Aus verschollenen Tagen

1.

Es war ein schöner Tag im schönen Wien,
Die Linden blühten, und die Sonne schien,
Und Arm in Arm, uns selber überlassen,
Durchschritten wir die morgenfrischen Gassen.
Prunkläden hier, Paläste stolz und grau,
Dort schwarzgetürmt Sankt Stephans Riesenbau,
Und rings aus laub'gen Gärten durchs Gedränge
Herflatternd Rosenduft und Geigenklänge.
[271]
Ein Märchen deucht' es uns, ein Traumgeschick:
Sonst ruhlos überwacht in Wort und Blick,
Und plötzlich nun im bunten Volksgetriebe
Der großen Stadt allein mit unsrer Liebe!
Beschwingt ins Grüne lenkten wir den Schritt,
Die Vögel jauchzten, und wir jauchzten mit,
Bis wir zuletzt nach sel'ger Irrfahrt Stunden
Den Weg zu Belvederes Schloß gefunden.
Von Panzern drinnen beim gedämpften Strahl,
Von Türkenbeute blitzte Saal an Saal,
Und friedlich neben den ersiegten Waffen
Hing, was der Meister Farbenkunst geschaffen.
Da grüßt' uns plötzlich lächelnd von der Wand
Der schönste Frauenkopf von Palmas Hand;
Bezaubert staunt' ich, bis ins Herz erschrocken,
So glich er dir mit deinen goldnen Locken.
Und küssen wollt' ich das holdsel'ge Bild,
Du aber wehrtest mir und sprachest mild:
»Warum nach stummem Reiz den Blick erheben?
Du hast's ja besser, halte dich ans Leben!« –
Und wieder durch die Gärten schwärmten wir,
Und von den trunknen Lippen strömte mir
Ein übermütig Lied der Liebeswonne,
Die Rosen blühten, und es schien die Sonne.
Und denk' ich dran, so weht's durch meinen Sinn
Wie Rosenduft und Sonnenglanz dahin.
O Stadt Sankt Stephans, daß dich Gott behüte,
Wo meiner Jugend schönstes Märchen blühte!

2.

Herr Walther, dessen Ruhm erklungen,
So weit die deutschen Ströme gehn,
[272]
Als er sich Land und Leut' ersungen,
Da jauchzt' er auf in Liedeszungen:
Ich hab' ein Lehn! Ich hab' ein Lehn!
Herr Walther von der Vogelweide,
Und wüßtet Ihr, was mir geschehn,
Wie ich zu Freuden kam aus Leide,
Ihr hörtet singen mich mit Neide:
Ich hab' ein Lehn! Ich hab' ein Lehn!
Mein Lehn sind eitel rote Rosen,
Die Tag und Nacht in Blüte stehn,
Frau Minne ließ es mich erlosen,
Mit Scherz bestell' ich's und Liebkosen:
Ich hab' ein Lehn! Ich hab' ein Lehn!

3.

Noch ruhn die Höhn vom Duft umwoben,
Und neblig dampft es überm Feld;
Doch Sonnenahnung dämmert droben
Am Himmelszelt.
Dem zweifelhaften Tag entgegen
Reis' ich ins stille Land hinein
Und grüße dich zum Morgensegen
Und denke dein.
Wohl schied die Welt uns streng aufs neue,
Doch mutig blieb mein Herz und fest;
Ich weiß, daß nimmer deine Treue
Vom Freunde läßt.
Denn nicht ein blind Gefühl der Stunde,
Kein Zauber flücht'ger Sinnenglut,
Uns bindet, was im tiefsten Grunde
Der Seelen ruht.
Mag drum in Sehnsucht und Beschwerde
Noch manch verwaister Tag vergehn,
Mir sagt mein Genius: Ich werde
Dich wiedersehn.
[273]
Und all mein Leid wird von mir fallen,
Wenn mich dein Arm umschlungen hält,
Wie dort am Berg in Windeswallen
Der Nebel fällt.
Er fällt mit Hast, mich grüßt azuren
Der Himmel, wie dein Auge ganz,
Und in mein Herz und auf die Fluren
Strömt Sonnenglanz.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Aus verschollenen Tagen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BA39-D