2. Der Hund und der Wolf

Ein armer magrer Wolf, der wenig Lämmer stahl,
Begegnete, bergab, in einem engen Thal,
Einst eines reichen Mannes Hund,
Mit Namen Sigismund.
Ei! denkt der Wolf, wär' ich entkräftet nicht;
An diesem Herrn wollt' ich mich rächen
Für manchen bösen Biß. O du! du Bösewicht!
Er denkt's! er wagt's nicht auszusprechen.
So freundlich, als wenn er
Sein Freund, sein treuer Bruder wär',
Spricht er zum Hunde:
Schöner Hund,
Gott grüß euch! sehr gesund
Seht ihr mir aus, ihr wohlgepflegeter,
Ihr schöner, lieber Hund!
Was euch so schön macht und so rund,
Ach! das kommt nicht in armer Wölfe Mund!
Und wer ist schuld daran, fragt Bruder Sigismund,
Daß ihr so fett nicht seid, wie wir?
Warum behaltet ihr
Zu eurem Aufenthalt
Den öden Wald?
[122]
In dem ihr euch so kümmerlich müßt nähren,
Den eine ganze Nacht ihr oft durchtraben müßt,
Euch einen halben Tag des Hungers zu erwehren?
Und oft auch kommt es wohl, daß es nicht möglich ist!
Ein besser Los erwählten wir,
Als wir den öden Wald verließen!
Der Mensch ist ein gesellig Tier;
Was er genießt, läßt er uns mit genießen;
Und wenn an seinem Tisch er etwa Gäste hat,
Dann macht er uns und sie mit Leckerbissen satt!
Ei! Lieber, sagt, ich bitte, mir,
Was thut ihr ihm dafür?
Nichts, gar nichts! sagt der Hund; wir bellen nur ein wenig
Und haben unser Fest,
So bald ein Bettler, Bauer oder König
Vor seiner Thür sich sehen läßt!
Auch schmeicheln wir dem Herrn im Hause,
Wir schmausen hoch, bei seinem Schmause!
Kurz, armer Freund, wir sind des Menschen treue Diener,
Dagegen nehmen wir mit Knochen junger Hühner
Und zarter Tauben gern fürlieb – –
Das thät' ich auch! versetzt der arme Lämmerdieb
Und geht sogleich den Weg zum Herrn des Hundes mit.
Gesellig gehen sie, wie Brüder, einen Schritt.
Nicht lange: denn der Wolf, der so gesellig trabt,
Betrachtet seinen Freund, sieht seinen Hals geschabt,
Fragt: Was? was ist denn das,
Am Halse da? – Nun! eine Kleinigkeit!
Mein altes Halsband war zu enge;
Mein neues, das ist weit!
Ein Halsband? Ist dein Herr so strenge?
Legt er dich an? – Nicht allezeit;
[123]
Nur dann und wann, der Kinder wegen –
Daran ist nichts gelegen.
Nichts? Bruder, nichts? Die Sklaverei macht Reude!
Geh du bei deinem Herrn zu schmausen, ich beneide
Dich nicht um deines Schmauses Freude!
Geh! Freiheit ist ein edles Gut!
Sie giebt Vernunft und Lebenslust und Mut!
Der wäre wohl recht dumm, der dich beneiden könnte!
Sprach Freimann Wolf, und lief, als wenn der Kopf ihm brennte,
Den Weg zur Freiheit! – –
Warte doch!
Rief Sigismund. Der Wolf, in seinem Elemente,
Sah sich nicht um, lief fort, und läuft wohl noch!

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig. Gedichte. Fabeln. Viertes Buch. 2. Der Hund und der Wolf. 2. Der Hund und der Wolf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D7D4-7