In der Ferne

Sag' an, du wildes, oft getäuschtes Herz,
Was sollen diese lauten Schläge nun?
Willst du nach so viel namenlosem Schmerz
Nicht endlich ruhn?
Die Jugend ist dahin, der Duft zerstob,
Die Rosenblüte fiel vom Lebensbaum;
Ach, was dich einst zu allen Himmeln hob,
Es war ein Traum.
Die Blüte fiel, mir blieb der scharfe Dorn,
Noch immer aus der Wunde quillt das Blut;
Es sind das Weh, die Sehnsucht und der Zorn
Mein einzig Gut.
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Und dennoch, brächte man mir Lethes Flut
Und spräche: »Trink, du sollst genesen sein,
Sollst fühlen, wie so sanft Vergessen tut«, -
Ich sagte: »Nein!«
War alles nur ein wesenloser Trug,
Er war so schön, er war so selig doch;
Ich fühl' es tief bei jedem Atemzug:
Ich liebe noch.
Drum laßt mich gehn, und blute still mein Herz;
Ich suche mir den Ort bei Nacht und Tag,
Wo mit dem letzten Lied ich Lieb' und Schmerz
Verhauchen mag.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. In der Ferne. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C0AF-7