unbeschreiblich. Er zeigte ihnen seine Kinder, und sie erklärten, daß diese auch die ihrigen wären. Sie brachten uns mit großer Gastfreiheit die Beute ihrer Jagd zum Geschenk; wir bewirteten sie dagegen mit Rum und gekochten Speisen und teilten unsern Vorrat an Reis und Zwieback mit ihnen, unsre Männer gaben ihnen den größten Teil ihres Tabaks. Ich schmückte die Weiber mit [146] allem, was ich an Glasperlen, einfachen Ringen, Bändern und entbehrlichen Tüchern besaß; das Freundschaftsbündnis war in kurzem auf das engste geknüpft. Sie lagerten sich in unserer Nähe und geleiteten uns heute eine ganze Strecke. Der Abschied schien ihnen sehr wehe zu tun, doch trösteten sie sich mit der Hoffnung, uns bei unserer Rückkunft von dem großen Wasserfalle, wohin wir nach ihrer Meinung wallfahrten, um den Großen Geist anzubeten, wiederzusehn. Auch John war gerührt bei dem Scheiden von diesen herzlichen Kindern der Natur, und er hat mir nachher wiederholt versichert, daß, wenn er nicht Frau und Kinder daheim hätte, er der Versuchung kaum würde haben widerstehen können, mit ihnen in ihr Land zurückzukehren. Ich begreife leicht, wie anziehend diese ungebundene Lebensart für den sein muß, welcher die Sprache dieser Völker kennt und seine Bedürfnisse noch nicht zu weit über die ihrigen hinaus gesteigert hat.


Den 11. Julius


Wir sind heute zu einer mittelmäßigen Meierei gelangt, welche an den Ufern eines kleinen Flusses liegt, der sich ungefähr vier Stunden von hier in den Eriesee ergießt. Der Boden ist sehr fruchtbar, der Mais steht vortrefflich und verspricht einen fünfzigfältigen Ertrag. Obstbäume umgeben die niedere Wohnung und verstecken sie fast, alle beugen ihre Zweige unter der Last der Früchte. Kirschen, Aprikosen, Birnen, Melonen sind von ganz vorzüglicher Güte, die Pfirsich rötet sich schon, und der Zider wird gewiß ebenso trefflich und reichlich gewonnen werden als im vorigem Herbste. Wir trinken jetzt davon und werden unser fast geleertes Flaschenfutter damit füllen. Auch herrliches Gemüse gibt es hier. Kühe weiden umher, und an Geflügel fehlt es nicht. Die Natur versorgt diese glückliche Familie mit allem im Überfluß, was das physische Leben angenehm machen kann. Wöchentlich bringt der älteste Sohn des Hauses die Produkte, welche man nicht verzehren [147] kann, auf einem einspännigen Karren nach Venago, welches fünf Stunden entfernt ist. Die Familie besteht, samt den Kindern, aus neunzehn Personen, worunter zwei deutsche Knechte sich befinden, welche sich auf sechs Jahre vermietet haben; dies ist bei dem ärmern Teil der Ausgewanderten sehr gebräuchlich. Nach Ablauf der Dienstzeit erhalten sie eine Summe Geldes, Vieh, Getreide und dergleichen, um sich anzusiedeln. Bis dahin werden sie völlig zur Familie gerechnet und den Söhnen des Hauses gleich behandelt, genährt und gekleidet. Heiterkeit und Frohsinn malt sich auf allen Gesichtern der hiesigen Hausbewohner, und ich muß sie glücklich preisen in ihrer Abgeschiedenheit, welche sie gegen die tausend Plagen der Gesellschaft sicherstellt. Nur selten kehrt hier ein Reisender ein, wird aber dann auch mit der größten Gastfreundschaft empfangen, und man gedenkt seiner noch lange. Als etwas Seltenes wurde bemerkt, daß in dieser Woche schon zwei Fremde, nebst ihrem Führer, hier gewesen, welche gleichfalls nach dem Wasserfall wallfahrten. Wie es scheint, waren es Maler, denn der eine hatte die Landschaft gezeichnet und der zweiten Tochter ein kleines Stück von seiner Arbeit zum Andenken geschenkt. Das muntere Mädchen lobt deshalb ihn am meisten, während ihre ältere Schwester seinen schwermütigen Gefährten rühmt.

Wir haben uns hier mit einer großen Menge frischer Lebensmittel versehn, es ist mir aber kaum gelungen, den guten Leuten den wahren Wert aufzudringen.


Den 13. Julius


Wir sind nur noch drei Stunden vom Niagara entfernt und hören den Fall wie das Rollen eines mächtigen Donners. Schon gestern den ganzen Tag tönte sein Getöse in der Ferne, und in der Nacht hinderte es mich lange am Schlaf. Wir haben hier haltgemacht, weil ich erst morgen zur Stelle kommen will; ich habe mir dieses große Fest zu meinem Geburtstage aufgespart. Tausend Erinnerungen [148] und Gefühle werden da auf mich einstürmen an diesem merkwürdigen Tage, wo die Kraft meines Volkes hochaufschäumte, wie diese Flut die türmenden Felsen überwand und dann auch in den Abgrund fiel. Wird dieser mächtigen Welle eine zweite folgen? Es würde mir sehr unlieb sein, wenn ich morgen die beiden Reisenden dort fände, von welchen man in Woodhouse erzählte; ich wäre gern allein. Heute sahen wir in einer ziemlichen Entfernung einige menschliche Figuren auf einer Hügelspitze sitzen. Ismael, dessen Auge am weitesten trägt, behauptete, sie schrieben, wie ich es oft abends zu tun pflegte; wahrscheinlich aber zeichneten sie. Mein Herz fühlte sich zu ihnen hingezogen, so mächtig wirkt der Trieb der Geselligkeit im Menschen überall, und doch möchte ich, wie gesagt, gerade morgen nicht gern mit ihnen zusammentreffen, an einem Tage, wo ich so viel abzumachen gedenke mit meinem eigenen Herzen. Mein ganzes Leben wird mit den Bildern aller meiner Geliebten an mir vorübergehen. Hier will ich das Trauerfest feiern um meine teuern Verlorenen, und hier, wo der rohe Irokese betet zu dem Großen Geist, will auch ich zu ihm beten, daß er mich erleuchte in dem, was mir not tut. Noch immer erhält sich in mir die Ahndung, als werde hier der Wendepunkt meiner Gefühle sein, kaum werde ich schlafen können vor unruhiger Erwartung. Schon jetzt klopft mein Herz höher und schneller mein Puls – ich bin ein Kind, was wird's denn sein?

Ich muß etwas Kühlendes trinken und mit Corally schwatzen, das Schreiben erhitzt mich. Lebe wohl, Adele! Gedenke Deiner Virginia.


Den 14. Julius


O Himmel und Erde, Adele, er ist's! Wie ist die Welt so anders, anders der Mond, die Gestirne anders! Er ist's! meine Ahndung, der Unbekannte, der Geliebte, alles eins. Laß mich zu mir selbst kommen, mir schwindelt. Ich möchte [149] Dir so gern mein Glück in seiner ganzen Fülle mitteilen, wie bisher meinen Schmerz, aber meine Hand zittert. Doch nur eines Namens bedarf es, und hundertmal rufe ich ihn dem Echo der Felsen zu, das Echo antwortet, als teilte es mein Gefühl. Warum kannst Du mir nicht antworten, Adele! Auch Dir rufe ich ihn zu: »Mucius!« Ja, Mucius! die Toten kehren wieder. O könntet ihr auch wiederkehren, mein Vater, mein Emil, meine Mutter! Aber ich umfasse euch alle in dem lieben Wiedergefundenen, auch Dich, Adele; er ist mir Vater, Bruder, Freund. Auch mein Vaterland habe ich wieder, wo Mucius atmet, ist meine Welt! Mein Kopf ist wüst, ich muß einige Stunden ruhen. Das höchste Glück ist fast schwerer zu tragen als der heftigste Schmerz. Welch ein Tag, der mir zum zweitenmal mein Leben, mein Glück, das Ziel meiner Wünsche schenkte! Schlafe wohl, Adele, ich vermag nicht weiter!


Einige Tage später


Für mich gibt es keine Zeit mehr. In meiner Seligkeit vergesse ich zu zählen, wie oft die Sonne auf- und untergeht. Nur die Kranken berechnen die Stunden, und die Gefangenen zeichnen einen Unglückstag nach dem andern an die Wand ihres Kerkers auf. Gern schreibt der Unglückliche seine Leidensgeschichte, der Glückliche erzählt lieber, die Feder teilt seine Wonne zu langsam mit. Und doch muß ich schreiben, wenn Du erfahren sollst, was ich vor allem gern zu Deiner Kenntnis brächte; ich werde also oft ein Stündchen aufopfern müssen, um Dir von meinem Glücke Kenntnis zu geben, an welchem doch niemand so innigen Anteil nehmen kann als Du. Meine Erzählung wird sehr oft unterbrochen werden, da jedoch noch eine ziemliche Weile verlaufen wird, ehe Du diese Blätter erhältst, so werden die Bruchstücke sich schon nach und nach zu einem Ganzen gestalten, und so fange ich denn mit jenem wunderreichen Tage des Wiedersehns an.

Wir hatten früh den letzten Ort unseres Nachtlagers [150] verlassen und fuhren bis zum Fuße der Felsen, über welche sich der Niagara stürzt; hier ließen wir Vieh und Gerät unter Ismaels Obhut, und John führte uns auf steilen Fußpfaden bis zu einer Höhe, von welcher wir den betäubenden, jede Beschreibung übertreffenden Wassersturz übersehen konnten. Wir waren alle ergriffen von diesem einzigen Schauspiele. Donnernd stürzt sich der Strom von Fels zu Fels, himmelhoch spritzt der Schaum empor, von der Sonne durchschienen, einem Goldregen gleich; hundertfältige Regenbogen bilden sich an dem dichter herabfallenden Gewässer. Die Sprache ist zu mangelhaft, den Eindruck wiederzugeben, den das Auge kaum im ganzen aufzufassen vermag. Sprachlos standen wir lange und staunten vor uns hin, dann gab ich meiner Dienerschaft durch Winke zu verstehen, daß ich bis zu einer Abstufung des Felsens ohne Begleitung hinuntersteigen wolle, wohin ein bequemer Pfad führte und wo einige Wölbungen einen kühlen Aufenthalt zu bieten schienen; ich wollte ungestört sein. Als ich um eine Ecke bog, erblickte ich ein männliches Wesen, welches in Gedanken verloren zu sein schien, und trat zurück. Der Fremde wurde mich gewahr und machte seinerseits gleichfalls eine Bewegung, um den Ort zu verlassen, so daß wir einander nach entgegengesetzten Richtungen auswichen, oft schüchtern rückwärts sehend. Nach vielleicht hundert ungewissen Schritten traten wir beide zugleich auf eine Anhöhe hinauf und standen, Bildsäulen gleich, einander gegenüber. Welche Gestalt? Ich zitterte. Der Fremde beugte sich vorwärts, er hob die Arme. »Geben die Gräber ihre Toten zurück?« rief eine bekannte Stimme. »Mucius oder sein Geist?« fragte ich fast zu gleicher Zeit und lag in seinen Armen, verlor an seiner Brust das Bewußtsein. Als ich erwachte, befand ich mich im Schatten eines Felsenüberhanges, Mucius hielt mich umfaßt, Corally kniete zu meinen Füßen und suchte meine kalten Hände mit ihren Küssen zu erwärmen. Erhöhete Lebenskraft und Wärme kehrten durch meinen [151] ganzen Körper zurück, sobald ich die Augen aufschlug, ich blickte ja in meinen Himmel. Des Weines bedurfte ich nicht, welchen der ehrliche John herbeigeholt hatte. »Miß Virginias Bruder?« fragte Humphry etwas befremdet. »Ja, wohl Bruder, Vater und Vaterland!« rief ich und umschlang den Heißgeliebten. »Mehr, mehr«, sagte Corally mit schlauem Lächeln, und Humphry blickte zweifelnd und finster vor sich hin. Mucius bat ihn und John, sich nach seinen Gefährten umzusehen, welche tiefer gegen die Wasserwand hinabgestiegen waren, und sie hierher zu führen, Corally setzte sich schweigend hinter einen entfernten Stein. So waren wir denn allein, und die unermeßliche Seligkeit, welche uns fast den Busen zersprengte, machte sich in Tränen, Worten und Küssen Luft. Ich bin unfähig, Dir die ganze Wonne dieser ersten glücklichen Stunden zu schildern. Wir hatten nur Sinn für das ungehoffte Glück des Wiedersehens, keine andre Erinnerung trübte unsern sonnenhellen Himmel. Endlich langten unsere Führer und Mucius' Freund bei uns an; dieser war die sogenannten Indianerleitern hinuntergestiegen, um den östlichen Wasserfall recht in der Nähe zu sehen, während Mucius vorgezogen hatte, hier oben in der Einsamkeit seinen Gedanken Raum zu geben. Er wußte, es war mein Fest, und hier wollte er es in wehmütiger Erinnerung begehen. So seltsam, auf so wunderbarem Wege führte uns die liebende Vorsicht zusammen, denn nimmer kann ich es für den Glückswurf des blinden Zufalls halten.

»Virginia!« rief Mucius seinem Freunde entgegen. Der bloße Name erklärte diesem das Ganze, er stürzte sich jauchzend an Mucius' Brust. »Gebenedeiet sei die Jungfrau und alle Jungfrauen, die ihr gleichen!« rief er in toller Lustigkeit; »nun wird doch dies Auge wieder lachen und dieser Mund nicht mehr seufzen, wenn ich das Leben preise mit all seinen Launen, Tücken und Fastnachtspossen.«

Der Fremde, ein junger Maler aus Bassano im Venezianischen, welchen Mucius in Spanien kennenlernte, wo [152] er mit ihm in einem Regimente diente, wurde mir vorgestellt. Er hat ein schönes freundliches Gesicht und ist voll unerschöpflich heiterer Laune. Seine treue Freundschaft könnte den Mustern des Altertums an die Seite gesetzt werden. Das Glück seines Freundes war jetzt das seinige, er hatte ihm lange genug die Last des Daseins ertragen helfen. Das Geräusch des Falls fiel seiner Redelust beschwerlich, und wir kehrten, auf seinen Wunsch, zu meinem Fuhrwerk zurück. Hier, um ein gutes Mahl gelagert, welches Ismael bereitgehalten, erzählten die beiden Freunde sich abwechselnd ihre Schicksale in französischer Sprache, welche ihnen die geläufigste, unseren Leuten aber wenig verständlich war.

Pinelli lernte Mucius in den Tagen der Hoffnung kennen, wo dieser sich schon wieder die rosenfarbigsten Bilder der heimatlichen Zukunft schuf. Des Freundes heitere Laune erhöhete die hellen Farben des schönen Gemäldes, und beide fingen an, einander unentbehrlich zu werden. Nach einiger Zeit setzte das gänzliche Ausbleiben meiner Briefe Mucius in große Unruhe; Pinelli tröstete nach Möglichkeit. Die Kriegsvorfälle konnten leicht die Ursache sein, wie sie es denn auch wirklich waren; aber das leidenschaftliche Gemüt eines Liebenden, welcher schon so viel Trübes erfahren, fürchtet leicht das Ärgste. Am Morgen jenes Tages, als man sich zum Sturm auf eine spanische Festung anschickte, ward Mucius eines Soldaten gewahr, welchen er als Landsmann aus Aix erkannte und welcher erst vor kurzem bei dem Korps eingetroffen war. In seiner Nähe reitend, fragte er ihn, ob er den Besitzer von Chaumerive kenne. »Freilich kenne ich den guten Herren, er war sonst oft in Aix.« – »Weißt du jetzt nichts von ihm?« fragte Mucius zitternd. »Als ich durch Avignon ging«, entgegnete jener, »war ihm vor einigen Tagen die Tochter gestorben.« – »Virginia?« schrie Mucius mit Entsetzen. »Den Namen weiß ich nicht«, sagte jener, »man beklagte jedoch, ihrer Güte und Wohltätigkeit wegen, allgemein ihren frühen [153] Hintritt.« – »Lebt die Mutter noch?« stammelte Mucius. »Ich glaube nein«, sprach der Soldat. Wenige Sekunden darauf wurde der Unglückliche von einer Kanonenkugel zerschmettert. Mucius' Zustand war halbe Geisteszerrüttung. Kurz darauf wurde der Sturmmarsch geschlagen. Wie außer sich sprang Mucius vom Pferde, ergriff gewaltsam einen Adler und eilte die Brücke hinauf, aber schwankend und halb bewustlos wurde er bald von der Menge hinabgedrängt. Pinelli war, in der größten Unruhe, dem Freunde gefolgt, er sahe ihn stürzen, noch ehe er zu ihm gelangen konnte, und nur die Stimme der Freundschaft hörend, warf er sein Pferd herum und jagte am Ufer des reifenden Flusses entlang. Nach einigen Minuten sahe er Mucius auftauchen und matt mit den Wellen kämpfen, der Strom schlang ihn immer wieder in seine Strudel. Endlich blieb der schon fast Entseelte mit den Kleidern an einem Gesträuch hangen, und mit der größten Mühe gelang es dem Freunde, ihn ans Ufer zu ziehn, mit noch größerer, ihn völlig ins Leben zurückzurufen. Beide waren weiter als eine Viertelstunde von der Festung entfernt. In dieser Lage wurden sie plötzlich von einer Abteilung englischer Reiterei umringt und gefangengenommen. Mucius fühlte und begriff wenig von dem, was um ihn her vorging, er glich einem Seelenlosen, sein Freund mußte für ihn denken und handeln.

In diesem Zustande wurden sie bis Lissabon gebracht und von dort, mit mehreren Gefangenen, auf einem Transportschiffe nach England geführt. Der Kapitän schien gerührt von der tiefen Niedergeschlagenheit des einen und von der aufopfernden Freundschaft des andern und behandelte beide Freunde mit einiger Auszeichnung. Pinelli erkundigte sich oft nach dem Schicksale, welches ihnen bei ihrer Ankunft in England bevorstände. Die Antwort war allgemein, daß sie, wie alle Subalternen, nebst den Soldaten auf die Gefangenenschiffe gebracht werden würden. Er hatte von diesen Wassergefängnissen eine so furchtbare [154] Vorstellung, daß er Tag und Nacht darauf sann, sich und seinen Freund diesem Elende zu entziehen. Das Glück, oder das Schicksal, erleichterte sein Vorhaben. Die Hitze, oder die Hand eines Frevlers, sprengte nach wenigen Tagen die beiden größten Wasserfässer des Fahrzeuges, zugleich trennte ein Windstoß dasselbe von der Konvoi und trieb es gegen die französische Küste. In dieser Verlegenheit zog der Kapitän die amerikanische Flagge auf und ging auf der Reede von La Rochelle vor Anker, wo eben kein französisches Fahrzeug von Bedeutung lag, sich aber zwei amerikanische Fregatten befanden.

Man hielt sich soweit als möglich von den Batterien entfernt und schickte die Schaluppe ans Land, um einen Vorrat von Wasser einzunehmen. Die Amerikaner kümmerten sich wenig um die Ankömmlinge, sondern waren beschäftigt, die Anker zu lichten und die Segel beizusetzen, um mit dem eben umsetzenden Winde in See zu gehen. Der Mond war aufgegangen und erhellte wechselnd den wolkigen Himmel; die Freunde waren auf dem Verdeck und betrachteten das eilende Gewölk. Da blitzte in Pinellis Seele ein Gedanke an Rettung auf. Unvermerkt ergriff er ein daliegendes Tau, schlang es um seinen Freund und stürzte sich mutig mit ihm über Bord. Die Wellen schlugen hoch auf, der kühne Schwimmer arbeitete sich jedoch mächtig empor und zog den Gefährten mit sich, welcher sich bald begriff und ebenfalls seine Kräfte anstrengte, ihm zu folgen. Gewölk verdunkelte den Mond, und man ward die Schwimmer vom Schiffe aus nicht gewahr. Sie nahmen ihre Richtung den absegelnden Fregatten zu, welche sie auch bald erreichten und von welchen sie, bei einem aufblitzenden Lichtstrahle, bemerkt wurden. Man warf ihnen ein Tau zu und brachte sie glücklich an Bord. Hier gaben sie Kunde von ihrem Schicksal und von der falschen Flagge des Engländers, ihre Rettung war vollendet. Die Fregatte war in wenigen Minuten außer dem Gesichte des Schiffes, welches ohnehin an kein Verfolgen denken konnte. [155] Die Fahrt ging gerade auf Boston, wo man ohne alle Abenteuer einlief. Die beiden Freunde waren hinreichend mit Golde versehen, und man richtete sich genügsam ein. Pinellis froher Mut und seine Lebenslust halfen dem schwermütigen Mucius tragen. Er brachte, zu seiner Zerstreuung, eine Reise ins Innere in Vorschlag und zu den Denkmälern der Vorzeit am Ohio, zu den Wildenvölkern am Missouri, und wirklich hatte diese Reise einen günstigen Einfluß auf Mucius' gramvolles Gemüt. Noch jetzt spricht er mit Entzücken von der Schönheit der südlichen Provinzen, verliert sich noch in philosophische Betrachtungen über den Urzustand dieses Weltteils, über die untergegangene Kultur dieser zersprengten Stämme. Nach fast zwei Jahren kehrten die Pilger nach Boston zurück, ihre Barschaft war indessen sehr verringert. Pinelli suchte seine Kunst, mit vielem Glück, geltend zu machen. Er führte die auf der Reise entworfenen Landschaften mit großem Fleiße aus und fand Käufer zu ihnen. Auch die Porträtmalerei übte er wieder, und man war entzückt von dem eigentümlichen Charakter und der Idealisierung, welche er seinen Physiognomien, bei aller Ähnlichkeit, zu geben wußte. Mucius beförderte seine Reise, mit seinen Altertumsforschungen, zum Druck und gab daneben Unterricht in alten Sprachen. Mitten unter diesen Beschäftigungen erhielten sie die Nachricht von den großen Umwälzungen im Vaterlande, welche ihnen für immer den Wunsch zur Rückkehr benahmen. Sie betrachteten nunmehr das fremde, freie Amerika als ihre Heimat und eilten, zu seiner Verteidigung die Waffen zu ergreifen, als es von den Engländern in seinem Innern bedroht wurde. In Baltimore hatte Mucius wirklich im Hause des Herrn Davson gewohnt, wie mein ahndendes Herz es mir damals sagte. Mistreß Davson fühlte sich von der sanften, freundlichen Schwermut ergriffen, welche den schönen jungen Mann so anziehend machte. Herr Davson fing nach und nach an, Eifersucht zu hegen, welches die Freunde veranlaßte, bald nach ihrer [156] Rückkehr aus der Gegend von Washington eine Reise zu den Wasserfällen zu unternehmen. Sie durchstrichen lange die umliegenden Gegenden. Mucius konnte sich nicht wieder losreißen von dieser wildromantischen Natur, und hier, wo er nur Nahrung für seinen Schmerz suchte, fand er die Heilung desselben.


Laut dankte ich Gott, nach Endigung jener Erzählung, für seine väterliche Führung; nächst ihm dem treuen Pinelli, denn ohne ihn, den Schutzgeist meines Mucius, hätte ich diesen nicht wiedergesehen. Oh, wie unendlich teuer muß dieser neue Freund mir sein! Aber auch ohne diese Rücksicht muß man den Mann liebgewinnen. Er lebt nur für seine Freunde und hegt ein gefühlvolles Herz für die ganze Welt. Seine gute Laune ist unerschöpflich, jeder Unannehmlichkeit weiß er eine heitere Seite abzugewinnen. Von unserer Reisegesellschaft wird er allgemein geliebt. Er unterhält sich mit Humphry, läßt sich von ihm über Amerika belehren und bewundert seine Kenntnisse; John muß ihm von den wilden Stämmen erzählen, und er schüttelt ihm treuherzig die Hand; den ehrlichen Ismael umarmt er und sagt der kleinen Corally tausend schmeichelhafte Dinge. Er will damit niemand gewinnen, es ist der notwendige Ausdruck seines heiteren Herzens, seiner warmen Menschenliebe, aber er nimmt jedermann ein. Mucius, bloß mit seiner Liebe beschäftigt, hat in dem Herzen unserer Reisegefährten nur den zweiten Rang, ja in Humphrys Augen begegne ich sogar zuweilen einem zweideutigen, vorwurfsvollen Blicke. Er ist wohl, nach und nach, von seinem ersten Gedanken zu Corallys Voraussetzung übergegangen, und dies muß dem ehrlichen Kerl wehe tun, welcher sich gewöhnt hatte, mich im stillen als die Braut seines Herrn zu betrachten. Sein stummer Vorwurf erinnert mich oft mit einiger Ängstlichkeit an Ellison, welcher jetzt meinetwegen die Meere durchkreuzt. Was wird der gute William sagen, wenn er zurückkehrt? Zwar spricht [157] mein Gewissen mich frei, ich habe ihn nicht getäuscht, aber ich habe nicht jede Hoffnung in ihm niedergeschlagen und werfe mir jetzt fast die kleinste freundschaftliche Äußerung vor, welche mein dankbares Herz für ihn gezeigt hat; auch fürchte ich die unangenehmen Empfindungen seiner Familie, deren Güte ich mit getäuschter Hoffnung lohnen muß. Mein Glück wird nicht eher ganz rein sein, als bis bei diesen guten Menschen wieder Zufriedenheit herrscht. Mucius nimmt die Sache leichter, wie wohl meistens die Männer. »Konnte William die Vergänglichkeit der Liebe hoffen?« spricht er, »begriff er das Herz meiner Virginia so wenig? kennt er über haupt wohl die wahre Liebe? Wer die frühere Neigung eines anderen zu überwinden hofft, muß auch auf die Überwindlichkeit der seinigen schließen. Und seine Eltern? Du lohnst ihnen Gastfreundschaft mit Dankbarkeit und kannst jeden Aufwand vergüten, welch ein Recht haben sie zu höheren Forderungen?« Wenn der Geliebte so tröstend spricht, kann meine Vernunft nichts dagegen einwenden, aber mein Herz hört doch nicht auf, etwas ängstlich zu schlagen, und ich sehe es recht gern, daß unsere Reise sich noch länger verzögert.


Wir sind bis zum Fort Niagara in kurzen Tagereisen, meist zu Fuß, gelangt. Hier haben sich Mucius und Pinelli beritten gemacht, ihren Führer verabschiedet und neue Lebensmittel eingehandelt. Dann sind wir bis zum See Ontario hinaufgezogen und haben auf mehreren herrlichen Pflanzungen verweilt. Heute sind wir bis Woodhouse zurückgekehrt, wo wir mit lauter Freude empfangen wurden und, auf inständiges Bitten der Familie, zwei Rasttage halten werden. Diese einzelnen Niederlassungen haben einen unbeschreiblichen Reiz für uns, besonders für Mucius, welcher sich, seit den neuesten Umwälzungen in unserem Vaterlande, mit dem Zeitgeiste von Europa entzweiet hat. Schon malen wir uns, mit wahrer Liebe, das Bild einer einsamen Kolonie aus, welche bei aller Geisteskultur der [158] gebildeten Welt doch die ganze Einfachheit der Sitten des Goldenen Zeitalters bewahrt. Pinelli ist unerschöpflich an neuen Einfällen und Entwürfen für diesen unsern Lieblingsgedanken, welcher leicht in Wirklichkeit verwandelt werden könnte, wenn wir noch einige gleichgestimmte Menschen träfen.

Wir begleiten hier die jüngeren Mitglieder der Familie bei ihren leichten Arbeiten. Heute abend gab uns der gute Vater vom Hause einen ländlichen Ball, wobei er die Geige mit vieler Leichtigkeit spielte. Wir tanzten sämtlich auf einem kurzen, ebenen Rasen mit gleicher, herzlicher Fröhlichkeit. Rümpfe nur das Näschen immer ein wenig, liebe Adele, über die Art unsrer Vergnügungen, ich ziehe sie euren glänzenden Hofbällen weit vor. Welch ein seliges Gefühl für mich, nichts als Mensch zu sein! Ich bin nicht mehr die Gräfin Montorin, ich bin auf ewig nur Virginia.


Philadelphia


Ich habe Dir lange nicht geschrieben, meine Adele. Desto öfter denke ich an Dich und spreche von Dir, und unsere Freundschaft leidet nicht darunter, daß Du nicht mehr meines Busens einzige Vertraute bist. Gewiß, Du freuest Dich mit Deiner sonst so verlassenen und jetzt so glücklichen, so überreichen Virginia.

Wir sind hier, nach einigen Umwegen, glücklich angekommen. Mucius und Pinelli haben eine Wohnung gemietet, und ich würde gern ein Gleiches getan haben, hätte ich nicht Ellisons dadurch noch mehr zu kränken geglaubt. Es gibt hier im Hause veränderte Gesichter, vorzüglich von seiten der Mutter, welche meine offene Erzählung mit einem ungläubigen Kopfschütteln anhörte und mit spitzen Anmerkungen begleitete. Sie hält die Begebenheit für eine offenbare Fabel und Reise und Zusammentreffen für einen heimlich verabredeten Plan, das schmerzt mich tief. Wäre nur erst William hier; was wird er dazu sagen? wird er [159] seiner Freundin mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen? Hätte ich doch erst hierüber Gewißheit! Nur Philippine ist die alte. Sie warf sich mir, mit einem Freudengeschrei, in die Arme; und als ich ihr Mucius vorstellte, hüpfte sie diesem mit kindlicher Fröhlichkeit entgegen und schüttelte ihm freundlich die Hand. Dieser findet das Mädchen so liebenswürdig als ich, und Pinelli schwört bei allen seinen mythologischen Göttern, sie sei die jüngste der Grazien. Ich fürchte sehr, er wird künftig keine andere Gestalten mehr malen wollen als ihren Nymphenwuchs und ihr liebliches griechisches Profil; auch Philippinchen sieht den muntern Jüngling gern. »Es ist ein lieber Mensch«, sagt sie ganz offen und ohne Erröten, »man sieht ihm durch die klaren Augen bis in die Seele hinein.« Nun, wer weiß, was mir auch von dieser Seite für Glück erblüht, wenn mein eigenes Schicksal nur erst entschieden sein wird.


Ein Brief von Dir, Adele, und von London? Welche Neuigkeiten, welche unerwarteten Begebenheiten! Du Arme wieder geflüchtet, wieder heimatlos? Welch ein prophetischer Geist sprach aus mir, als ich sagte, Du ständest auf einem glimmenden Vulkane!

So habe ich mich doch nicht getäuscht über die Gesinnungen meiner Landsleute; denn, was man auch sagen mag und wird, mit einigen hundert Mann erobert man kein Reich in wenigen Tagen. Auch werden die Geschichtsforscher künftiger Jahrhunderte schließen: daß, wer einen Thron zum zweiten Male besteigen konnte, bloß durch die Macht seines Namens und die Liebe seines Volkes, dieses Thrones nicht ganz unwürdig sein könne; Millionen irren nicht leicht über ihr Interesse und ihre Neigung. Wird aber der wiederauftretende Held dem allgemeinen Sturme widerstehen können, welcher sich sogleich in seiner Nähe erheben muß, ehe seine Stellung noch Festigkeit gewinnt? Ich zweifle sehr und beklage das unglückliche Frankreich. [160] Hier ist man mit den Neuigkeiten sehr zufrieden, England wird dadurch wieder in Europa beschäftigt und läßt uns in Frieden. Ich sage uns; denn welches auch immer Frankreichs Schicksal sein mag, ich kehre nimmer dahin zurück! Hier ist nunmehr mein Vaterland! mit ihm, dem Lande der Freiheit, kann sich kein europäischer Staat messen, wo dieses große Wort bedeutungslos ist. Alles, was Du mir übrigens schreibst, macht mir große Freude. Du liebst mich noch, das ist die Hauptsache. Du hast meinen Brief aus Marseille erhalten, auch den, welchen ich einem Kauffahrer am Ausfluß des Delaware mitgab, und hast Dich über mein Schicksal beruhigt. Deine gute Mutter zürnt mir nicht und hat Dir erlaubt, mir von London aus zu schreiben. Das ist viel! fast mehr, als ich hoffte. Möge doch Dein Vater lebenslang dieses strenge Stillschweigen über mich beobachten, ich werde ihn niemals an mein Dasein erinnern. Man denkt auf eine Heirat für Dich? Möge die Wahl glücklich sein, mögest Du so glücklich werden, als ich zu sein hoffe. Du gibst mir doppelte Adresse, unter welcher ich Dir schreiben soll. Das macht mir unbeschreibliche Freude, und ich danke Dir tausendmal für diese Maßregel. Nun scheint es mir, als wären wir gar nicht getrennt, höchstens nur durch Meilen, durch einige Berge, einige Flüsse. Was ist es denn mehr? Ein Schnellsegler kann Dir meine Gedanken in wenigen Wochen überbringen, und ebensoschnell kann ich Deine Antwort erhalten! Mucius grüßt Dich aufs herzlichste. Er liebt Dich in dem Bilde, welches ich ihm, immer von neuem, von Dir entwerfen muß und wozu ich jetzt oft einige Ähnlichkeiten von Philippinen borge, welche Dir wirklich, in manchen Stücken, verglichen werden kann. Auch sind es diese Ähnlichkeiten, welche mich zuerst zu dem lieben Mädchen hinzogen.


Wir leben hier ein seliges, obwohl erwartungsvolles Leben und sehnen uns von allen Seiten nach Williams Ankunft, die Mutter, weil sie für ihn fürchtet, wir andern, [161] weil wir auf ihn hoffen. Gewiß wird seine Gegenwart die Spannung lösen, welche man jetzt nur zu verbergen sucht. Philippine und Pinelli scheinen heimlich auf seine Verwendung zu rechnen. Ihre Wünsche stehn leserlich in ihren Mienen geschrieben, aber die Eltern geben sich das Ansehn, sie nicht zu verstehen; zu reden wagt niemand, Philippine ist stumm, aus Schüchternheit, wir Fremden schweigen, aus Mangel an Recht. – Die Freunde haben die Bekanntschaft zweier trefflichen Männer gemacht, eines Schweizers und eines Deutschen namens Stauffach und Walter, und auch diese bei uns eingeführt; beide gefallen uns sehr. Der erste ist ein junger Apotheker, welcher aus leidenschaftlicher Liebe zur Gewächskunde einen großen Teil der südlichen Provinzen bis Mexiko durchwandert hat; der zweite stammt aus einer hannöverischen Familie und studierte in Hofwyl die Landwirtschaft, wo er mit Stauffach bekannt wurde. Seine Mutter gewann einst in einer englischen Lotterie ansehnliche, aber wüste Ländereien am Ohio. Bei der Entfernung und dem langen Kriege waren alle Nachforschungen fruchtlos. Man nannte die Besitzungen scherzend die Güter im Monde. Der Vater war tot, der Bruder blieb im Kriege, die Mutter folgte ihren Lieben in kurzem nach und hinterließ ihrem jüngsten Sohne ein kleines Vermögen nebst den Urkunden über die amerikanischen Ländereien. Walter hatte keine nahen Verwandten und keine lockenden Aussichten in den bedrängten Ländern der Alten Welt, daher nahm er sein ganzes Eigentum zusammen und folgte seinem schweizerischen Freunde lustig in die Neue. Er wurde der unzertrennliche Gefährte seiner Wanderungen und durchstreifte auf diesen auch seine Besitzungen. Ihre Lage und ihr ergiebiger Boden entzückten ihn. Sie wurden, unter Aufsicht der Ohio-Gesellschaft, verwaltet, doch nur äußerst nachlässig, da sich kein Eigentümer meldete; kaum der fünfzigste Teil war urbar, und dennoch fand er diesen schon hinreichend, seinen Unterhalt zu sichern. Er eilte, sich als [162] rechtmäßigen Besitzer auszuweisen, und denkt jetzt darauf, sich in den Stand zu setzen, dort angenehm und bequem zu leben. Diese Angelegenheit ist eine Hauptunterhaltung der jungen Männer, woran auch ich immer mehr teilnehme. Der Italiener nennt den jungen Mann scherzend bald Fürst Walter, bald Walter Robinson, Stauffach und Mucius nennen ihn nur den Penn von Kentucky.


Einige Wochen später


Große Freude! gedrängte Neuigkeiten und Begebenheiten! Was soll ich Dir zuerst erzählen? und in welcher Reihefolge? Doch mit dem, was das Herz beschäftigt, fange ich an. William ist angekommen, und ich habe Deine lieben Briefe erhalten. William ist hier, und ich atme aus voller leichter Brust. Als die Nachricht aus dem Hafen einlief, der »Washington« gehe vor Anker, erblaßten wir alle, und mein Herz schlug kaum hörbar. Doch als der edle Mensch, mit seiner festen Haltung, ins Zimmer trat und sein freundliches, Zutrauen forderndes Auge auf mich warf, da war plötzlich meine Ängstlichkeit verschwunden, und ich eilte ihm mit schwesterlicher Zärtlichkeit entgegen. Er bewillkommte mich mit seiner alten Herzlichkeit; sein Blick ruhete lange auf mir und überflog dann die kleine Versammlung. »Ich finde Sie so glücklich wieder«, sagte er, »wie meine Freundschaft es nur wünschen konnte; Ihre Gesundheit scheint auf Ihrer Reise viel blühender geworden, und der Kreis Ihrer Freunde hat sich angenehm vermehrt.« – »Ich habe den ältesten wiedergefunden«, erwiderte ich, und in demselben Augenblicke warf sich Mucius an seine Brust und bat mit seiner rührenden schönen Stimme: »O lassen Sie mich auch der ihrige werden, edler Mann.« William war betroffen, aber bald fragte er: »Mucius?« –

»Er ist's! mein verlorener, wiedergefundener Mucius«, rief ich. Er blickte von ihm auf mich; ein leichter Krampf zuckte um seinen Mund, und eine Blässe überflog plötzlich [163] sein Gesicht, doch mit schnellem Übergange schoß der gehemmte Blutstrom verdoppelt in seine Wangen; er schloß uns beide zugleich, mit Heftigkeit, in seine Arme und rief: »Willkommen an dem Herzen eures Bruders!« Dann grüßte er die übrigen und beantwortete die Fragen seines Vaters mit der gewohnten Klarheit und Ruhe. Die Mutter betrachtete ihn oft unvermerkt von der Seite und schüttelte heimlich den Kopf, doch schien auch sie froh, daß der gefürchtete Augenblick vorüber war. Nun ging es an ein Erzählen und Erkundigen, daß die Mitternacht ganz unbemerkt über unsre Versammlung hereinbrach. Im ganzen hörten Mucius und ich nichts Unerwartetes. Daß ein einziger Schlag entscheiden würde, hatten wir freilich nicht voraussehn können; wenn es aber doch so enden mußte, so war es gut für Frankreich, daß es schnell endete. Der Held des Trauerspiels wird hier sehr verschieden beurteilt. Bei Extremen, denke ich, liegt die Wahrheit ziemlich in der Mitte, die Zeit, das Endurteil zu sprechen, ist noch und lange nicht erschienen. Der Ort seines künftigen Aufenthalts interessiert mich sehr, ich kenne die glückliche Insel. Oh, könnte ich ihm meine Ruhe geben, er würde dort glücklich leben! Freilich macht der Gedanke, gefangen zu sein, eine Änderung; aber auch in Fesseln ist der Weise frei, und ein königlicher Gefangener gebietet seinen Wächtern.


Wie sehr die neuesten Begebenheiten Europa erschüttern, davon spürt man hier besonders die Wirkungen an dem Heere der Ausgewanderten, welche in den hiesigen Häfen landen. Wie die Möwen beim drohenden Sturme an das Ufer eilen, so verlassen die Menschen den gärenden Weltteil und fliehen zu unseren Friedensküsten. Auch Ellisons Schiff hat interessante Flüchtlinge an Bord genommen, während es in einem niederländischen Hafen ankerte; einen deutschen Mechaniker namens Frank nebst Frau und zwei Schwestern, einen Baumeister aus Verona, einen [164] florentinischen Arzt mit seiner Schwester und einen niederländischen Kunstgärtner mit seiner Frau, sämtlich gebildete Menschen, jung und lebensfroh, welche hier ein besseres Fortkommen und ein freieres Dasein suchen. Die lange Reise hat sie mit William eng befreundet, welchem besonders die Mädchen mit unschuldiger Freundlichkeit entgegenkommen. Er zeichnet darunter die jüngste der deutschen, mit einigem Wohlgefallen, aus. Philippine ist innig vergnügt über diesen Zuwachs unserer weiblichen Gesellschaft und macht die Wirtin mit so vieler Anmut, daß die Fremden sich schon ganz einheimisch finden.


Seit gestern abend ist unser munterer Kreis etwas verstört durch die Unpäßlichkeit des Vaters Ellison. Die Symptome sind bedenklich, unser Florentiner fürchtet das gelbe Fieber und ermahnt uns alle, einen andern Aufenthalt zu wählen, er selbst weicht nicht von dem Kranken, hat aber um den Beistand des Hausarztes gebeten. Die Gesellschaft versammelt sich jetzt auf dem Landhause. Ich werde die Nacht in der Stadt zubringen, um Philippinen abzulösen, welche, nebst der Mutter, die vorige Nacht durchwacht hat. Mucius und William wollten mich daran verhindern, ich stellte ihnen aber vor, wie oft der eine den Schlacht-, der andere den Seesturm bestanden, mit fester Treue in ihrem Beruf. »Des Weibes Beruf ist, am Krankenbette Pflege zu leisten«, setzte ich hinzu.


Die Lage wird gefährlicher. Das gelbe Fieber ist nicht mehr zu bezweifeln; auch die Mutter hütet das Bett. Das Haus ist gesperrt, die Gemeinschaft mit dem Landhause ist gänzlich aufgehoben, wozu ich freiwillig das meiste beigetragen habe. Wie könnte ich Mucius, Philippine und William in Gefahr wissen! Ich habe den ersteren in einigen Zeilen beschworen, die Geschwister mit Gewalt zurückzuhalten, wie es selbst die Eltern wünschen; über mich mag die Vorsicht walten. Sollte mich die Krankheit ergreifen, [165] so konnte dies schon bei der ersten Nachtwache geschehen; aber ich hoffe auf meinen Mut und vernachlässige keines der Mittel, welche mir Salvito, der Florentiner, empfiehlt. Dieser hält treulich mit mir aus. Das Studium seiner Kunst verdrängt bei ihm jede andere Rücksicht; mich beseelt Dankbarkeit und Freundschaft, ich kann die guten Alten nicht unter fremden, bezahlten Wärtern wissen und teile meine Pflege zwischen ihnen. Ihr zufriedenes Winken, sooft sie zum Bewußtsein kommen, lohnt mir dafür.


Es ist vorüber. Dieses Übel endet schnell. Armer William! arme Philippine! verwaist, ganz verwaist! mein Herz blutet mit. Ach, ich habe ihren Schmerz empfunden! Sie sind um vieles glücklicher, als ich es war, sie trauern gemeinschaftlich.

Noch immer bin ich die Schaffnerin dieses verödeten Hauses, welches kein fremder Fuß zu betreten wagt. Heute, in der Stille der Mitternacht, werden Salvito und ich die dichtverschlossenen Särge der verstorbenen Gatten zur Gruft geleiten. Verhüllte, scheue Leichenträger werden die einzigen Begleiter sein und John, der treue John, welchen nichts abhalten konnte, seinen Wohltäter noch einmal zu sehen. William hat auch zu uns gewollt, aber man hat es verhindert. Philippine liegt krank, wie mir John sagt, Gott verhüte, daß sie schon von dieser fürchterlichen Krankheit ergriffen ist, deren Ausbreitung die Gesundheitspolizei, mit großer Wachsamkeit, zu verhindern strebt. Morgen werden wir auf dem Hofe des Hauses das sämtliche Mobiliar, mit Wäsche und Kleidungsstücken, verbrennen. Ich werde ein Bad nehmen und mich unmittelbar darauf in frische Wäsche und Kleider hüllen, welche man mir von außen reichen wird. Dann verlasse ich dies traurige Haus des Todes, um wieder aufzuleben in den Armen der Liebe und den leidenden Freunden beizustehn; Salvito und John werden mich begleiten.


[166] Vom Landhause, nach 14 Tagen


Alles ist glücklich überstanden. Trotz der beobachteten Vorsicht war ich doch nicht ohne Besorgnis für meine Lieben und näherte mich ihnen, nur auf einem weiten Umwege, längs den Ufern des Delaware. Aber wir sind sämtlich gesund geblieben, und Philippinens Krankheit war nur eine Wirkung ihres bewegten Gemüts, über welches die Zeit und des Freundes Trost schon einige Macht gewinnen. Wir trauern gemeinschaftlich über den Tod des gastfreundlichen Paares, dessen kleine Schwächen mit der irdischen Hülle abgelegt wurden. Glücklich preisen wir ihr Los, daß sie, nach langer Vereinigung, fast zugleich und so schnell die Erde verließen. Jeder von uns wünscht, so dereinst mit dem Gefährten seines Lebens, Hand in Hand, die große Reise anzutreten.


Wir haben uns hier förmlich miteinander eingerichtet, eine kleine freundliche Kolonie, und es ist uns ganz undenkbar, uns wieder voneinander zu trennen. Der Plan, mit Walter an den Ohio zu ziehen, gewinnt immer mehr Festigkeit; selbst Ellison will sein und seiner Schwester Vermögen aus der Handlung nehmen und uns begleiten. Die Männer gedenken noch in diesem Herbst eine Reise dahin zu machen und das Nötige zu ordnen. Wir zärtlichen Dulzineen werden ihre Rückkunft mit Sehnsucht erwarten, denn unsre Herzen stehen sämtlich unter Amors Macht, und der Frühling wird mehr als ein Eheband knüpfen. Philippine und Pinelli werden Mucius und mich zum Altar begleiten, wahrscheinlich auch William und die sanfte Marie Frank; Salvito wirbt um Therese Frank, und Antonio, der Veroneser, scheint die schöne Florentinerin Rosalva zu lieben. Noch ein liebendes Paar ist, seit einigen Tagen, zu uns gekommen: Dupont, ein Franzose, ist mit seiner jungen Braut hierher geflüchtet, um ein Bündnis zu schließen, dem in ihrer Heimat große Hindernisse im Wege standen. Er ist Protestant, und die beginnenden Verfolgungen [167] seiner Glaubensgenossen drohten ihn auf immer von seiner katholischen Geliebten zu trennen. Welch ein Verein von jungen, muntern Kolonisten! Noch nie ist wohl ein kleiner Staat unter so günstigen Vorbedeutungen gegründet worden.


Die kühlere Herbstluft hat den Fieberstoff zersetzt, und die Besorgnis einer allgemeinen Ansteckung ist verschwunden, es zeigt sich keine Spur mehr davon. Unsre Geliebten sind abgereist, von John und seinen Söhnen begleitet, Humphry ist zu unsrem Schutze hiergeblieben. Wir verlassenen Frauen vertreiben uns die Zeit, so gut es sich tun läßt; wir gehen und fahren aus, machen Musik und arbeiten. An Stoff zur Unterhaltung fehlt es uns nicht. Die furchtsamen Weibchen zittern vor den Gefahren, welche ihre Männer in dem wüsten Lande treffen könnten, und nehmen mit ihren tausend Fragen ihre Zuflucht zu mir, ich bin ihre Heldin, die allen Mut zuspricht. Ich darf reden, meinen sie, denn ich habe ja die Gebirge durchreist, habe die Wasserfälle gesehen und die Wilden, Gazellen und Wölfe, ja selbst in einiger Entfernung einen Bären, und ich lebe noch. Was noch mehr, ich sehne mich in die Urwälder zurück, in die Freiheit des Goldenen Zeitalters. Meine Beredsamkeit reißt alles mit sich fort; man wünscht die Zeit herbei, wo der Völkerzug beginnen soll, unfehlbar geschieht dies in den ersten Frühlingstagen.


Es scheint, als ob wir auch noch ganz junge Kolonisten mitnehmen sollten. Die junge Frank und Vanhusens niedliches Weibchen sind guter Hoffnung. Wir Mädchen haben uns vereinigt, den kleinen Ankömmlingen eine förmliche Aussteuer zu bereiten, und da ist denn ein Wetteifer im Sticken, Stricken und Nähen, daß es eine Lust ist, unsern emsigen Zirkel zu sehen, welcher sich um den flammenden Kamin bildet oder um den dampfenden Teetisch. Hin und her gaukelt das freundliche Kosen, manch [168] neckendes Wort von den Lippen der schalkhaften Weibchen rötet die Wangen der Mädchen. Zephyrine, meine junge, muntre Landsmännin, vergilt ihnen Arges mit Argem und überflügelt sie oft mit ihrem Witz. Dies liebliche Mädchen hat die Neigung aller im vorzüglichen Maße. Sie nennt sich selbst unser verzogenes Kind, spielt tausend kleine Eulenspiegelstreiche, und wir lieben sie darum nur desto mehr. Sie gleicht ihrem Namensbruder, dem Westwinde, der unter Blumen spielt und Balsamdüfte stiehlt und gibt.


Freude über Freude! Unsre Ritter sind glücklich zurückgekehrt und haben die frohesten Nachrichten mitgebracht; alles ist vortrefflich gefunden worden. Ellison und Mucius haben noch einen großen Bezirk hinzugekauft, wovon der kultivierte Teil mit Walters Erbschaft zusammenhangt. John und seine Söhne sind zurückgeblieben, um über die Arbeiter die Aufsicht zu führen, wozu Walter Tagelöhner aus Louisville gedungen hat. Unser Baumeister hat die Risse zu den vorläufigen Gebäuden entworfen, und auch diese werden wir, durch den Fleiß reichlich bezahlter Handwerker, fertig finden. Dann aber werden wir aller Außenhülfe entsagen, und die junge Kolonie wird für ihre Bedürfnisse selbst sorgen. Hierzu werden alle nötigen Vorkehrungen getroffen. Alles ist voll Leben und Tätigkeit, wir alle sind nur von einem großen Gedanken begeistert. Mucius entwirft den Plan zu einem kleinen Staate, in welchem Freiheit und Gleichheit verwirklicht werden sollen; jeder Abschnitt des Entwurfs wird der Generalversammlung, in welcher auch wir Weiber eine halbe Stimme haben, vorgelegt und, nach Stimmenmehrheit, angenommen oder abgeändert, und ich denke, es wird eine Verfassung zustande kommen, woran mehrere Menschenalter nichts zu flicken finden werden. Ewig ist am Ende nichts, selbst das Sonnensystem bekommt nach Jahrtausenden einen andern Polarstern.

[169] Unsre jungen Weibchen sind von zwei muntern Knaben entbunden worden. Wir werden den Tag, an welchem ihnen Namen beigelegt werden sollen, mit der Vermählung sämtlicher Paare feiern und erwarten dazu nur die gänzliche Wiederherstellung der Mütter. Auch wir haben manches zu beschicken für den neuen Haushalt, welcher zwar sehr einfach, aber doch äußerst bequem eingerichtet wird; selbst unsre Kleidung wird gänzlich umgestaltet.

Der Mechanikus ist beschäftiget, unter den erfundenen Maschinen die zweckmäßigsten zu wählen; denn in einer jungen Kolonie allein ist es von unbestrittenem Vorteil, Menschenkraft und Hände zu ersparen. Es wird jetzt von nichts gesprochen als von Säemaschinen, Dreschmaschinen, Spinnmaschinen, Webemaschinen usw. Auf der andern Seite zieht Walter Erkundigungen ein, wo die besten Arten des Rindviehes, der Schafe usw. zu haben sind. Vanhusen handelt Sämereien, Setzbäume und Pfropfreiser ein. Johns ganze Familie (meine Corally ist verheiratet) nebst noch zwei Schwägern und ihren Kindern rüsten sich zum Aufbruch und werden uns begleiten, sechzehn Neger und Negerinnen, die Kinder ungerechnet. Sie werden ein Dörfchen in der Nähe des unsrigen beziehen und uns beim Feldbau zur Hand gehen, auf welchen sich die meisten vollkommen verstehn. Daneben werden sie hinreichende Ländereien und Vieh erhalten und überhaupt so gesetzt werden, daß sie, als wohlhabende Grundbesitzer, fast uns gleich leben können. Unter den scharenweise ankommenden deutschen Ausgewanderten haben Walter und Frank zehn tüchtige und wackere Handwerker ausgewählt, welche mit ihren Familien gleichfalls ein Dorf in unsrer Nähe, Landeigentum und vorteilhafte Bedingungen erhalten. Mit ihnen sowohl als mit den Negern sind Verträge auf zehn Jahre geschlossen, und ich hoffe, sie werden, nach ihrem Ablaufe, von beiden Seiten gern verlängert werden.

[170] Schon scheint die Sonne wärmend auf das junge Jahr, die Tulpenbäume in unsren Gärten treiben mit den Tulpen der Beete um die Wette, und die geselligen Sangvögel kehren aus den wärmeren Zonen unter unsre Zederngebüsche zurück. Morgen ist die große Feier der Hymenäen; morgen vereint mich ein öffentlicher Schwur auf ewig mit meinem Mucius. Oh, könntest Du uns heute sehen, an diesem Tage der seligen Vorfeier! Jedes Auge glänzt noch einmal so hell, jede Rede klingt gleich einer Jubelhymne. Die ganze Versammlung scheint ein wenig närrisch. Pinelli und Philippine, Dupont und Zephyrine, Salvito und Therese tanzen um die Wette, Antonio und Rosalva verstecken und suchen sich durch alle Lauben, während William und seine sanfte Marie, Walter und sein Freund, der Schweizer, mit einem Paar schöner Mädchen, den Jugendgespielinnen Philippinens, sich, innerer Seligkeit voll, die Hände drücken und schweigend in die blauen Augen schauen. Von mir und Mucius müßte ich eigentlich auch sprechen, meinst Du? Je nun, liebe Adele, uns wird unser Schellenkäppchen auch nicht fehlen, wir bemühen uns nur, es mit Anstande zu tragen, wie es so alten Liebesleuten geziemt. Die Stürme des Schicksals haben ihr mögliches getan, einen Teil des Blütenstaubes von den Schmetterlingsflügeln unsrer Liebesgötter abzustreifen; an dem Lächeln der Ehepaare sehe ich jedoch, daß die losen Buben überall hervorgucken. O könntest Du mir doch den Brautkranz winden, meine traute Adele! Mucius übernimmt es an Deiner Statt, jeder Verlobte flicht ihn der Verlobten. Lebe wohl, Du Freundin meiner Kindheit! zum letzten Male schreibt Dir das Mädchen Virginia, das nächste Mal Mucius' Gattin.


Wir rüsten uns zur Abreise. Alle verlassen diese gastliche Gegend ohne die leiseste Reue. An der Hand des Geliebten wandelt man ja freudig zur Unterwelt, um wieviel lieber also einem stillen Paradiese entgegen, wie wir es [171] zu finden hoffen. Selbst Walters und Stauffachs Gattinnen, Fanny und Lucia, verlassen ihre Verwandten ohne Schmerz. In ihren Familien ist diese Trennung nichts mehr, als wenn man bei Euch von Lyon nach Avignon zöge. Die Wanderungslust ist hier überhaupt fast ansteckend. Der Amerikaner hangt bei weitem nicht so fest an der Erdscholle, auf welcher er geboren wurde, als der Europäer und liebt die Ortsveränderung. Ob dies in allen Kolonien der Fall sein mag, oder ob es der Reichtum des Bodens ist, welcher die Ansiedler so mächtig nach dem Innern zieht? Häufig verlassen sie ihre mühsam angebaueten Pflanzungen nach wenig Jahren und suchen weiterhin einen fetten Erdstrich, wo sie mit gleicher Anstrengung einen neuen Anbau beginnen. Selbst die Pflanzer auf unsern nunmehrigen Besitzungen haben diese mit Freuden verkauft, um sich in Louisiana und an dem Missouri anzusiedeln, mitten unter wilden, kriegerischen Stämmen. Ob dieser Geist sich auch unsrer jungen Kolonie bemächtigen wird? Ich glaube, nein. Wir werden glücklicher sein als diese vereinzelten Pflanzer, und unsere Kinder werden den Boden lieben, wo sie ihre glückliche Kindheit durchspielten; wir werden eine Verfassung haben und Vorteile genießen, welche man außer unsern Grenzen vergebens suchen würde.


Du kennst unsere fröhliche Gesellschaft, welche sich in Marsch gesetzt hat. Wahrlich ein Völkerzug. Sämtliche Männer zu Pferde, die Frauen und das Gerät, Proviant und Maschinen auf sechzehn Wagen, die Herden unter Leitung der Neger. Unsere Handwerker bestehen in einem Schmied, Stellmacher, Zimmermann, Tischler, Schuhmacher, Töpfer, Glasmacher, Kupferschmied, Leinweber und in einem Tuchweber, sämtlich verheiratet und zum Teil mit halberwachsenen Kindern; alles rüstige Menschen, welche auch bei dem Feldbau von Nutzen sein werden. Humphry woll te sich durchaus nicht von seinem Herrn trennen und wird sich bei uns ansiedeln, wo er dann unter einigen hübschen [172] deutschen Mädchen die Wahl haben wird. Wir gehen durch Virginien und am Fuß der Gebirge hin. Die Weideplätze für unser Vieh bestimmen unsern Weg, weshalb wir die Städte und auch größtenteils die Pflanzungen vermeiden, wo das Eigentumsrecht uns Streitigkeiten zuziehen könnte. Um frischen Proviant einzuhandeln, werden Seitenpatrouillen abgeschickt, das meiste verschafft uns die Jagd. Wir lagern unter freiem Himmel, welches ich schon von meiner Reise her sehr gewohnt bin, meinen Gefährtinnen aber anfangs sehr sonderbar vorkam. Zephyrine nennt uns nicht anders als die Zigeunerhorde und Mucius den Hauptmann. Sie ist äußerst drollig, wenn sie abends um die Feuer hergaukelt und, in ihrem angenommenen Zigeunercharakter, uns allen wahrsagt. Am possierlichsten ist es dann, wenn sie unter die Deutschen gerät, welchen sie sich nicht verständlich machen kann und von welchen sie kein Wort versteht. Oh, wie schön ist hier die Natur! Die Tulpenbäume stehen in voller Blüte, neben ihnen die zarte Akazie mit ihren weißen, duftenden Blütenbüscheln; der schattende Plantan und sein Bruder, der Zuckerahorn, schützen uns gegen die Strahlen der brennend heißen Sonne; Jasmin, Geißblatt und Rosen bilden Lauben und Wände und erfüllen die Luft mit Balsamdüften; die Höhen sind mit Zedern, Tannen und Eichen bekränzt, überall vermählt sich der Norden mit dem heißeren Süden. Wie wird es sein in unserem lauen Tale am schönen Ohio! Wir werden auf Louisville gehen, um uns noch mit einigen Bedürfnissen zu versehn; dann geht's nach Eldorado, wie wir unsere Landschaft getauft haben, um es nimmer wieder zu verlassen. Möchte es doch, wie jenes Eldorado des Candide, jedem Fremden unauffindbar sein! Zwar wird er dort keine Goldstücke, keine Rubinen zu entwenden finden, aber er würde die Ruhe und den Frieden unterbrechen, welche dort ihren Wohnsitz aufschlagen werden. Fern von dem unruhigen Treiben der Welt werden unsere Tage dahinfließen, wie der Wiesenbach, dessen Wellen kein Sturm [173] empört; kein Ehrgeiz, kein Gelddurst wird unsre Herzen bewegen, welche nur für die Liebe und die sanften Gefühle der Freundschaft schlagen; politische Meinungen werden uns so fremd sein als Religionsstreitigkeiten; keine Modetorheit wird uns berühren, kein Richter Streitigkeiten veranlassen, kein Fürst Befehle erteilen, kein Priester unsern Glauben meistern. Das goldene patriarchalische Dasein hebt für uns an, wo alle Menschen Brüder waren; und welchen Schatz von Kenntnissen und Fertigkeiten nehmen wir mit in dieses Leben hinüber! Wie doch so anders muß es sich gestalten als in jener Urzeit menschlicher Kindheit.


Eldorado, im Junius 1816


Angelangt sind wir in Edens blühendem Garten. Kein erzürnter Engel wehrte uns den Eingang; freundlich wurden wir von dem Grenzgott, freundlich von den friedlichen Laren empfangen. Wir mußten den Kentucky hinaufgehen, bis fast zu seinem Ursprung, um einen Übergang zu finden in unser Paradies. Sehnsüchtig blickten wir hinüber, wie einst die Kinder Israel nach den blauen Bergen, welche sie noch von dem glückseligen Arabien trennten. Zephyrine verglich uns hundertmal mit ihnen und Mucius mit ihrem Führer und Gesetzgeber. In ihrer fröhlichen Laune, reich an Anspielungen und Gleichnissen, nannte sie Walter und Stauffach Josua und Kaleb, welche uns die goldene Traube gezeigt, damit wir geduldig durch die Wüste folgen möchten, wie die Rinder dem salzspendenden Hirten; die Deutschen, meinte sie, wären die ägyptischen Ziegelstreicher und Fronknechte, welche durch den langen Zug erst geläutert werden müßten und würdig gemacht zur Gründung der neuen Kolonie. Nur bat sie, daß die Prüfungszeit nicht auf vierzig Jahre ausgedehnt werden möge, weil sie noch wünsche, im Gelobten Lande um den Bundesaltar zu tanzen, ehe sie Runzeln habe und der Krücke bedürfe.

Endlich fuhren wir durch den Fluß und, nach einer[174] Tagereise, über eine Hügelkette von ziemlicher Höhe. Auf der Spitze des letzten Berges rief Walter: »Wir sind am Ziel!« Und zu unsern Füßen lagen weithin die grünen beblümten Savannen, wie ein gestickter Teppich, welchen links ein dunkler Urwald, rechts der blaue Kentucky mit seinen Silberpappeln und babylonischen Weiden besäumt. Ein allgemeiner Freudenruf tönte durch die Lüfte; wir sprangen alle zu gleicher Zeit auf und liefen mit ausgebreiteten Armen jauchzend den Berg hinunter. Hier, auf der Grenze unsres Gebietes, fielen wir alle, mit namenlosem Entzücken, auf den heiligen Boden nieder, wie vom Sturm verschlagene Seefahrer am Ufer eines wirtbaren Eilandes. Wir umarmten die Pflanzen, umarmten einander, die Busen schlugen hochauf, und Tränen der süßesten Freude träufelten auf die Blumen herab. Es dauerte lange, ehe dieser selige Rausch sich in Betrachtung der neuen Gegenstände auflöste. Selbst die kältern Deutschen, selbst die ungebildeten Schwarzen teilten diese schwärmerische Freude, sie umarmten einander und uns. Dieser Augenblick machte uns zu einem Volke, aller Unterschied der Farbe, der Heimat, der Bildung war vernichtet, wir wurden alle Brüder, mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten.

Nun ging der fröhliche Zug längs dem Kentucky hin, welcher geraume Zeit unser Wegweiser blieb. Erst am folgenden Morgen verließen wir seine reichen Ufer, um durch einen Ahornwald einen nähern Weg zu unsern Wohnungen zu nehmen, welche wir im letzten Schimmer der Abendsonne vor uns liegen sahen; Du kannst daraus auf die Größe unseres Gebietes schließen. Es wird gegen Norden vom Kentucky, gegen Westen vom Ohio, gegen Süden vom Schawanoe begrenzt, im Ostnord schließt eine Hügelkette, an welche sich eine undurchdringliche Waldung lehnt, in welcher noch nie der Schall einer Axt gehört worden und deren Alter vielleicht bis zur jüngsten Umgestaltung der Erde hinaufreicht. Ganze Baumgeschlechter gingen hier unter, und neue wuchsen auf ihren Trümmern stark und [175] frisch empor. Unser Wohnort liegt am Schawanoe, unweit seines Einflusses in den Ohio, den schönen, welcher mit Recht diesen Namen führt; es ist eine lachende Ebene, deren Fruchtbarkeit jede Beschreibung übertrifft. Freundliche Gebüsche wechseln mit den grasreichen Matten, und bepflanzte Hügel durchlaufen die Ährengefilde. Jenseits des Ohio erhebt sich ein dichtbewachsener Gebirgsrücken, welcher uns gegen den Nordwestwind schützt und viel zur Milde unsres Klimas beiträgt. Als einzelnes, abgetrenntes Überbleibsel dieses Gebirges lehnt sich ein einzelner Fels an den Schawanoe und reicht bis zu unsern Wohnungen, deren Lage er einen malerischen, romantischen Anblick gibt. Wir waren alle davon ergriffen, ganz besonders aber Pinelli, welcher nicht müde wird, die verschiedenen Ansichten zu zeichnen. John und seine Söhne empfingen uns mit hoher Freude. Die notwendigsten Arbeiten waren vollendet und die Arbeiter schon seit einigen Tagen entlassen worden. So sahen wir denn nur lauter wohlbekannte Gestalten und hatten nichts kennenzulernen als die bleibenden Gegenstände. Kein Abschied soll in diesem glücklichen Erdstrich gehört werden als einst der Abschied zur Reise in ein noch schöneres Land.


Mit freudiger Rührung führten die Männer jede Familie in ihr blütenumranktes Haus. Hier zündeten wir ein kleines Feuer in dem Kamine an, warfen Weihrauch in die gastliche Flamme, umarmten uns, dankten laut dem Schöpfer der Welten für dies kleine Asyl und flehten ihn, uns hier lange und glücklich vereinigt zu erhalten. Dann traten wir alle aus unsern Hütten und gingen vereinigt zu der großen Halle, welche die gemeinschaftliche Küche und den Versammlungssaal enthält. Auf dem Herde wurde das Feuer entzündet, Weihrauch und Mais hineingestreut und weihend der Herd mit Milch und Wein besprengt. Nun wurde das Mahl gemeinsam bereitet und gemeinsam an der langen, mit Blumen bestreueten Tafel verzehrt. Der Mond blickte [176] hell durch die offenen Fenster und leuchtete uns erst spät zu unsren verschwiegenen Hütten. Mit der Sonne dem Lager enteilt, kleidete sich jeder, nach Übereinkunft, in die gewählte Landestracht. Die Männer tragen lange, weite Beinkleider aus baumwollenem Zeuge, Weste und Hemdsärmel, an den Füßen kurze Schnürstiefel, ohne Strümpfe, auf dem Kopf einen leichten Strohhut. Wir Frauen hingegen ein weißes kattunenes Hemd mit offenen Ärmeln, welches bis an die Knöchel reicht und die Brust bis drei Finger breit vom Halse bedeckt, darüber ein farbiges griechisches Gewand ohne Ärmel, nur bis über das Knie herabfallend und unter dem Busen gegürtet; das Haar wird geflochten, und gegen die Sonnenstrahlen schützt ein Strohhut; die Fußbekleidung ist für beide Geschlechter gleich. Diese einfache Tracht wird unabänderlich die unsre sein und soll der Mode auf ewige Zeiten den Eingang verwehren. Bei Regen oder rauher Witterung werden beide Geschlechter einen Tuchmantel tragen und bei schmutziger Arbeit einen Überwurf aus grauer Leinwand. Du glaubst nicht, wie unbeschreiblich reizend diese neue griechische Kolonie sich ausnahm, als sie durch das rötlich besonnte Tal, mit Blumenkränzen in den Händen, zur Tempelweihe zog.

Glänzend in der Morgensonne, lag auf einer sanften Anhöhe der heitere Tempel vor uns. Stufen führen ringsum zu ihm hinauf, zwölf Säulen tragen die einfache runde Kuppel, keine Wände wehren dem Lichte; in der Mitte steht der Altar, rund wie das Gebäude, mit der Inschrift: Dem Unbegreiflichen, Ewigen, Einzigen; ein breiter Marmorrand schließt oben die Vertiefung ein, wo die Opferflamme lodert. Hier hingen wir unsere Kränze an dem Altar und den Säulen auf, Mucius zündete das Feuer an und sprach: »Wir weihen diesen Tempel dem Ewigen, dem Schöpfer und Regierer des Weltalls, der in jeder Menschenbrust wohnt! Ihm weihen wir unsere Herzen! Wir erkennen, daß menschliche Vernunft sich nicht bis zu ihm erheben kann, sowenig als wir uns von der Ewigkeit und Unendlichkeit [177] einen klaren Begriff zu machen vermögen, daß also die verschiedenen Vorstellungen und Mythen der Völker menschliche Erkenntnisse sind und mehr und minder irren, daß aber in allen eine und dieselbe Wahrheit herrscht. Er ist unser Schöpfer und Erhalter, der Geber alles Guten, ihm sind wir Dankbarkeit und Ergebung schuldig.« Wir knieten alle um die heilige Flamme, und im stillen, heißen Gebet erhoben sich unsre Herzen zum Ewigen. Fröhlich kehrten wir zurück zum einfachen Frühmahle. Dann durchgingen wir unsere nächsten Umgebungen, ein wahres Paradies, in welchem sich fast alle Zonen des Erdkreises zu verbinden scheinen. Italiens Orangenbäume duften dicht neben den deutschen Eichen; die Dattelpalme Asiens und der südliche Kokos verschmähen die Nachbarschaft der nordischen Tanne nicht, und Libanons Zeder prangt neben den heimischen Tulpenbäumen, Zypressen, Lerchenbäumen und Pappeln; Ahorn, Buchen, Platanen und die weiße Birke, der Sumach und die Tamarinde, Kastanien-, Nuß- und Mandelbäume stehen einzeln und gemischt in malerischen Gruppen. Alle Obstarten der bekannten Welt gedeihen hier in einem hohen Grade der Veredelung. Kirschen, Aprikosen, Apfelsinen, Pfirsichen, Pflaumen, Birnen, Äpfel, Pisang und Bananen gibt es in großer Menge; Stauden- und Rankengewächse, voll Blüten und Beeren, laden alle Sinne zum Genuß. Myrten und Rosengesträuche bilden die Hecken um die umhegten, mit Sorgfalt angelegten Pflanzungen, wo Vanhusen die köstlichsten Ananas und Melonen zieht. Auch den Kaffeebaum und die chinesische Teestaude hat der Mühsame hierher verpflanzt, und es ist Hoffnung zu ihrem Gedeihen. Der Mais steht mit seinen breiten Blättern in Manneshöhe da, und das wallende Korn neigt die schweren Ähren zu Boden. Kartoffeln und Yams wetteifern an Ergiebigkeit; die Baumwollenstaude, Lein und Hanf streiten um den Vorzug; auch die feineren Gemüse fehlen nicht, und was mich vor allem entzückt, ich habe den Öl- und den Maulbeerbaum meiner Provence und die köstlichsten [178] Rebenhügel wiedergefunden. Wir könnten hier ebenso wie Moses' erste Menschen ein Leben ohne Mühe und Arbeit führen; für alle unsere Bedürfnisse hat die überreiche Natur im Überfluß gesorgt. Die Dattel, der Kokos, die Kartoffel, die Yams, die Kastanie würden uns nie Mangel leiden lassen; die saftigsten Früchte wachsen ohne Pflege, der Zuckerahorn und die Palme bieten ihren süßen Saft, der Schawanoe führt die schmackhaftesten Fische und Krebse, die Herden und das Geflügel suchen und finden leicht ihre Nahrung, und die Wälder wimmeln von Wild.


Das wahre Glück kann nur bei den Tätigen wohnen, und das wohltuendste Gefühl ist das Gefühl des erfüllten Berufs. Wir haben daher unsre Zeit klüglich zwischen Arbeit und Erholung und die verschiedenen Zweige der großen gemeinsamen Haushaltung wieder unter uns geteilt. Mucius, Walter und Ellison haben die Besorgung des Ackerbaues übernommen, Pinelli, Stauffach und Vanhusen warten der Baumpflanzungen, der Gartengewächse und der Rebenhügel, Salvito und Dupont führen die Aufsicht über die Herden, und Frank und Antonio sorgen für Wildbret und Fische. Die beiden Mütter haben sich das Küchengeschäft nicht nehmen lassen, die rasche Therese und ich besorgen die Milchkammer, Zephyrine und Philippine den Hühnerhof, Rosalva und Fanny sammeln die Früchte ein, und die Bereitung der Baumwolle, des Leins und Hanfs steht unter Mariens und Luciens Aufsicht. Jeder ist nach seiner besondern Neigung und Fähigkeit angewiesen, und hüpfend und singend wird die leichte Arbeit vollbracht. Die neuen Maschinen, über deren Verbesserung und Vermehrung Frank, Walter und Antonio vieles beraten, haben die meisten Geschäfte weniger beschwerlich gemacht. Die verschiedenen Arten der Pflüge machen die Hacke fast entbehrlich, und an Zugstieren haben wir Überfluß.

Mein Milchgewölbe ist in einer Felsengrotte, durch welche eine immersprudelnde Quelle sich ergießt. Bei der [179] jetzigen Hitze stellen wir die Gefäße mit Milch auf vierundzwanzig Stunden in den flachen Bach, um dadurch das zu schnelle Gerinnen zu verhüten. An einer tieferen Stelle desselben werden die leeren Gefäße gespült, nachdem sie zuvor in heißem Wasser gereinigt sind. Wenige Schritte davon bildet der Bach einen Wasserfall, welchen Frank zur Treibung eines Rades benutzt hat und dadurch die Buttermaschine in Bewegung setzt. In diesem wird auch die Butter gewaschen, dann unter eine Presse gebracht und, mit einem kammähnlichen Instrumente, von allen Fasern gesäubert. So ist die Mühe nicht groß, mit welcher wir die köstlichste Butter bereiten. Auch für das Käsestellen, -schöpfen und -pressen sind leichte Vorrichtungen erfunden. Nichts gleicht dem Wohlgeschmack unseres Milchwerks und unserer Käse, und Therese und ich freuen uns nicht wenig, wenn bei dem Frühstück alle in laute Lobeserhebungen darüber ausbrechen. Die Herden werden von den Negern mit den ihrigen gehütet, und das Milchvieh wird von den Negerinnen gemolken, dicht neben der Grotte. Stauffach und Walter versichern, daß selbst das Schweizer Vieh der fettesten Alpen nicht so viele und so gute Milch liefere als das unsere. Die Schafmilch ist ganz vorzüglich und der Ziegenkäse unübertrefflich. Dabei bedarf das Vieh das ganze Jahr hindurch keiner Wartung. Nach Johns Aussage fiel den Winter hindurch nicht ein einziges Mal Schnee, einige Regentage bildeten den Übergang der Jahreszeit, darauf folgte Reif und ein leichter Frost, dessen Spuren jedoch die Sonne schon nach wenigen Stunden verschwinden ließ. Diese Wintertemperatur dauerte kaum vier Wochen, worauf die Bäume neu trieben und das junge Gras unter dem alten hervorwuchs. Wir werden daher auch nur eine Kleinigkeit an Heu sammeln, welches sonst nie geschehen ist, um den Tieren, zur besseren Erhaltung ihrer Gesundheit, an Regentagen und wenn Reif fällt ein Morgenfutter geben zu können.

[180] Du solltest uns sehen, liebe Adele, wie nett uns die Geschäftigkeit kleidet. Wir vergleichen einander oft mit den Mädchen in der »Odyssee« oder mit Labans Töchtern, wenn wir zum Brunnen gehen und schöpfen und der Lorbeer neben uns säuselt. Zephyrine vorzüglich ist reizend in ihrem gefiederten Reiche, wenn sie mit dem Futterkörbchen hineintritt und das ganze Heer sie jubelnd umringt; Täubchen setzen sich ihr auf die Schultern, und sie koset mit allen auf das anmutigste oder tritt mit dem Ansehen einer Königin zwischen kämpfende Hähne, um sie zu trennen. Die herzige, muntere Philippine erfreut sich an dem Spiel ihrer reizenden Gefährtin, und beide tändeln in Kindesunschuld ihre Stunden hin. Die sanfte Marie und die stille Lucia sondern die Baumwolle, wenden den röstenden Lein und Hanf, bringen ihn unter die Klopf-, Schwing- und Hechelmaschinen und freuen sich schon auf die Zeit, wo er als Gewebe, unter ihrer Aufsicht, bleichen wird. Rosalva und Fanny sammeln in der Morgenfrühe Gemüse und Früchte für die Küche und gegen Abend für die Vorratsgrotte. Die Hausmütterchen bereiten das Mittagsmahl, wobei auch wir ihnen beistehen, wenn unsere Geschäfte früh vollendet sind und sie unser bedürfen. Der Mittag versammelt die ganze frohe Gesellschaft unter den dichtbelaubten Platanen um den steinernen Tisch. Die Geräte sind einfach, das Tischzeug fehlt, aber die Speisen sind trefflich bereitet. Feine Gemüse, saftiges Fleisch, herrliche Braten von Geflügel und Wild, Fischspeisen, Backwerk aller Art und ein Nachtisch der auserlesensten Früchte würden auch dem verwöhntesten Schmecker genügen. Der Becher geht umher und belebt den Scherz. Jetzt ist er noch vom mitgebrachten Vorrat gefüllt, künftig perlt eigener Wein, Palmensekt, Birk- und Ahornwasser darin; jetzo ist Milch und des Quells Kristall an seiner Stelle gesunder.

Die Nachmittagsstunden gehören der Ruhe und der Erholung. Erst wenn die Sonne tiefer sinkt und ein kühleres Lüftchen weht, widmen wir noch eine oder ein paar Stunden [181] der nötigen Arbeit. Mit ihrem Untergange hören die Geschäfte auf, man versammelt sich zur kalten Abendkost, welche aus Milch, Eiern, Butter, Käse, Honig und Backwerk besteht. Darauf wird Musik gemacht, getanzt, gespielt, bis der Mond oder die Sterne uns spät zur Ruhe leuchten. So fließen unsere Tage einförmig, aber reich an Freuden dahin. Die Einrichtung der Deutschen, wie der Neger, ist der unsrigen gleich. Mucius erwirbt sich um ihre Ausbildung ein hohes Verdienst; er hat einige Tage festgesetzt, wo er ihnen, unter der Form freundschaftlicher Betrachtung, die zweckmäßigsten Lehren gibt. Besonders sorgt er für die Erziehung der Jugend und wird eine eigene Bildungsanstalt gründen, in welcher sie für jetzt allein, künftig mit unsern Kindern gemeinschaftlich Unterricht erhalten wird. Der Lehrstunden werden nur wenige sein, und jeder der Männer wird in seinem Lieblingsfache unterrichten. Bei den Alten nehmen wir jetzt selbst in manchen Stunden Unterricht, besonders wir Frauen. Zum künftigen Winter werden wir geschickte Weberinnen besitzen. Das Material fällt uns fast von selbst in die Hand; die Schafschur ist über alle Erwartung günstig gewesen, die Baumwolle von der besten Gattung, der Lein fein und stark; Spinnmaschinen liefern das Garn. Die Witterung ist in den Sommermonden so gleich, daß die Seidenraupe im Freien fortkommt; der erste Versuch damit ist sehr genügend ausgefallen, wir haben keine andre Mühe damit, als die Kokons zu sammeln und sie unter die Haspelmaschine zu bringen.

Bei allen Arbeiten, welche viele Hände auf einmal erfordern, helfen Deutsche und Neger gemeinschaftlich mit solcher Bereitwilligkeit, daß wir ihre Dienstleistungen eher abzulehnen als zu erbitten haben. Aber auch wir helfen ihnen, wenn es not tut, und wie sie die Güter der Natur mit uns teilen, so benutzen sie auch die Vorteile unserer Maschinen- und Mühlenwerke mit demselben Rechte als wir. Wir behandeln sie als Brüder, und sie betrachten die Männer fast wie Väter.

[182] Die Getreideernte ist überreich gewesen. Die Dreschmaschinen sind im Gange, und die Kornmühle klappert, hoch aufgespeichert liegen die goldenen Kolben des Mais; die Trauben schwellen, die Äpfel röten sich und versprechen köstlichen Zider. Wir haben das Erntefest gefeiert und werden noch vor dem Herbstfeste eine Wanderung längs unserer südlichen Grenze hin unternehmen, welche die meisten der Männer noch nicht kennen. Von den Frauen haben nur wenige den Mut, uns zu begleiten, aus Scheu vor den Chickasaws und den Irokesen, welche unsere Grenznachbarn sind. Zephyrine und Philippine waren die ersten, welche sich erboten, mit uns die Gefahr zu bestehen, sie wollen ihren Hühnerhof Corallys Sorgfalt übergeben; auch die mutige Rosalva und die sanfte Marie werden sich an uns anschließen, indem die Liebe für ihren William über der letzteren natürliche Furchtsamkeit siegt. Wir werden in einer Barke den Schawanoe hinauffahren, so weit er schiffbar ist, um so auf die leichteste Art unsere Lebensmittel mitzuführen und eine Partie Tabak, welcher, beiläufig gesagt, ganz vortrefflich geraten ist, als Geschenk für die Wilden, wenn uns benachbarte Stämme begegnen sollten. Alles ist Leben und Bewegung zu dieser kleinen Ausflucht, es wird gebraten und gebacken, als gelte es eine Reise um die Welt; und doch werden wir kaum zehn bis zwölf Meilen machen, aber ganz durch Einöden und auf mancherlei Krümmungen.


Unsere Schiffahrt und unsere Wanderung sind glücklich vollendet. Ellison war auf beiden unser Führer, Marie blieb mutig an seiner Seite, John und Humphry begleiteten uns. Nach einem Wege von anderthalb Meilen floß der Schawanoe durch einen dichten Wald oder kam vielmehr aus ihm uns entgegen, und an einigen Stellen faßten blühende Wiesen die Ufer ein. Als wir gegen Abend an einer derselben gelandet waren, bemerkten wir in dem nahen Gebüsch einige Wilde; John wurde ihnen entgegengeschickt, aber die Nacht brach an, ohne daß er zurückkehrte. Wir [183] gerieten in die lebhafteste Unruhe, schliefen nur abwechselnd und wenig und erwarteten mit Sehnsucht den Morgen. Herrlich ging die Sonne über der Wildnis auf, und vielartige Papageien durchhüpften die Zweige und sonneten am Morgenstrahl ihr buntes Gefieder; für uns Unruhige ging die Schönheit dieses Schauspiels fast verloren. Endlich, nach mehrstündigem Harren und nachdem man den Saum der Gebüsche vergebens durchspäht hatte, jauchzte uns der sehnlich Erwartete aus weiter Entfernung zu. Bald wurde er, in Begleitung von wohl zwanzig Wilden, sichtbar, zu deren einige Meilen entferntem Lager man ihn gestern abend geführt hatte. Die Wilden gehörten zu dem Stamm der Chickasaws, und ihr Oberhaupt befand sich unter ihnen. John konnte sich notdürftig mit ihnen unterreden, obgleich ihre Mundart etwas von der des Stammes abwich, welcher ihn unter sich aufgenommen hat. Sie hatten die Tätowierung erkannt, welche er bei der Aufnahme erhalten, und behandelten ihn als Bruder. Wir wurden von ihnen sehr freundschaftlich begrüßt, und sie rauchten mit unseren Männern die Bundespfeife. Von ihnen erfuhren wir, daß eine Tagereise jenseits des Flusses sich Salzquellen befinden, aus welchen sie eine Menge Salz gewinnen, welches freilich noch einiger Reinigung bedarf, dann aber vortrefflich werden wird. Sie schenkten uns einen Beutel voll, und wir gaben ihnen dagegen Tabak, Backwerk und einiges buntes Töpfergerät, mit welchem Tausche sie höchst zufrieden schienen. Sie erklärten uns für viel bessere Nachbarn als die, welche mit ihnen gegen Süden grenzen, wahrscheinlich die Spanier. Von jenen, klagten sie, wären ihnen die Pocken mitgeteilt worden, welche jährlich so viele ihrer Brüder hinrafften und ihrem ganzen Geschlechte den Untergang drohten. Salvito ließ sich mit ihnen über diesen Gegenstand, mit Johns Hülfe, in ein langes Gespräch ein. Er suchte ihnen den Nutzen der Kuhblatternimpfung begreiflich zu machen und ließ sie die Narben sehen, welche wir fast alle davon an den Armen tragen. Die Sache schien [184] ihnen am Ende einzuleuchten, und auf Salvitos Zureden entschlossen sich einige der jüngern und die Weiber, welche diese Krankheit noch nicht gehabt hatten, sich impfen zu lassen. Salvito trug, aus löblicher Vorsicht, ein Gläschen mit Lymphe und das nötige Impfgerät bei sich. Ehe wir Abschied nahmen, um den Fluß weiter hinaufzufahren, versprachen wir ihnen, auf dem Rückwege hier wieder anzulegen, und ließen uns dagegen das Wort von ihnen geben, sich alsdann wieder einzufinden und sowohl alle Kinder ihres Stammes als auch die Erwachsenen, welche die Krankheit noch nicht gehabt hatten, mitbringen zu wollen. Auf unsrer Fahrt belustigte uns der Fischfang einige Stunden, auch schossen die Jäger mehrere Wasservögel; um Mittag landeten wir, das Mahl zu bereiten, und schifften erst in der Kühle des Abends weiter. Nicht lange mehr vermochte, am folgenden Tage, der seichter werdende Fluß unsre Barke zu tragen; wir verließen sie daher, verteilten die Lebensmittel und wanderten fröhlich neben dem Ufer hin. Nach Eintritt der Nacht machten wir uns das Vergnügen, bei Fackelschein Krebse zu fangen. Malerisch schön wirkte die Erleuchtung gegen die dunklen Waldgruppen, und Pinelli konnte sich nicht enthalten, das herrliche Nachtstück aufzunehmen. Der nächste Morgen führte uns einen Haufen Irokesen zu, welche der Rehjagd wegen den Grenzwald zu besuchen kommen. Ihnen hatte ehemals diese ganze Gegend gehört und war ihnen späterhin von der Ohio-Gesellschaft abgekauft worden, da ihre Bevölkerung abgenommen hatte. Sie kannten noch alle Wege durch den Wald und die Wechselplätze des Wildes; in ihrer Begleitung gingen wir ein beträchtliches Stück in diese kaum durchdringliche Wildnis hinein.


Diese Uramerikaner, welche man Wilde nennt, sind äußerst gutmütige Menschen, und ihre Sitten beschämen die der Europäer. In dem nördlichen Kanada mag die Not und die rauhere Natur sie wohl gefühlloser und roher [185] machen, doch hier trifft man nur Züge der sanftesten Menschlichkeit. In der Kultur sind sie freilich rückwärtsgegangen, wie ihre Sagen und die Denkmäler am Ohio deutlich beweisen. Schauderhafter Gedanke, wenn einst Europas Verfeinerung auch so bis auf die schwächsten Spuren verschwände! Und doch liegt in dem ewigen Wechsel der Dinge nur zu viel, was für die Möglichkeit spricht. Auch hier lebte, vor kaum dreihundert Jahren, ein großes mächtiges Volk, welches Städte und Tempel erbauete und jene befestigte, Theater und Künste besaß und selbst schon die Lapidarschrift kannte und übte. Jetzt, welch ein Wechsel! Von den Europäern und den Nachbarvölkern verdrängt, durch Schwert und Hunger, durch die Pockenkrankheit und den Genuß der berauschenden Getränke bis zu einem unbedeutenden Häufchen zusammengeschmolzen, flüchtet der Überrest, wie das gescheuchte Wild, immer tiefer in die nahrungslosen Einöden. Rührend sind die Klagen, welche durch die Gesänge, durch die Sagen dieser Völker tönen. Mit Johns Hülfe habe ich einiges von ihrer Sprache verstehen lernen. Sie erinnerten mich oft an Ossian, mit welchem ich überhaupt auf dieser Reise, in diesen ernsten Wäldern viel gelebt habe. Daheim um unsern Wohnsitz spielt das heitere, griechische Kinderleben, hier in diesen Einöden herrscht die Trauer um eine untergegangene Welt. Selbst die Vögel der Nacht stöhnen so tiefe, durchdringende, fremde Klagetöne aus, daß es mir oft wie fernes Grabgeläute klang und Zephyrine zum Rückweg trieb.

Salvito suchte sich den guten Irokesen auf alle Weise verständlich zu machen, sie über die Pocken und andere Krankheiten zu belehren und sie mit den Heilkräften in einheimischen Kräutern bekannt zu machen; er warnte sie vor dem Genuß des Branntweins mit allem Ernste und schien sie zu überzeugen. Wir selbst führten keine gebrannten Wasser bei uns, sondern nur etwas Wein, wovon wir ihnen zu kosten gaben. Sie fanden ihn nicht sehr nach [186] ihrem Geschmack, nahmen aber ein Geschenk an Tabak mit vieler Freude an. Salvito impfte einige und gab ihnen weitläufige Anweisung, wie sie, nach einer bestimmten Zahl von Tagen, den Impfstoff andern mitteilen, auf diese Weise die Lymphe erhalten und ihren Stamm gegen die Ansteckung der wirklichen Blattern sichern könnten. Sie trennten sich mit vielen Freundschaftsbezeugungen von uns, und wir kehrten zu unsrer Barke zurück. Die Fahrt hinab ging nun schneller und bequemer. Die Chickasaws warteten schon am Ankerplatz, zahlreicher als das erste Mal. Die Impfung hatte guten Erfolg gehabt, sie wurde fortgesetzt und fernerer Unterricht deshalb erteilt. Gegen eine Menge Salz, welche jene mitgebracht hatten, erhielten sie von uns alle Lebensmittel, deren wir entbehren konnten. Es wurde festgesetzt, daß jährlich um diese Zeit einige von unseren Männern hierherkommen und Salz gegen Tabak und andere Produkte eintauschen sollten. Die Chickasaws machten besonders zur Bedingung, daß Salvito, welchen sie für einen Halbgott hielten, mitkommen möchte, um die später Geborenen zu impfen. Wir trennten uns mit wahrhaft nachbarlichen Gesinnungen.

Am folgenden Abend langten wir fröhlich bei unseren Wohnungen an, vor welchen uns unsere Freundinnen entgegenkamen. Wie unendlich schön fanden wir unsern reizenden Aufenthaltsort bei der Rückkunft aus jenen wilderen Gegenden, und gleichwohl möcht ich um keinen Preis sie nicht gesehen haben. Unsere Hausmütter gaben uns einen festlichen Schmaus; dann begrüßten wir noch im Mondenschein alle die Gegenstände umher, welche uns vorzüglich lieb waren. Ganz allein schwärmte ich noch bis zu den Palmen, welche den Tempel umgeben und deren Schatten, neben den beleuchteten weißen Säulen, wie Geistergestalten wiegten. Freudig sprang ich die Stufen hinauf und umfaßte den Altar, Worte hatte ich nicht, doch galt, was ich fühlte, dem Unerforschlichen gewiß für ein heißes Gebet.

[187] Die Früchte sind eingesammelt, die Trauben gekeltert, die Bienenkörbe verschnitten, wir haben das Herbstfest gefeiert und dem Ewigen gedankt für seinen reichen Segen. Jetzt machen sich John und Humphry bereit, um den Überfluß unsrer Erzeugnisse, den Ohio hinauf, nach Louisville zu führen. Sie bringen dagegen die wenigen Bedürfnisse zurück, welche uns Anfängern für jetzt noch fehlen; der Überschuß an Geld wird dort in einem Handlungshause niedergelegt. Es ist eins der Grundgesetze unsrer Republik, daß im Umkreise ihres Gebietes kein Geld umläuft. Dieses unselige Metall, welches drei Vierteile des Erdkreises verbindet und entzweit, soll bei uns keinen Einfluß erlangen. Was von Ellisons und meinem eh'maligen Vermögen übriggeblieben ist, steht in der fortgeführten Handlung des Vaters Ellison, welche dem treuen Buchhalter übergeben worden ist, und bleibt, wie die Summe, welche jährlich sich in Louisville sammeln wird, für ein etwaniges künftiges Bedürfnis der Kolonie unberührt. Es ist das Gemeingut derselben, und nur mit Zustimmung aller Mitglieder kann darüber verfügt werden. Möchten doch unsere Kinder und Enkel niemals in den Fall kommen, davon Gebrauch zu machen!

Während diese Reise beraten und eingeleitet wird, will ich Dir noch alles schreiben, was Du wohl gern über unser hiesiges Dasein wissen möchtest. Humphry wird das Briefpaket in Louisville, unter Umschlag an das Haus Ellison, nach Philadelphia senden, tue Du mit Deinen Briefen ein Gleiches. Auf diese Art werden wir jedes Jahr einmal Du von mir, ich von Dir Nachricht erhalten, die einzige, welche mich aus der europäischen Welt interessiert. Die Männer bekommen auf demselben Wege Kenntnis von den Ereignissen und Begebenheiten auf dem großen Welttheater im letztverflossenen Jahre und zugleich das Lesenswerteste in allen Fächern der Wissenschaften, wie es scheidend mit dem ehrlichen Handelsherrn ausgemacht worden. Hier ist also Stoff genug für die kurze Winterzeit, wo die Natur, [188] selbst noch in ihrem leichten Schlummer, schön bleibt. Dann werden wir uns am Abend um den Herd oder um den Kamin versammeln, und Erzählungen der nächsten und der ferneren Vergangenheit werden uns die Stunden kürzen. Für diese Winterzeit sparen wir einzig den Tee und den Kaffee auf, auch ist während derselben den Männern der Genuß der gebrannten Wasser erlaubt, welche Stauffach in großer Vollkommenheit zu bereiten versteht, und wie schon erwähnt, wird in dieser Jahreszeit Bier gebrauet und getrunken werden; mit dem Frühlinge kehren wir zur Milch zurück. Noch ist beschlossen worden, bei dem nächsten Frost Eis von dem nahen Gebirge zu holen und in der tiefsten Grotte des Felsens einen Eiskeller anzulegen, damit wir, in großer Hitze, uns an Gefrorenem laben können.


Am 14. Julius dieses Jahres wurde mein Geburtstag dadurch gefeiert, daß die Grundgesetze der Kolonie allen Einwohnern der drei Dörfer im Tempel vorgelesen und dann in einem Behältnisse unter dem Altare niedergelegt wurden. In jedem Jahre sollen sie an diesem Tage aufs neue verlesen und so soll dieser uns allen merkwürdige, mir aber insbesondere beziehungsreiche Tag auf ferne Zeiten hin geweiht werden. Dieser Gesetze oder vielmehr Grundsätze, einfach wie unsere ganze Einrichtung, sind nur wenige. Sie bestehen in Anerkennung eines einigen Gottes, welchen der menschliche Verstand sich nicht klar darzustellen vermag; sein Dienst ist die Erhebung des Herzens zu ihm, die Ergebung in seinen Willen, Vertrauen, Dankbarkeit gegen ihn und das Streben, gut und menschlich zu handeln; kein Götzendienst, kein Symbol soll die erhabene Idee des Einigen entweihen. Seine Propheten und viele der Heiligen waren achtungswerte Menschen, deren Andenken uns teuer bleiben wird. In ihnen lebte die reine Idee, mehr und minder klar, sie strebten, sie dem Volke mitzuteilen, welches sie aber nur wenig verstand und die reine Wahrheit bald wieder mit bunten Zieraten umhing; sogar den Propheten, [189] welcher sich ihm zeigte, oder dessen Bild höher hielt als den Geist, den niemand darzustellen vermag, und so den göttlichen Menschen zum Gott erhob.

Der Tempel ist der Ort, wo jede feierliche Hand lung stattfindet. Hierher bringen wir am Frühlingsfeste die schönsten Blumen, am Erntefeste die vollsten Ähren aller Art, umhängen damit Säulen und Altar und werfen davon, mit Weihrauch vermischt, in die leuchtende Flamme. Am Herbstfeste brennen Oliven, Kastanien und Datteln auf dem Altar, er wird mit Traubensaft besprengt, und am Neujahrsfeste lodert höher die Flamme, von Zweigen aller Art und den köstlichsten Herzen entzündet. Lobgesänge, zum Preise des Ewigen, werden in Chören gesungen, und um den Altar kniend, steigt unser vereintes, heißes Gebet zu dem Allgütigen auf. Diese Abschnitte der vier Jahreszeiten und das Stiftungsfest sind die einzigen verordneten öffentlichen Feste. Außerdem steht es bei jedem einzelnen, sooft er hierzu Beruf fühlt, den Ewigen anzurufen und zu ihm zu beten. Für die Abteilung der Woche haben wir die Mosaische Einrichtung beibehalten, nach sechs Arbeitstagen folgt ein Ruhetag. Sobald am Sonnabende die letzten Strahlen des Lichts hinter den blauen Gebirgen verschwinden, verläßt jeder sein Tagewerk und trägt sein Arbeitsgerät zu den Säulen des Tempels. Hier lehnt der Pflüger seine Pflugschar und das Joch seiner Stiere an, der Schnitter hängt hier seine Sichel auf, die Binderin ihren Rechen. Jeder kniet oder setzt sich auf die Stufen nieder und dankt dem Ewigen für seinen Beistand im stillen oder lauten Gebet, je nachdem er sich allein oder in Gesellschaft befindet. Der Feiertag wird mit Unterhaltungen und Spielen hingebracht; kein Geschäft wird vorgenommen, die Wartung des Viehs und die Beschickung des Herdes ausgenommen, wobei wir alle gemeinschaftlich helfen. Am Montage holt jeder, in aller Frühe, sein Gerät aus der Obhut des Tempels und fängt sein Wochenwerk mit dankbaren Gedanken an Gottes Schutz und Führung an. Kein [190] Priestertum soll je die lautere Quelle unserer Überzeugung trüben. – Du schüttelst mißtrauisch den Kopf, Adele! Oh, ich weiß wohl, man glaubt, die Lehre des Deismus könne in einer größern Gesellschaft nicht Anwendung finden, ein Wahn, welchen wir einst widerlegen werden. Warum besteht sie denn unter tatarischen Horden, bei einem geringen Grade von Bildung? Und das Priestertum? Die Pennsylvanier haben keines und sind so brav und gut, daß sie der Welt als Muster aufgestellt werden könnten. Von ihnen haben wir entlehnt oder sind mit ihnen zusammengetroffen; nur ihr finstrer Ernst findet bei uns keinen Eingang. Griechenlands kindlicher Frohsinn spielt um unsren Tempel;


»... schöne lichte Bilder
schweben selbst um die Notwendigkeit,
und das ernste Schicksal blicket milder
durch den Schleier sanfter Menschlichkeit.«

Der zweite Grundsatz unserer Verfassung ist völlige Freiheit und Gleichheit der vereinten Familien; nie soll darin ein Oberhaupt herrschen, und wäre ein solches einst, zu besonderem Zwecke, notwendig, so wird es gewählt, und dann erlischt seine Würde mit Erreichung des Zweckes. Alle Angelegenheiten werden durch Stimmenmehrheit entschieden. Die Verwaltung der Geschäfte der Kolonie wird verteilt, der Überfluß zu gemeinschaftlichen Zwecken verwendet. Am Genuß hat jeder gleichen Anteil und gleiches Recht. Der Gebrauch des Geldes ist im Umkreise des Staates untersagt, auch außer demselben hat niemand Eigentum, alles ist Gemeingut. Kein Mitglied darf, vor dem vollendeten zwanzigsten Lebensjahre, die Grenzen der Republik verlassen, die Kolonie aber nur bis zu einer bestimmten Anzahl von Einwohnern wachsen; übersteigt sie diese, so bilden die älteren Söhne eine neue in dem großem Umfange der Besitzungen. Es wird, zu diesem Endzweck, jährlich eine Anzahl Morgen von uns urbar gemacht; schon [191] jetzt haben wir mehr, als wir bestellen mögen, und es wird manches Ackerstück in Ruhe gelegt. Die Töchterkolonien führen eine eigene Ökonomie, sind aber im übrigen, durch gleiche Grundsätze und gleiche Vorteile, auf das engste mit der Muttergesellschaft verbunden; ihr etwaniger Überschuß fließt zur allgemeinen Kasse. Alle Menschen außer den Grenzen unserer Republik werden als unsere Brüder betrachtet. Ihre Lebensweise paßt nicht zu der unsrigen, sie haben aber dieselben Rechte, über die ihrige zu entscheiden als wir über die unsere, und kein Streit darf je deshalb zwischen ihnen und uns entstehen. Man wird unsere harmlose Friedlichkeit ehren, die Denkart der Nachbaren ist edel. Es ist kaum glaublich, daß unsre Männer jemals gezwungen werden sollten, unsern rechtmäßig erworbenen Boden, mit den Waffen in der Hand, zu verteidigen. Geschähe es aber, so würde der Sieg gewiß auf unserer, auf der Seite des stengsten Rechtes sein, und Mut und Geschicklichkeit unserer Männer würde ihn zu fesseln wissen. Wahrheit und Gerechtigkeit sind die Hauptgrundsätze unserer einfachen Moral; ihre Ausübung wird, durch unsere Lebensweise, unseren Kindern so notwendig sein als das Atemholen. Wahrheit und Gerechtigkeit, diese einzig sicheren Stützen des häuslichen und des gesellschaftlichen Glücks, können nur unter dem Schutze der Freiheit vollkommen gedeihen!


Sieh, meine Adele, so denken, so leben wir. Ihr werdet wohl etwas mitleidig lächeln, wenn Ihr in Gedanken das einfache Gewand unserer Republikanerinnen mit Euren Modekleidern vergleichet, aber wir tauschen nicht; unser Klima fordert nicht mehr, und mit welchem geringen Aufwand und mit wie wenig Mühe sind wir gekleidet. Die kunstreiche Nadel ruhet darum nicht ganz, wir verzieren mit ihrer Hülfe zuweilen den Saum der Gewänder, doch in der Hauptsache darf nichts geändert werden; wir wollen nur keine Kunstfertigkeit untergehen lassen, so wie unsere Männer darauf bedacht sind, jede Wissenschaft zu pflegen.[192] Wir haben uns einmal vorgesetzt, die große Aufgabe zu lösen, Kultur mit Sitteneinfalt auf das engste zu verbinden; wie und ob wir das große Ziel erreichen werden, darüber wird ein künftiges Jahrhundert entscheiden. Fest richten wir den Blick auf das Wohlsein künftiger Geschlechter, säen mutig den Samen dazu in den Schoß der Zeit, und Gott sieht gewiß wohlgefällig auf unsern redlichen Willen, auf unsern heiligen Eifer herab.


Die Reiseanstalten sind vollendet, ich muß diese Blätter schließen. So lebe denn wohl, meine traute Adele! Der Himmel überschütte Dich mit soviel Glückseligkeit, als Dein gärendes Europa, Dein mit sich selbst zerfallenes Frankreich Dir nur bieten kann. Gedenke meiner oft, Du Gute! Du kannst es ohne Sorgen um mein Geschick. Freundlich lächelt mir die lange Zukunft entgegen, wie mich jede Morgensonne freundlich begrüßt. Nur in Kentuckys Hainen säuselt ewiger Friede, nur am Schawanoe herrscht süße Ruhe. Oh, lebte mein hochherziger Vater, lebte mein guter Emil mit uns unter diesen Palmen, kein Seufzer würde jemals meinen Busen heben! Doch sie wandeln unter den himmlischen Palmen und harren freundlich auf uns. Mucius, mein teurer Mucius, ist mir Ersatz für alles! Er grüßt Dich tausendmal, der herrliche Mensch. O könnte ich ihn Dir so ganz schildern, wie er ist! so groß und hehr, so lieb und gut. Er trägt das Schicksal einer Welt in seiner Brust und ist doch nur Gatte, nur Freund; an Geist vielleicht der Erste unter unseren Gefährten, ist er der Bescheidenste, von allen geliebt. Und dieser seltene Mensch ist mein! Fühle die Seligkeit, welche in dem Gedanken liegt. Ich muß nur schnell siegeln, damit Mucius diese Worte nicht liest; er ist dem Stolze so feind, daß es ihn schmerzen würde, der Gegenstand des meinigen zu sein. Lebe wohl, Adele! Tausendmal lebe wohl! Übers Jahr erhältst Du wieder frohe Botschaft von Deiner

Virginia.


[193] Eldorado in Kentucky. Im Julius 1817


Sei mir gegrüßt, Freundin meines Herzens! Du, in deren Busen ich ehemals meine Klagen ergoß, nimm jetzt das Überströmen meines Entzückens mit gleicher Teilnahme auf. Der Glückliche bedarf des Ohres eines Freundes mehr als der Unglückliche, denn wohl läßt sich der Schmerz unterdrücken, die Freude nicht. So vernimm denn die Wiederholung alles dessen, was mich in dem Zeitraume dieses Jahres beseligte. Im ganzen ist mein Leben eine fortlaufende Kette von glücklichen Tagen, nur wenige darunter zeichnen sich durch ein wichtiges Ereignis aus. Unter diesen sind wohl die denkwürdigsten diejenigen, wo unserer Republik junge Bürger geboren wurden. Ja, meine Adele, ich wiege einen lieblichen Knaben auf meinem Schoße, Mucius' Ebenbild, welcher mit diesem Kinde zum Kinde wird. Aus meinen Armen geht es in die seinigen; er forscht in dem kleinen Gesichte nach Ähnlichkeiten von mir, ich will, es soll ihm ähneln, und dies gibt die einzige Veranlassung zu kleinen, freundlichen Streitigkeiten zwischen uns. Außer unserm Knaben sind noch achtzehn Kinder im Laufe des Maimonats geboren, nämlich vier von den Negern, sechs in dem deutschen Dorfe, acht bei uns, soviel Knaben als Mädchen, unsere Hausmütterchen erwarten in einigen Monaten ihre zweite Niederkunft. Das wird ein Leben werden in der kleinen Republik! Schon jetzt verführen die Väter einen Lärm mit den jungen Mitbürgern, besonders Pinelli, daß wir alle lachen müssen, und die Wiegenlieder der Mütter bilden ein ordentliches Konzert.

Vom Klima begünstigt, sind wir alle leicht und wohlgemut entbunden worden. Schon am zehnten Tage, so wollte es Salvito, ging jede der Mütter, ihren Säugling im Arme, zum Tempel. Hier war der Altar mit Blumen bedeckt, die Mutter legte das Kind auf die Blumen nieder, dankte dem Ewigen kniend für das teure Geschenk und bat um Erhaltung des zarten Lebens. Der Vater trat hinzu, segnete das Kind, nahm es auf, nannte, es der Versammlung [194] zeigend, laut den Namen desselben und gab es der Mutter zurück. Wir haben unsern Kleinen, zum Andenken an seinen Großvater, Leo genannt, möchte er ihm ähnlich werden!

Seit dieser Zeit wird oft die Erziehung der Kleinen erwogen. Im ganzen wird sie, der allgemeinen Meinung nach, sehr einfach sein. Liebe und Beispiel sollen, statt aller Strafen und Ermahnungen, hinreichen; spielend die Kräfte der Kinder, sowohl leiblich als geistig, ausgebildet und beide Geschlechter, bis zum zwölften Jahre, ganz gleich beschäftigt und unterrichtet werden; auch ihre Kleidung wird dieselbe sein, ein farbiger Überwurf, nur bis zur Wade reichend. Sie werden klettern, ringen, fechten, wettlaufen, tanzen, schwimmen und an den Arbeiten, nach ihren Kräften, teilnehmen. Lesen, Schreiben, Rechnen lernen sie dabei, als gesellschaftliche Vergnügungen, in den Stunden der Muße unter den schattenden Platanen oder am flammenden Kamin; Musik und Zeichnen sollen ebenso behandelt werden. Die Naturbeschreibung wird in Erzählungen vorgetragen oder auf Spaziergängen, welche besonders der leidenschaftliche Botaniker Stauffach dazu benutzen wird. An diese wird sich die Erdbeschreibung, jedoch erst später, anschließen, Geschichte am spätesten gelehrt werden. Mucius wird zu dem Ende eine kleine Weltgeschichte ausarbeiten und in Philadelphia drucken lassen. Sie wird treu, aber aus einem anderen Gesichtspunkte aufgefaßt, mehr die Geschichte der Völker als ihrer Führer sein. Den Helden werden ihre Lorbeerkränze nicht entzogen werden, aber der Eichenkranz des Bürgers, der friedliche Ölzweig werden eine höhere Bedeutung erhalten; der Hauch der Freiheit wird durch das ganze Werk hinwehen und darin auch angegeben werden, wodurch das Menschengeschlecht diese Himmelstochter von seinen Fluren scheuchte, mit ihr das Paradies verlor.

Mit dem zwölften Jahre werden die Mädchen zur Haushaltung und zu künstlichen Arbeiten mit der Nadel und [195] auf dem Webestuhl angeführt, die Knaben lernen die höheren Wissenschaften und die toten Sprachen; die lebenden sich zu eigen zu machen, dazu haben sie täglich, von der frühesten Jugend an, Gelegenheit, denn Französisch, Italienisch, Deutsch und Englisch werden abwechselnd bei uns gesprochen. Französisch ist die allgemeine Sprache, Englisch wird bei dem Mahle und am Teetisch geredet, aus Liebe für Ellison, Lucia und Fanny, Italienisch lassen Rosalva, Antonio und Pinelli nicht aussterben, sie haben den beiden Knaben Franks und Vanhusens schon eine Menge liebkosender Worte stammeln gelehrt; mit ihren Spielgefährten, einem halben Dutzend deutscher Kinder, reden sie Deutsch. Von den höheren Wissenschaften und den gelehrten Sprachen lernt jeder dann nur, wozu seine Neigung ihn treibt oder wozu man entschiedene Fähigkeiten in ihm entdeckt, notwendig sind sie keinem. Lehrer ist jeder der Männer in seinem Lieblingsfache. So unterrichtet man jetzt schon spielend die deutschen Knaben und ein paar muntere Negerbuben; künftig werden auch diese mit den unsrigen gleich erzogen. Wie lächerlich wird einst unsern Jünglingen der Kastengeist erscheinen, mit welchem der größte Teil des Erdkreises zu kämpfen hat!

Die körperliche Erziehung der Knaben wird mit ihren zunehmenden Jahren immer sorgfältiger fortgesetzt und nichts versäumt werden, sie abzuhärten. Sie werden alle Fähigkeiten eines kriegerischen Volkes erlangen, ohne es zu wissen; besonnenen Mut, Ausdauer und Verachtung der Gefahren werden sie auf den Bären- und Wolfsjagden in den Grenzwaldungen lernen, ihre Spiele werden kriegerisch sein, ohne daß sie jemals das Wort Krieg hören, und die Regeln der besten Taktik ihnen als Regeln eines Spiels geläufig werden. Sollte jener Dämon jemals bis durch diese Wälder dringen, dann wird er ein waffenfähiges Volk finden, welches den Frieden wie die ganze Welt liebt, aber jedes Unrecht abzuwehren wissen wird; selbst unsere starken Mädchen würden den Webestuhl verlassen und mit den [196] Waffen, dem Spielgerät ihrer Kindheit, ihre Freiheit und ihre Ehre verteidigen. Doch dahin wird es nicht kommen, der Genius der Menschheit wird diese stillen Täler schützen.


Unser Leben, unser Treiben ist noch ganz dasselbe, wie ich es Dir im vorigen Jahre schilderte. Noch haben wir nirgends eine Lücke bemerkt, und ich hoffe, als ein altes Mütterchen werde ich dir nichts anders zu sagen haben als: »Wir sind glücklich.«

In diesem Frühjahre machten wir unsere erste Zuckerernte in den Ahornwäldern, alles legte Hand an, selbst die Kinder. Der Ertrag ist so reichlich gewesen, daß, auch bei verschwenderischem Verbrauch, unser Bedarf auf drei Jahre gesichert sein würde. Wir schicken die Hälfte nach Louisville, auch Tabak und Farbekräuter, mit deren Erzeugung Stauffach sich emsig beschäftigt; er hat uns schon die schönsten Garne und Gewebe gefärbt. Frank erwirbt sich um das Maschinenwesen unsterbliche Verdienste, Antonio hat einen Speicher im rein antiken Stil erbaut, Vanhusen und seine Gehülfen haben uns die seltensten Früchte und Blumen gezogen, die herrlichsten Gruppen von Bäumen auf Bergen und am Rande der Savannen gepflanzt, auch mancherlei Heilkräuter, nach Salvitos Anweisung, angebauet. Dieser Schutzgott unserer Nachbarn hat seine versprochene Reise den Schawanoe hinauf gemacht, und das von ihm, durch Rat und Tat, gestiftete Gute ist nicht zu berechnen. Seine chemischen Kenntnisse kommen uns überall zustatten, besonders bei der Kelter. Unser Wein verspricht ganz vorzüglich zu werden, selbst der Palmensekt und das Birkwasser sind ziemlich haltbar.

Die Feldbauer, nebst ihren weißen und schwarzen Gehülfen, haben Überfluß erzeugt, Maria und Lucia bleichen das schönste Gespinst im Sonnenstrahl und im Schimmer des Mondes, und die Seidenwürmer haben mit uns um die Wette gesponnen; auch von ihrer Arbeit werden Proben nach Louisville gehen. Das Vieh gedeihet herrlich. [197] Mein Milchgewölbe hat Überfluß, ungeachtet mehr als die Hälfte des Mutterviehes die Kälber großgesäugt hat. So im Schoße des Überflusses, liebend und geliebt, frei und im Frieden mit der ganzen Welt, ruhig in die Vergangenheit, heiter in die Zukunft blickend, gibt es eine beneidenswertere Lage als die unsere? Oh, ich möchte der ganzen gepreßten Welt zurufen: Flüchtet euch in die Wildnisse von Amerika! Nur am Mississippi, am Missouri, in den Wäldern von Louisiana wohnt der Friede, lächelt das Glück. Aber das Gemüt dafür muß man mitbringen, Kenntnisse und Tätigkeit, dann findet man sein Eden hier oder nirgends.


Wir haben erfahren, daß ein großer Teil unserer Landsleute nach diesem Weltteil sich gewendet hat und daß Joseph Napoleon willens ist, nahe bei Baltimore eine Stadt zu gründen. Ja, ja, die Trojaner flohen aus ihren brennenden Mauern nach mehreren Gegenden hin, aber nur Äneas rettete die Heiligtümer aus den prasselnden Flammen und barg sie in Silvius' dunklen, nächtlichen Hain. Laß mir den kühnen Gedanken: Mucius und seine Freunde sind jener Äneas mit seinen Gefährten, das Schicksal gefällt sich in solcher Wiederholung. Hierher, in die Wälder von Kentucky retteten wir unsere Götterbilder; werden sie einst, wie Trojas Götter, ein großes, freies und hochherziges Volk verbinden? Oh, du Ewiger über den Sternen, wir hoffen es! Josephs Stadt wird nie ein Rom werden; man wird darin Schauspielhäuser und Kirchen bauen, Kaffeehäuser und Tanzsäle errichten, kokettieren, kabalieren, scheinen, schmeicheln und repräsentieren, wie ehemals! Die großen Lehren der Zeit gehen an diesem Geschlechte verloren; fern von uns jede Gemeinschaft mit demselben! Selbst Napoleon, der bewundernswerte, würde in unserm Freistaate sehr unwillkommen sein; einmal vom Taumelkelche der Herrschaft berauscht, taugt schwerlich jemals ein Mensch auf dem Platze des harmlosen Bürgers. Er, der Feuergeist, war dazu geschaffen, ein in wilde Parteien [198] zerspaltenes Volk zu vereinen und zu halten, ja die Erde unter eine Alleinherrschaft zu bringen; in einen wahren Freistaat paßt er nicht. Vielleicht hätte er einst den Frieden der Welt und die Vereinigung der Völker, auf einem andern Wege, herbeigeführt. Lange glaubte ich, diesen Plan des Schicksals in dem Laufe der Dinge zu sehen, doch plötzlich verwandelt sich das Welttheater, und noch läßt sich nichts Bestimmtes über den Inhalt des nächsten Akts sagen, der Knoten ist von neuem geschürzt und die Entwickelung weiter hinausgeschoben. Aber meine Wünsche, unsere Wünsche, sind dieselben geblieben, Friede und Freiheit der Welt, Wahrheit und Gerechtigkeit herrschend und das physische Dasein auch dem Letzten der Sterblichen, ohne harte Sorgen und Not, gesichert. Wir mußten diesen Wünschen, diesen Hoffnungen einen andern Stützpunkt geben, um nicht mit hinabgezogen zu werden in dem allgemeinen Untergang. Wir fanden ihn, verzeihe dem kühnen Gedanken, wir suchten ihn wenigstens in der Kolonie von Kentucky. Kultur, mit Sitteneinfalt im Bunde, sollten hier, in der Verborgenheit, ein Geschlecht großziehen, welches vielleicht einst den Völkern zum Vorbilde und Vereinigungspunkte dienen könnte. Das mächtige Troja fiel unter den vereinten Kräften der Griechen, aber Äneas rettete die Schutzgötter des Reichs, er und seine jungen Gefährten gründeten Alba und bargen die Heiligtümer in seinen dichtverwachsenen Hainen. Das schwache Häuflein wuchs, seine Urenkel erbauten die Siebenhügelstadt, und heilbringend zogen die Götter ihrer Ahnen bei ihnen ein. Solange ihr Dienst noch unentweiht bestand, war Rom glücklich und groß.

Wehe, auch das große, auch das glückliche Rom versank! Woran mahnt mich diese Erinnerung des ewigen Wechsels! Wird denn die Entwicklung des Menschengeschlechts ewig den Kreislauf gehen, sein Zustand niemals Dauer erhalten? Werden die Blätter der Geschichte ewig vergebens für uns geschrieben sein? Verzweifeln [199] würde ich, müßte ich dies als unwandelbares Gesetz anerkennen, ich kann, ich will es nicht denken. Eine köstliche Frucht bedarf lange Zeit zu ihrer Reife. Rauhe Stürme streiften ihre Blüten ab, lange liegt sie in harter Schale verborgen, mitten in den Ungewittern, sie hat die Fröste der Nacht und den sengenden Strahl des Mittags überdauert, aber an der milden Sonne des Herbstes wird sie die Schale öffnen, und der süße Kern dringt gezeitigt hervor. Möge er lange dauern, der Herbst!


Wir haben gestern ein freundliches Fest gefeiert, Humphrys Hochzeit mit einem sanften deutschen Mädchen. Wir führten, in feierlichem Aufzuge, das mit Myrten und Rosen gekränzte Brautpaar zum Tempel. Sie wechselten am Altar die Ringe und sprachen laut den Schwur der ewigen Treue; die Eltern der Braut segneten sie, und wir alle beteten für ihr Glück. Ein frohes Mahl unter den Platanen vereinte die ganze Kolonie; der Becher ging fleißig umher, und mancher herzliche Trinkspruch wurde ausgebracht. Wir haben dabei des Heils unsrer europäischen Brüder nicht vergessen; auch auf Deine Gesundheit wurde der Becher geleert. Der Tanz, welchen unsre Neger besonders leidenschaftlich lieben, dauerte bis spät in die Nacht, und erst gegen Morgen wurden die Neuvermählten, trotz Mondenlicht und Frührotsschimmer, mit Fackeln zu ihrer neuen Wohnung geführt. Es gewährte einen eigenen, schönen Anblick, wie der Zug, bei dem hellen Fackelschein, durch das lange Tal wallte und wie das Licht die Baumgruppen erhellte und dann neue Schatten warf. Es ist wieder ein schöner Vorwurf für Pinellis Kunst, welche er fleißig übt. Humphrys Wohnung liegt im deutschen Dorfe, eine Viertelstunde von hier. Sobald die Vermählten die Kammer betraten, wurden die Fackeln an der Schwelle des Hauses gelöscht, man rief »Hymen! Hymenäus!«, und der ganze Zug ging zu seinen Häusern zurück.

[200] Kindliche Nachahmungen altgriechischer Sitten, wie schmeicheln sie die Phantasie in jenes schöne Zeitalter hinüber, wo das Menschliche mit dem Göttlichen noch verschwistert war, wo der dünkelvolle Erdensohn sich noch nicht losgerissen hatte von dem leitenden Bande seiner Mutter Natur! Uns, vor allem Mucius und mich, Dupont und Zephyrinen, ziehen die griechischen Lebensformen mächtig an; es waren die Sitten unserer Ahnen, Abkömmlinge jener Messenier, welche Marseille gründeten; wie jeder Provenzale es mit geheimem Stolze rühmt, hat jede Erinnerung an sie einen namenlosen Reiz für uns. Es ist unsere Lieblingsunterhaltung, die älteren griechischen Dichter und Prosaisten zu lesen, welche Mucius meisterhaft und aus dem Stegreif übersetzt; mit ihnen haben wir die kurze Zeit des leichten Winters sehr angenehm ausgefüllt. Selten kam mein Ossian an die Reihe, obschon die meisten der übrigen ihn besonders lieben, weil sie ihn ohne Auslegung verstehen. Auch bei mir steht er noch in hohem Werte, wenngleich meine Stimmung mich seltener zu ihm hinzieht. Ossian ist der Sänger der Schwermut, und rings um mich her herrscht heitere Lebensfreude. In die Lethe versenkt sind die Bilder der düstern Vergangenheit, eine neue Sonne, ein neues Dasein ist für uns alle aufgegangen. Mag Europa nun schnitzeln und künsteln an seinen Formen, wir haben sie von uns geworfen, miteinem mutigen Wurf; und wie auch die Verwirrung herrsche, uns berührt sie nicht. Arme Adele, könnte ich doch Dich hierher retten! aber auch nur Dich allein. Ich fürchte immer, auch Du wirst ein Opfer tyrannischer Willkür. Wärst Du nicht in Europa, ich würde selten dahin denken, denn ich denke ungern an das dortige Getreibe. Alles, was ich wieder von dort vernommen habe, ist nicht beruhigend; der große Streit ist noch nicht abgeschlossen, lange, lange noch nicht, er kann noch Menschenalter überdauern. Furchtbare Krämpfe erschütterten die kreißende Welt, aber es erfolgte eine unzeitige Geburt; das wirkliche Götterkind liegt noch tief verborgen im [201] Schoße der Mutter, neue stärkere Wehen werden es einst an das Tageslicht fördern. Wann? das steht im Buche des mächtigen Schicksals. Wehe dem armen Geschlechte, welches als Geburtshelfer um die Kreißende steht! aber auch Heil dem, welches um die Wiege des Neugeborenen tanzt! Junges, kräftiges Leben entwickelt sich aus Zerstörung und Tod, das ist der Trostgedanke für das untergehende Geschlecht; der Blick in die Zukunft kann allein den sinkenden Mut erheben. Ach, nicht jeder vermag über die Spanne seiner Zeit und seines Raums hinwegzublicken, und der Sohn des Staubes zerstäubt mit ihm; nur der Geist, welcher sich eins fühlt mit dem Unendlichen, wird ewig sein mit dem Ewigen, er sieht im Heute schon das Morgen, und die kleinlichen Sorgen der Gegenwart berühren nur sein irdisches Teil, hinüber schwingt er sich unter die Palmen des ewigen Friedens!


Uns Lieblingen des Schicksals säuseln schon hienieden jene friedlichen Palmen, uns säuselt der delphische Lorbeerhain. Oh, meine Adele, könnte ich Dich einführen unter ihren erquickenden Schatten! Deinen Namen tragen die glatten Stämme der weißen Birken und Buchen und des blühenden Tulpenbaumes, am Ohio, am Kentucky und am Schawanoe; Deinen teuren Namen ruft mir stündlich mein zahmer Papagei zu und lehrt ihn seinen wilden Brüdern, wenn er mit mir durch die Haine hüpft; Deinen Namen wird mein Leo stammeln, sobald er »Vater« rufen kann. Oh, könntest Du meine freundlichen Haine sehen und meinen Knaben segnen! Tue es in der Ferne, meine Adele, so wie wir Dich segnen, mein Mucius und ich. Zephyrine und Philippine grüßen Dich, erstere als Landsmännin, letztere, weil ich sie oft mit Dir verglich, Ellison grüßt Dich vor allen. Er hat den Vorteil, Dich zu kennen, und stimmt oft in meinen Wunsch ein, Du möchtest eine der Unsern werden; Du seist vor allen wert, sagt er, unser wiedergefundenes Eden zu schmücken, doch, wo Du auch [202] lebst, Du trägst es in Deiner Brust. Laß es Dir nimmer rauben, nimmer Dein besseres Gefühl ertöten vom Pesthauche der Selbstsucht und der kleinlichen Eitelkeit. Dein Wahlspruch sei Wahrheit und Gerechtigkeit, so bist Du der Kolonie von Kentucky verbündet.

Lebe wohl im Geräusch Deiner Welt! Vergiß nicht die Sorge für die armen Bewohner von Chaumerive. Noch einmal empfehle ich sie dem Herzen Deiner guten Mutter. Laß die Blumen um das Grab der Meinigen nicht ganz ersterben. Oh, daß mein Vater, daß Emil nicht auch dort unter begrünten Hügeln ruhen! Auch ihnen lege, jeden Sommer, Kränze der Erinnerung auf der Mutter Grab; vielleicht, daß Dir dort mein Geist einmal freundlich begegnet.

Dort wuchs ich auf unter den Heldenbildern der Griechenwelt, hier am Kentucky schließe ich einst lächelnd mein Auge, von den Lebensbildern jener Unschuldswelt umflattert. Lebe wohl! Lebe wohl, meine Adele! Friede mit Dir! Friede mit der ganzen Welt!


Deine Virginia. [203]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Frölich, Henriette. Roman. Virginia oder Die Kolonie von Kentucky. Virginia oder Die Kolonie von Kentucky. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B3B5-F