[202] An die Dichtkunst

1817.


Selten nur hab' ich von dir im langen Leben gesprochen,
Denn der Geweiheten sind überall wenige nur.
Jetzt laß zu dir selbst zum letzten male mich reden,
Ehe die Stimme mir noch röchelnd im Munde erstirbt.
Liebt' ich dich nicht schon als halb erwachsener Knabe
Mehr als Ball und Roß, mehr als der Jagden Hallo?
Ich erinnre mich nicht, daß mehr mich etwas entzückte;
Außer mein Mädchen allein, und der erprobete Freund.
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Unser Bund war doch der treuesten einer auf Erden!
Nicht der Durst nach Gold, nicht die Begierde nach Macht,
Nicht ein glänzender Hof, nicht freundliche Worte der Fürsten,
Nicht der Geschäfte Gewicht, konnten dich trennen von mir.
Aber du hast mir auch die Treue reichlich belohnet:
Freuden, wie du sie gewährst, schenkten die Fürsten mir nicht.
Ein so zartes Gefühl, wie du im Herzen gebierest,
Ruhe, wie du sie verleihst, kaufte noch keiner für Gold.
Und was kann denn sonst der Mensch auf Erden sich wünschen?
Ist auch dieß nicht Glück: Wahrlich! so gibet es keins.
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Meine Liebe zu dir erzeugte die Liebe zur Weisheit,
Und den dornigten Pfad hat sie mit Rosen bestreut.
Hätte kein Glücklicher noch auf Erden gewandelt, so müßt' ich
Als den ersten mich preisen am Ende der Bahn.
Freilich hab' auch ich geseufzt und Thränen vergossen,
Denn der Tod hat mir Freund' und Geliebte entführt.
Zweimal stand ich selbst, doch ruhig, am Thore des Todes,
Denn ich wußt', auch dort fänd' ich sie wieder, und dich.
Fünfmal drohete mir Verlust des Lichtes der Augen.
Kannst du durch Gesang Ossian, Milton, Homer,
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Pfeffel und Gleim 1 nicht gleichen, so kannst du doch dulden wie diese;
Wenn du erblindest, vergißt dieß sich bei ihrem Gesang'!
So, du schönste der schönen Künste, so hast du
Mich getröstet, und oft Schmerzen vertrieben und Furcht.
Zwar der Gallier nahm die Hälfte meines Vermögens,
Und – das köstlichste mir! auch meiner Ruhe sogar.
Doch auch da hast du mich Traurenden nimmer verlassen,
Durch die Harfe Young's gütig beschwichtigt den Gram.
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Wog ich Leben und Tod mit der Unsterblichkeit Wage,
O wie dünkte mich dann leben und sterben so leicht!
Lärmt' im unteren Stock' bei meinem Weine der Franzmann,
Hatt' ich im oberen nur Ohren für deinen Gesang.
In der wirklichen Welt war nirgend mehr Freude zu finden,
Vor Napoleon war sie in die Wüste geflohn.
In die Welt der Ideale versetzet auf deinen
Flügeln, vergaß ich es bald, daß ich auf Erden noch war.
Daß ich in dreißig Jahren nicht dreißig Opfer dir brachte,
Sey dir ein Beweis meiner Verehrung für dich.
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Was ich zu geben vermochte, war deiner und meiner nicht würdig,
Mindestens weniger noch als was ich brachte zuvor.
Endlich sind zwar Zeit und Wille wiedergekehret,
Doch als schwacher Greis kann ich nichts geben, als Dank.
Könnt' ich noch einmal zum jungen Manne mich machen,
Wär's allein, um dir bessere Opfer zu weihn.
Nichts kann, außer dir, die Mühe zu leben belohnen,
Als nur die Natur, eine Geliebte, ein Freund.
Doch sie alle, auch dich, werd' ich in Kurzem verschönert
Wiederfinden; von dir trenn' ich mich aber zuletzt.

Fußnoten

1 Pfeffel ward schon in seiner Jugend blind, Gleim erst im hohen Alter.

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TextGrid Repository (2012). Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von. Gedichte. Elegien. An die Dichtkunst. An die Dichtkunst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E070-7