[72] [75][Weitere Idyllen und Gedichte]

1762.

Mirtil und Daphne

Mirtil.


Schon so fryhe, meine Schwester! Noch ist die Sonne nicht hinterm Berg hervor. Kaum hat die Schwalbe ihren Gesang angefangen, der fryhe Hahn hat kaum noch den Morgen gegryßt, und du bist schon in den Thau hinausgegangen. Was willst du heute fyr ein Fest bereiten, daß du so fryhe dein Kœrbgen voll Blumen sammelst?


Daphne.


Sey mir gegryßt, geliebter Bruder! Woher am feuchten Morgen? Was beginnest du in der stillen Dæmmerung? Ich habe hier Veilchen gesucht und Majen-Blumen und Rosen, und will izt, da unser Vater und unsere Mutter noch schlafen, will ich sie auf ihr Beth hinstreuen, dann werden sie unter lieblichen Gerychen erwachen und sich freuen, wenn sie mit Blumen sich umstreuet sehn.


Mirtil.


O du geliebte Schwester! Mein Leben lieb ich nicht so sehr, wie ich dich liebe! Und ich, du weissest es, Schwester! gestern, beym Abend-Roth, als unser Vater nach unserm Hygel hinsah, auf dem er oft ruhet; lieblich wær es, so sprach er, styhnd eine Laube dort, die uns in ihren Schatten næhme. Ich hœrt' es, und that als hætt' ichs nicht gehœrt; aber fryh vor der Morgen-Sonne gieng ich hin, und baute die Laube, und band die flatternden Hasel-Stauden an ihren [75] Seiten fest. O meine Schwester! sieh hin, die Arbeit ist vollendet; verrathe nichts, bis er es selber sieht; der Tag soll uns voll Freude seyn!


Daphne.


O mein Bruder! wie angenehm wird er erstaunen, wenn er die Laube von ferne sieht! Izt geh ich hin, schleiche leise zu ihrem Beth mich hin, und streue diese Blumen um sie her.


Mirtil.


Wenn sie unter den lieblichen Gerychen erwachen, dann werden sie mit freundlichem Læcheln sich ansehn, und sagen: Das hat Daphne gethan; wo ist sie? das beste Kind! Sie hat fyr unsre Freude vor unserm Erwachen gesorgt.


Daphne.


Und Bruder! Wenn er denn vom Fenster her die Laube sieht. Wie trieg ich mich? so sagt er dann, eine Laube steht dort auf dem Ryken des Hygels! Gewiß! die hat mein Sohn gebaut. Gesegnet sey er! Ihn hælt' die Ruhe der Nacht nicht ab, fyr unsers Alters Freude zu sorgen! Dann, Bruder! dann ist uns der ganze Tag voll Wonne. Denn wer am Morgen was gutes beginnt, dem gelingt alles besser, und auf jeder Staude wæchßt ihm Freude.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Gessner, Salomon. Gedichte. Idyllen. [Weitere Idyllen und Gedichte]. Mirtil und Daphne. Mirtil und Daphne. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D5B6-A