[80] Bey dem frühzeitigen Hintritte eines jungen Gelehrten

Im Jahre 1732, den 29 September.


I.f.N.


Wie sehr, o Mensch! vergehst du dich
Mit deinen weitgestreckten Blicken!
Du wähnst und hoffst, es müsse sich
Nach deinen kühnen Wünschen schicken;
Du willst dich von der Menschlichkeit
Vor Uebermuth und Stolz entfernen,
Und steckest aus Verwägenheit
Dein Ziel oft über allen Sternen;
Bis unverhofft die Todesnacht
Dir Blick und Ziel zu schanden macht.
Bald willst du dir dein Marmorhaus
Bis über alle Wolken bauen:
Doch mußt du der Verwesung Graus
Vor halb vollbrachter Arbeit schauen.
Bald willst du dir der Erden Mark
Durch deiner Schlösser Stahl versichern:
Indeß umschließt dich selbst dein Sarg
Mit unverhofften Grabetüchern.
Dann schluckt der Abgrund Fleisch und Bein,
Statt des geraubten Goldes, ein.
Der eine Thor läßt Speis und Trank
Aus Osten, Süd und Westen bringen.
[81]
Kaum ist er satt, so wird er krank;
So will ihn selbst die Gruft verschlingen.
Ein andrer klimmt sich an den Thron
Der kleinen Götter dieser Erden,
Und will, wo nicht ihr liebster Sohn,
Doch Freund und Rath und Diener werden:
Jedoch, eh ihn das Glück gekannt,
Bedeckt ihn schon des Grabes Sand.
Will mancher nicht durch Brand und Mord
Den halben Erdkreis wüste machen?
Doch muß er unversehens fort,
Und wirkt der frohen Welt ein Lachen.
Ward nicht der tollen Herrschsucht gar
Die weite Menschenwelt zu enge?
Doch eh sie damit fertig war,
Begieng man schon ihr Leichgepränge;
Und so blieb auch der sichre Mond
Von ihrer Waffen Wuth verschont.
O! dörfte nur die Tugend nicht
Der Todessichel unterliegen;
Und könnte nur der Weisheit Licht
Der Gräber Finsterniß besiegen!
Doch dieser unumschränkten Macht
Kann keines Menschen Stärke pochen:
Auch hier wird oft durch Tod und Nacht
Der schönste Vorsatz unterbrochen:
Auch wer nach Witz und Klugheit strebt,
Hat oft zu zeitig ausgelebt.
Erblaßter = =! werther Freund!
Du frühes Beyspiel dieser Klagen!
[82]
Wer hätt es wohl so bald gemeynt,
Dich in die kühle Gruft zu tragen?
Was hilfts, daß dein bemühter Fleiß
Den Wissenschaften nachgerungen;
So, daß Minervens Lorberreis,
Schon dein gelehrtes Haupt umschlungen?
Was hilft dir aller Musen Gunst?
Der Tod fragt nichts nach Geist und Kunst.
Dein sanftes Wesen, dein Gemüth,
Dein tugendhaftes stilles Leben,
Hat in der Welt umsonst geblüht,
Und kann ihr keine Früchte geben.
Drum klagt, wer dich nur halb gekannt,
Drum müssen deine Freunde weinen:
Denn wer dich liebenswürdig fand,
Mag hier nicht unempfindlich scheinen.
Mir selbst ist herzlich leid um dich,
Mein Jonathan, mein andres Ich!
Ihr, theuren Aeltern, thut zwar recht,
Daß ihr den liebsten Sohn beklaget;
Zumal ihr euer ganz Geschlecht
Mit ihm zugleich zu Grabe traget.
Doch denkt an den, der ihn geraubt;
Ists nicht der Vater aller Liebe?
Da gehts ihm besser, als ihr glaubt;
Als wenn er länger bey uns bliebe:
Da werdet ihr, nach kurzem Flehn,
Ihn voller Freuden wieder sehn.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Gottsched, Johann Christoph. Gedichte. Gedichte. Oden. Bey dem frühzeitigen Hintritte eines jungen Gelehrten. Bey dem frühzeitigen Hintritte eines jungen Gelehrten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E49B-7