282. Weberndes Flammenschloß

In Tirol auf einem hohen Berg liegt ein altes Schloß, in welchem alle Nacht ein Feuer brennt; die Flamme ist so groß, daß sie über die Mauern hinausschlägt und man sie weit und breit sehen kann. Es trug sich zu, daß eine arme Frau, der es an Holz mangelte, auf diesem Schloßberge abgefallene Reiser zusammensuchte und endlich zu dem Schloßtor kam, wo sie aus Vorwitz sich umschaute und endlich hereintrat, nicht ohne Mühe, weil alles zerfallen und nicht leicht weiterzukommen war. Als sie in den Hof gelangte, sah sie eine Gesellschaft von Herren und Frauen da an einer großen Tafel sitzen und essen. Diener warteten auf, wechselten Teller, trugen Speisen auf und ab und schenkten Wein ein. Wie sie so stand, kam einer der Diener und holte sie herbei, da ward ihr ein Stück Gold in das Schürztuch geworfen, worauf in einem Augenblick alles verschwunden war und die arme Frau erschreckt den Rückweg suchte. Als sie aber den Hof hinausgekommen, stand da ein Kriegersmann mit brennender Lunte, den Kopf hatte er nicht auf dem Halse sitzen, sondern hielt ihn unter dem Arme. Der hub an zu reden und verbot der Frau, keinem Menschen, was sie gesehen und erfahren, zu offenbaren, es würde ihr sonst übel ergehen. Die Frau kam, noch voller Angst, nach Haus, brachte das Gold mit, aber sie sagte nicht, woher sie es empfangen. Als die Obrigkeit davon hörte, ward sie vorgefordert, aber sie wollte kein Wort sich verlauten lassen und entschuldigte sich damit, daß, wenn sie etwas sagte, ihr großes Übel daraus zuwachsen würde. Nachdem man schärfer mit ihr verfuhr, entdeckte sie dennoch alles, was ihr in dem Flammenschloß begegnet war, haarklein. In dem Augenblick aber, wo sie ihre Aussage beendigt, war sie hinwegentrückt, und niemand hat erfahren können, wo sie hingekommen ist.

Es hatte sich aber an diesem Ort ein junger Edelmann ins zweite Jahr aufgehalten, ein Ritter, wohlerfahren in allen Dingen. Nachdem er den Hergang dieser Sache erkündet, machte er sich tief in der Nacht mit seinem Diener zu Fuß auf den Weg nach dem Berg. Sie stiegen mit großer Mühe hinauf und [276] wurden sechsmal von einer Stimme davon abgemahnt: sie würden's sonst mit großem Schaden erfahren müssen. Ohne aber darauf zu achten, gingen sie immer zu und gelangten endlich vor das Tor. Da stand jener Kriegersmann wieder als Schildwache und rief wie gebräuchlich: »Wer da?« Der Edelmann, ein frischer Herr, gab zur Antwort: »Ich bin's.« Das Gespenst fragte weiter: »Wer bist du?« Der Edelmann gab diesmal keine Antwort, sondern hieß den Diener das Schwert herlangen. Als dieses geschehen, kam ein schwarzer Reiter aus dem Schloß geritten, gegen welchen sich der Edelmann wehren wollte; der Reiter aber schwang ihn auf sein Pferd und ritt mit ihm in den Hof hinein, und der Kriegsmann jagte den Diener den Berg hinab. Der Edelmann ist nirgends zu finden gewesen.

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. Sagen. Deutsche Sagen. Erster Band. 282. Weberndes Flammenschloß. 282. Weberndes Flammenschloß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0194-4