Helle Nächte

Schweifst du noch immer dort oben,
Du von den Töchtern des Himmels
Mir die freundlichste, Abendröte?
Oder naht schon von ferne
Tagverkündend
Die prangende Schwester,
Die mit den Rosenfingern
Die Rosse des Helios anschirrt?
[403]
Nicht weiß ich's zu sagen;
Aber droben zwischen den Wolken
Seh' ich die weißen Ströme des Lichts.
So ist's auf der Höhe des Lebens
Dem sinnenden Manne,
Der mit ruhigem Auge
In die flutende Zeit hinausschaut
Und Vergangenes und Künft'ges
Still im Busen erwägt.
Allwärts schaut er
Unendliche Wandlung,
Aber trostlos lastendes Dunkel
Siehet er nicht;
Denn es reicht das Geschlecht dem Geschlechte
Segnend die Hand,
Von einem zum andern wandelt leise
Das heilige Feuer der Vesta,
Die erquickende Gabe des Lichts,
Und der kommende Tag
Zündet freudig die Fackel
An dem verlöschenden an.

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Gedichte. Juniuslieder. Buch der Betrachtung. Helle Nächte. Helle Nächte. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BACC-1