Auf einem Spaziergange zum Garten erzählt ein Vater seinem Sohne die Fabel:


8. Von der Eichel und dem Kürbis

Sohn, mit Weisheit und Verstand
Ordnete des Schöpfers Hand
Alle Dinge. Sieh umher!
Keines steht von ohngefähr,
Wo es steht! Das Firmament,
Wo die große Sonne brennt,
Und der kleinste Sonnenstaub,
Deines Atems leichter Raub,
Trat, auf unsers Gottes Wort,
Jegliches an seinen Ort.
Jedes Ding in seiner Welt
Ist vollkommen; dennoch hält
Mancher Thor es nicht dafür,
Und kunstrichtet Gott in ihr!
So ein Thor war jener Mann,
Den ich dir nicht nennen kann,
Der, als er an schwachen Ranken
Einen Kürbis hangen sah,
Groß und schwer, wie deiner da,
Den du selbst gezogen hast,
Den verwegenen Gedanken
Hegte: Nein, solch eine Last
Hätt' ich an so schwaches Reis
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Wahrlich doch nicht aufgehangen!
Mancher Kürbis, gelb und weiß,
Reih' bei Reih, in gleichem Raum,
Hätte sollen herrlich prangen,
Hoch am starken Eichenbaum!
Also denkend geht er fort,
Und gelanget an den Ort
Einer Eiche; lagert sich
Längelang in ihren Schatten,
Und schläft ein. –
Die Winde hatten
Manchen Monat nicht geweht;
Aber, als er schläft, entsteht
In der Eiche hohem Wipfel
Ein Gebrause; starke Weste
Schütteln ihre vollen Äste;
Plötzlich stürzt, von dem Bewegen,
Prasselnd ein geschwinder Regen
Reifer Eicheln von dem Gipfel.
Viele liegen auf dem Grase,
Aber eine fällt gerade
Dem Kunstrichter auf die Nase!
Plötzlich springt er auf und sieht,
Daß sie blutet: dieser Schade
Geht noch an! denkt er, und flieht,
Und bereuet auf der Flucht
Den Gedanken, welcher wollte,
Daß der Eichbaum eine Frucht,
Gleich dem Kürbis, tragen sollte.
Traf ein Kürbis mein Gesicht
Sprach er, nein, so lebt' ich nicht!
O wie dumm hab' ich gedacht!
Gott hat Alles wohl gemacht!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Gleim, Johann Wilhelm Ludwig. Gedichte. Fabeln. Viertes Buch. 8. Von der Eichel und dem Kürbis. 8. Von der Eichel und dem Kürbis. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-D889-7