Herbstblätter

1.

Es hat das Meer mit seinem Wogenschlage,
Es hat der Wald mit seinen grünen Zungen
Bis diesen Tag dasselbe Lied gesungen,
Das einst sie angestimmt am Schöpfungstage.
Wie sich auch wandeln mocht' in Kampf und Plage
Die Welt umher, vom Menschenwitz bezwungen:
Noch klingt der Gruß, der dermaleinst erklungen,
Von Flut zu Flut, von Blatt zu Blatt im Hage.
Drum, wenn ich sinnen will von ew'gen Dingen,
Such' ich den alten Forst an hoher Küste,
Wo Meer und Wald ihr rauschend Wort verschlingen;
Mir ist es, wenn ich dort zum Werk mich rüste,
Als ob des Weltgeists Stimme zu mir dringen
Und mich sein Odem nah durchschauern müßte.

2.

Weil meine Muse nicht den wilden Trieben
Der Menge frönt in diesen wirren Tagen,
So hat sie früh gelernt dem Ruhm entsagen
Und ist in ihrer Stille gern geblieben.
Denn nicht verwechseln läßt sich's nach Belieben,
Wofür begeistert eine Brust geschlagen;
Und was ein Gott mich lehrt' im Herzen tragen,
Das kann mit meinem Herzen nur zerstieben.
[304]
Behagt mein Lied euch recht, so laßt mich gehen
Und horcht den Weisen andrer, die geschwinde
Nach eurer flücht'gen Gunst den Mantel drehen.
Ich singe dann den Wäldern und dem Winde,
Den lichten Sternen über blauen Seen,
Doch kann ich singen nur, was ich empfinde.

3.

Der Zweifel ist ein Falk mit scharfen Klauen;
Des Glaubens weiße Taube sieht er kaum,
So beizt er nieder durch den luft'gen Raum,
Die Krallen in ihr zitternd Fleisch zu hauen.
Da flockt zerrupft hernieder aus dem Blauen
Das schimmernde Gefieder Flaum für Flaum,
Mit jeder Feder fällt ein Gottestraum,
Und langsam blutet hin das Gottvertrauen.
Ein Engel sieht herab vom Himmelszelt
Und wendet trüb mit fragenden Gebärden
Das Angesicht empor zum Herrn der Welt.
Der aber spricht: Der Falk hat Macht auf Erden,
Doch seine Marken sind auch ihm bestellt;
Denn jede Taube kann zum Adler werden.

4.

Held Parzival, der Junge, kam zum Grale
Und wußt' es nicht, doch fühlt er ungesehen
Des Friedens Hauch in seinen Locken wehen,
Da man zu Montsalvatsch ihn speist' im Saale.
So saß auch ich einst an der Liebe Mahle,
Unwissend, welch ein Wunder mir geschehen;
Nur sah die Erd' ich licht in Blüten stehen,
Und Meer und Himmel glühn in ros'gem Strahle.
Weh, daß wie jener ich betört mich wandte
Und fortzog, um zu spät es zu empfinden,
Daß ich mich selbst von meinem Glück verbannte!
[305]
Nun schweif' ich durch die Welt mit allen Winden,
Doch ach, wohin ich auch die Segel spannte:
Mein Montsalvatsch konnt' ich nicht wiederfinden.

5.

In meinem Wald sind keine Vogelchöre,
Da nur verlorne Schimmer drinnen wanken;
Von Stamm zu Stamme wuchern dichte Ranken,
Und düster schatten drüber Buch' und Föhre.
Kaum ruft ein Hirsch, daß er das Schweigen störe,
Kaum rauscht ein welkes Blatt im Niederschwanken;
So stille wird es, daß ich die Gedanken
In meiner eignen Seele wandeln höre.
Da will ein Schauder oft ins Herz mir gleiten
Mit leisem Frost, als stünd' ich an den Türen,
Den eh'rnen, die ins Reich der Wunder gleiten.
Mir ist's – beginnt sich's dann im Laub zu rühren –
Es müss' hervor Virgil, der Hohe, schreiten,
Durch Hölle mich und Paradies zu führen.

6.

Ich habe viel versucht und hab' erfahren
Ein reich Geschick auf meinen Wanderzügen;
Ich sah den Bauer seine Scholle pflügen,
Und sah den reichen Städter sich gebaren.
Die Weisen sah ich und der Künstler Scharen
Sich ewig mühn und doch sich nie genügen;
Ich sah die Höfe sich am Prunk vergnügen;
Doch konnt' ich wenig Glückliche gewaren.
Mir selbst hat jene Glut die Brust beweget,
Die Liebe heißt, allein ich mußt' erproben,
Daß soviel Bittres sie wie Süßes hegt:
[306]
Drei Dinge nur vermog ich ganz zu loben,
Die stets zu echtem Heiligen Grund geleget:
Gesundheit, Mut und höhern Blick nach oben.

7.

Wie uns die Mutter auferzieht zum Leben,
Erzieht das Leben uns gemach zum Sterben;
Wir sollen einst den Scheidekelch, den herben,
Zu trinken wissen sonder Graun und Beben.
Drum heischt es, was es uns so reich gegeben,
Allmählich wieder und zerschlägt's in Scherben,
Der Leib wird siech, wie sich die Locken färben,
An tausend Schranken bricht des Geistes Streben.
Und wie der Pilger, dem auf tau'gen Wegen
Das Wandern eitel Lust schien in der Frühe,
Am Abend doch sich sehnt dem Ziel entgegen:
Verlangt's auch uns zuletzt ans Ziel der Mühe,
Und alle Rast erscheint uns als ein Segen,
Ob auch im Schatten sie des Todes blühe.

8.

Eins ist noch schlimmer, als den Damm durchstechen
Und plötzlich dann die Sturmflut meistern wollen:
Begeistrung wecken und, wenn angeschwollen
Im Volk sie herbraust, ihren Strom zerbrechen.
Denn einmal aufgewogt aus tausend Bächen,
Verlangt sie stolz und siegreich hinzurollen;
Du hemmst sie wohl, o Fürst, doch kehrt mit Grollen
Ihr Schwall sich wider dich und deine Schwächen.
Je sichrer sie dein Schifflein trug zur Stelle,
Wenn du sie nutztest, desto grimmer trachtet
Dich zu vernichten die gestaute Welle.
[307]
Schon manches Volk hat sich dem Ruhm geschlachtet,
Doch seines heiligsten Gefühles Quelle
Läßt keins vergeuden, das sich selbst noch achtet.

9.

Es türmt sich Not und Jammer unermessen
Vom Eispol bis zum Nil in weiter Runde,
Zwist, Aufruhr, Seuchen wandeln hin im Bunde,
Von Land zu Land der Städte Mark zu fressen.
Die Reb' ist schwarz, will sie der Winzer pressen;
Zermalmt vom Hagel liegt die Frucht am Grunde;
Die Luft trieft Feuer, und mit gier'gem Schlunde
Verschlingt die Woge, was die Glut vergessen.
So war es stets, wenn abendlich und bange
Die kalten Schatten auf den Erdkreis fielen
Von einer Weltzeit Sonnenuntergange.
Doch nicht an Zeichen, die aufs Ende zielen,
Glaubt dies Geschlecht und schreit im irren Drange
Am offnen Grabe nur nach Brot und Spielen.

10.

Wenn von der Zeit der sinkenden Cäsaren
Ich las, bevor die Stadt der Feinde Beute,
Im Geist erwägend, was die Welt erfreute,
Und was die Welt verstört in jenen Jahren:
So hat's mich oft wie jäher Schreck durchfahren;
Mir war's, als ob ein Spiegelbild des Heute
Aus der Geschichte mir entgegendräute
Und spräch': Ihr seid, was jene Römer waren.
So lag bei hohlem Wort die Zucht im Staube,
So ward der Seelen gottverlaßnes Bangen
Heut frecher Taumel, morgen Aberglaube.
[308]
So hielt der Schein jedwedes Sein gefangen,
Indes vom Nord her, schon bereit zum Raube,
Barbarenstämme dumpfen Schlachtruf sangen.

11.

Das ist der Bildung Fluch, darin wir leben,
Daß ihr das Beste untergeht im Vielen;
Mit jedem Elemente will sie spielen
Und wagt sich keinem voll dahinzugeben.
Kaum winkt ihr rechts ein Kranz, darnach zu streben,
So reizt ein neuer sie, nach links zu schielen;
Von Zweck zu Zweck gelockt, von Ziel zu Zielen,
Als Falter schwärmt sie, statt als Aar zu schweben.
Getaucht in alles und von nichts durchdrungen,
Preist sie sich reich, wenn folgsam jedem Stoße
Ein Maß buntscheckigen Wissens sie erschwungen.
Was Wunder, wenn bis heut aus ihrem Schoße
Nur Schwaches, Halbes, Einzelnes entsprungen!
Denn in sich ganz und einfach ist das Große.

12.

Der sei noch nicht des Lorbeers wert gehalten,
Zu dessen Wohllaut Ohr und Sinn sich neigen;
Dem Dichter sei der Blick des Sehers eigen,
Der fromm vertraut ist mit des Schicksals Walten.
Ihm muß im Kampf des Neuen sich und Alten
Durch alle Zeit des Lebens Werkstatt zeigen,
An Schuld und Sühnung muß sich ihm der Reigen
Der ew'gen Weltgesetze still entfalten.
Nur wenn er in sich trägt das Maß der Dinge,
Gebührt es ihm, daß er die Dinge schlichte,
Gelingt es ihm, daß er die Sphinx bezwinge.
Dann aber wird ihm alles zum Gedichte,
Denn alles wirkt und deutet mit im Ringe,
Und was er singt, ist wie die Weltgeschichte.

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TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Herbstblätter. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BC57-8