Der wunderbare Traum

Aus einem alten Fabelbuche,
(Der Titelbogen fehlt daran,
Sonst führt' ich's meinen Lesern an)
Aus dem ich mich Rats zu erholen suche,
Wenn ich selbst nichts erfinden kann;
Aus diesem alten deutschen Buche,
Das mir schon manchen Dienst gethan,
Will ich mir einen Traum erwählen.
Als ich einmal, so fängt mein Autor an
Nach seiner Weise zu erzählen,
[163]
In einer Kirche saß, so fiel mir jähling ein:
Wer mag von so viel tausend Seelen,
Die diesen Ort zu ihrer Andacht wählen,
Doch wohl die frömmste Seele sein?
In den Gedanken schlief ich ein
Und sah im Traum vor mir des Tempels Schutzgeist stehen:
»Du«, sprach er, »wünschest dir das frömmste Herz zu sehen?«
Und rühmte mein Gesicht mit seiner Rechten an.
Mir kam, sobald er dies gethan,
Ein sanfter kalter Schauer an,
Und plötzlich sah ich mich in heil'gem Glanze stehen.
»Fang an«, sprach er, »die Kirche durchzugehen:
Der, den dein Glanz so rührt, daß er dich dreimal küßt,
Der hat das frömmste Herz, das hier zu finden ist.«
Ich ging, um es recht bald zu wissen,
In dem empfangnen Glanz hart vor der Sakristei
Einmal und noch einmal vorbei,
Weil mir es schien, als wollte man mich küssen
Ich wartete noch eine gute Frist
Und ward einmal, allein ganz kalt geküßt.
Ich ging darauf in die Kapellen,
In denen ich die frömmsten Mienen fand,
Und alles schien sich aufzuhellen.
Man lächelte, man tat galant,
Und küßte mir zur Not die Hand.
Drauf ließ ich mich auf einer höhern Bühne
Gesichern voll von Ernst und tiefer Weisheit sehn.
Ich blieb ein feines Weilchen stehn:
Sie sahn mich an und machten eine Miene,
Als ob sie sich an mir schon satt gesehn;
Und ungeküßt mußt' ich von dannen gehn.
Ich stellte mich nun vor die niedern Stände.
Hier warfen mir viel weiße Hände
Da einen Kuß, dort einen zu.
Ich ließ mein Auge lange fragen:
Ach, gutes Herz! wo wohnest du?
[164]
Allein man wollt' es nicht, mich zu umarmen, wagen
Und ich ging ganz betrübt auf meinen Schutzgeist zu,
Mein traurig Schicksal ihm zu klagen.
Indem, daß ich noch durch die Halle schlich,
Sah mich in einem schlechten Kleide
Ein liebes Mädchen an, und seht! sie küßte mich
Mit einer plötzlichen und unschuldsvollen Freude;
Und eh' ich noch von ihr den dritten Kuß erhielt:
So fühlt' ich schon die sel'gen Triebe
Der Redlichkeit und Menschenliebe
So stark in mir, als ich sie nie gefühlt.
»Ein Mädchen«, rief ich aus, »an das die Welt kaum dachte,
Besitzt das beste Herz?« Ich rief es und erwachte.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Gellert, Christian Fürchtegott. Fabeln und Erzählungen. Fabeln und Erzählungen. Zweites Buch. Der wunderbare Traum. Der wunderbare Traum. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C434-6