Ein Vernünftiger

Auf der Straße da hört' ich ein wildes Geschrei:
»Ein Vernünftiger! Leute, o seht doch!
O, über den Spaß! Ein Vernünft'ger! Herbei!
Jetzt fällt er! Juchhe! Nein, er steht noch!«
Und da kam man, um dieses Spektakel zu sehn,
Von nah und von fern her gelaufen,
Und auch ich, neugierig auf das, was geschehn,
War bald in dem lustigen Haufen.
Ich erblickte ein Wesen, mehr Mensch, als Kalb,
Das dem Fortschritt nicht sonderlich traute
Und die Welt um sich her sehr blasirt und mit halb
Aufgeschlagenen Augen beschaute;
Ein Wesen vom starken Geschlecht, das gelenkt
Mehr durch höh're, als eigene Macht schien
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Und, den Kopf nach dem Busen hinuntergesenkt,
Auf Nichts, als auf – gar Nichts bedacht schien.
Es bewahrte den Ernst sich, den würdigsten, wie
Sich mehrte auch rings das Gekicher;
Und, wie es auch wankte und schwankte, sein
physiologisches Urtheil war sicher:
Es bezeichnete alle die Gaffenden dort
Durch ein aus ermatteter Kehle
Und mit schwerester Zunge gelalletes Wort,
Durch das sehr injuriöse: »Kameele!«
Und in dieser Kritik, repetirt oft, da kam
Ihm der Schlaf an, erschöpfte sein Geist sich!
Er wollt' auf der Straße zu Bett und benahm
Einleitend das cynisch und dreist sich!
Doch genug, denn ich darf die Erkenntniß baß
Meines irdischen Lesers verhoffen,
Daß das fragliche Wesen dasselbe war, was
Auf der Erde man heißet: besoffen.
Wir ließen's nun schlafen und trollten uns fort;
Doch als nach verbummelter Stunde
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Der Zufall mich führte zurück an den Ort,
Da stand in der Gaffenden Runde
Der Trunk'ne und rief mit dem trübsten Gesicht:
»O weh' mir, ich fühle mich nüchtern!
So nüchtern wie Ihr fast, das Anstandsgezücht
Mit den unzüchtig zücht'genden Züchtern!
Ihr Philister, gepeinigt, gedrückt und gezwickt
Durch das längst von dem Geiste Begrab'ne!
Ihr Sitten-Kameele, Ihr, die Ihr erstickt
Alles Sittlich-Große, Erhab'ne!
Verkehrtes Gezücht in dem stinkenden Dust
Der Gespenster und Götzen erblindet,
Das mit müffig-muftig-verschimmeltem Wust
Den Genius, den eigenen, schindet!
Deß Despot der Betrug und deß Vater der Wahn,
Und deß zippe Mama Heuchelei ist;
Das den Unsinn vergöttert, dem die Schönheit profan,
Das Gemeine der köstlichste Brei ist;
Dem der frohe Genuß schnapp! weg vor dem Maul
Von den frechsten Pygmäen geschnappt wird,
Und das, um sich selbst zu beherrschen zu faul,
Zu Tode geschützt und gepappt wird!
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Ich muß mich von Euch, Ihr Kameele, befrei'n!
Ihr seid mir zu fürchterlich nüchtern!
Und da's leider unmöglich den göttlichen Wein
In das wäss'rige Haupt Euch zu trichtern,
So will ich mich benebeln, so oft ich's vermag,
Und beseligt mich über Euch schwingen,
Und versaufen die Nacht und verschlafen den Tag,
Und um's schnöde Bewußtsein mich bringen!«
Und damit entfernte er sich und verschwand
In der Wein-Apotheke daneben.
Und ein hochweiser Bürger, der hinter mir stand,
Thät folgendes Votum abgeben:
»Es wär' gut, wenn der Mann erst ganz und gar
Ausschlief, eh' er predigte künftig!
Lichtblicke, die hatte er wohl, doch er war
Noch immer ein Bischen vernünftig.«

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TextGrid Repository (2012). Glaßbrenner, Adolf. Gedichte. Die Verkehrte Welt. Sechszehntes Kapitel. Ein Vernünftiger. Ein Vernünftiger. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D747-5