Heimweh

O Heimatliebe, Heimatlust,
Du Born der Sehnsucht unergründet,
Du frommer Strahl, in jeder Brust
Vom Himmel selber angezündet,
Gefühl, das wie der Tod so stark
Uns eingesenkt ward bis ins Mark,
Das uns das Tal, da wir geboren,
Mit tausendfarb'gem Schimmer schmückt,
Und wär's im Steppensand verloren,
Und wär's von ew'gem Schnee gedrückt:
Wohl keinem ward zum tiefsten Grunde
Von deiner Allgewalt die Kunde,
Der pilgernd nie aus seinem Ohr
Der Muttersprache Laut verlor
Und nie, an fremder Tür gesessen,
Der Fremde bittres Brot gegessen.
Doch wer vom eignen Herd verbannt
Irrt in ungastlich fernem Land,
[271]
Der Wandrer, der auf wüstem Meer
Nur Luft und Wasser sieht umher,
Der Pilger, der mit kecken Sinnen
Durch Wälder, über Bergeszinnen
Auf irrem Pfad zu weit geschweift.
Der ist's, den deine Macht ergreift;
Doch wandelt ihm sich im Gemüte
Zum scharfen Dorn die Rosenblüte,
Du ziehst, o milde Heimatlust,
Als Heimweh durch die kranke Brust.
Dann bist du's, die im Frühlingswalde,
Im Veilchenhag, umspielt vom West,
Das arme Kind der eis'gen Halde
Nach seinem Norden schmachten läßt;
Dann bist du's, die mit herber Flamme
Des Polenflüchtlings Herz verzehrt,
Und die dem Sohn von Judas Stamme
Im Tod die Füße ostwärts kehrt,
Als möcht' er sterbend noch erstreben
Das Land, das ihm versagt im Leben;
Dann lockst du, klingt im Mondenglanze
Des Alphorns heimatsel'ger Gruß,
Zu Straßburg von der hohen Schanze
Den Schweizer in den wilden Fluß,
Und von den Klängen, von den Wogen
Wird er in seinen Tod gezogen.
Ich selber hab' in vor'gen Jahren
Dies wundersame Weh erfahren,
Da Ägeus' Flut wie lautres Gold
Zu meinen Füßen noch gerollt.
O, wohl ist's schön an jenem Meer!
Die schlanke Palme sah ich ragen,
Der Tempel Säulentrümmer lagen
Umblüht von Rosen um mich her;
Der Himmel wölbte sich kristallen,
Von Düften schien die Luft zu wallen,
[272]
Zu leisem Zitherschlag erklang
Vom Meer des Fischers Abendsang,
Der in der Bark' auf lichter Spur
Gen Salamis hinüberfuhr.
Und doch! ich fühlte keine Lust,
Es schlich ein krankhaft brennend Sehnen
Wie Fieberhauch durch meine Brust,
Und kaum erwehrt' ich mich der Tränen.
Ich saß auf zack'gem Fels und lauschte,
Ob nicht aus Nord ein Lüftchen rauschte;
Das sog ich durstig atmend ein,
Als ob's mich tief erquicken müßte;
Es konnte ja zur fernen Küste
Ein Gruß aus Deutschlands Wäldern sein.
Und ward es still, dann blickt' ich wieder
Hinab ins Buch auf meinen Knien
Und ließ die alten goldnen Lieder
Homers durch meine Seele ziehn;
Den eignen Schmerz dann fühlt' ich mit
Im Jammer, den der Dulder litt,
Ich sucht' ihn in des Sängers Tönen
Zugleich mit jenem zu versöhnen.
Da wurdest du in meinem Weh
Mir oftmals Hoffnung, Trost und Steuer,
Du ewig Lied der Abenteuer,
Du Lied des Heimwehs, Odyssee!

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Heimweh. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C151-2