Das Kind mit der Schere
»Kind«, hub die Mutter an, »eins mußt du mir versprechen:
Die Messer und die Gabeln stechen;
Drum rühre keins von beiden an.« –
»Allein die Schere, sollt' ich glauben,
Die könnten Sie mir wohl erlauben?«
»Nichts weniger; was dich verletzen kann,
Sieh' niemals als dein Spielwerk an.«
Das Kind gehorcht; doch ein geheimer Trieb
Und das Verbot verschönerten die Schere.
»Ja«, sprach es zu sich selbst, »wenn es die Gabel wäre,
Die hab' ich lange nicht so lieb,
So ließ' ich sie mit Freuden liegen.
Allein die Scher' ist mein Vergnügen,
Sie hat ein gar zu schönes Band.
Gesetzt, ich ritzte mich ein wenig in die Hand,
So hätte dies nicht viel zu sagen.
So klein ich bin, so hab' ich ja Verstand,
Und also werd' ich's immer wagen,
Sobald die Mutter nur die Augen weggewandt.
Doch nein, weil Kinder folgen müssen,
So wär' es ja nicht recht gethan.
Nein, nein, ich sehe dich bloß an;
O schöne Schere, laß dich küssen!
Ich rühre ja kein Messer an,
So werd' ich doch –« Schon griff es nach der Schere.
»Ja, wenn ich unvorsichtig wäre,
Da freilich schnitte mich die Schere;
[205]Allein ich bin ja schon mit ihr bekannt.«
So sprach's und schnitt sich in die Hand.
Die Mutter kam. O welche harte Lehre!
»Ach«, hub das Kind fußfällig an,
»Es kränkt mich sehr, daß ich's gethan.
Ich bitte Sie, zerbrechen Sie die Schere,
Damit ich sie nicht mehr begehre
Und ohne Zwang gehorchen kann.«
Oft sind wir Menschen dieses Kind.
Versehn mit billigen Gesetzen,
Die göttlich und uns heilsam sind,
Scheut sich das Herz, sie alle zu verletzen.
Wir unterlassen, wie das Kind,
Die Dinge, die wir wenig schätzen,
Um die zu thun, die uns am liebsten sind.
Die Reue kommt. Wir sehn, wie sehr wir fehlen;
Dann denken wir, dann beten wir als Kind.
Was heißt in vieler tausend Seelen:
Bewahre mich, o Gott, vor dieser Missetat!
Was heißt es? Wehre mir das Wählen,
Damit mein Herz den Zwang nicht nötig hat.