An Klara

(im Namen einer Freundin, mit einer Schlummerdecke).


Hast du vom Teppich Salomos
Gehört die wundervolle Sage,
Dran in kristallner Grotte Schoß
Die Geister woben dreißig Tage?
Wer ihn betrat mit Zauberwort,
Den trug er durch die Lüfte fort,
Ein schwebend Schifflein rastlos fliegend,
In blauer Ätherflut sich wiegend.
Ich bin nicht König Salomo,
Auf dessen Wink Dämonen schreiten:
Drum mußt' ich selber still und froh
Den Schlummerteppich dir bereiten;
Doch hat auch hier ein Geist von oben,
Die Liebe hat mit dran gewoben.
Und sieh, mich dünkt, daß Liebeskraft
Wohl fast noch süßre Wunder schafft.
Denn wenn du tagesmatt die Glieder
Gehüllt in dies Gewebe kaum,
So kommen leise zu dir nieder
Die stillen Knaben Schlaf und Traum,
Mit lindem, kühlem Flügelschlagen
Ins Reich der Märchen dich zu tragen.
Da klingt's im Ohr dir wie ein Lied;
Ein Nebel reißt – dein Auge sieht,
Befreit von jeder dumpfen Hülle,
Erschlossen aller Wunder Fülle.
Was war, was ist, was kommen will,
Schaust du zugleich; die Zeit steht still.
Bei Frühlingsblüten glänzt im Laube
Die goldne Frucht, die glühnde Traube;
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Das Wissen der erfahrnen Brust
Verschmilzt mit reinster Jugendlust;
Du spürst im Herzen süßerschrocken
Der frühsten Liebesahnung Glanz,
Und doch in deines Kindes Locken
Drückst wonnig du den Myrtenkranz –
Geliebte, Mutter, Kind zugleich
Bist du unendlich froh und reich.
Und webt der Traum auch immer nicht
Solch unergründlich süß Gedicht,
So weiß er doch mit Elfenhänden
Willkommne Gabe stets zu spenden:
In Winters Schnee und rauher Luft
Umspielt er dich mit Veilchenduft;
Er weht dir in des Sommers Schwüle
Ums Haupt mit grüner Waldeskühle;
Die Lieben bringt er dir ins Haus,
Von denen dich die Welt geschieden;
Erquickung gießt er, gießet Frieden
Auf deine Wimpern lächelnd aus,
Und will die Brust die Sorge pressen,
Er schafft ein wundervoll Vergessen.
Das ist's, was ich in mir gedacht,
Als ich das Werk für dich vollbracht;
Und wirst du, holde Schläferin,
Den Zauber des Gewirks erproben,
Dann denke still in deinem Sinn:
Die Liebe hat ihn drein gewoben.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Juniuslieder. Gelegenheitsgedichte. Sprüche. Scherze. An Klara. An Klara. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BA81-7