259. Doppelte Gestalt

Ein Landfahrer kam zu einem Edelmann, der mit langwieriger Ohnmacht und Schwachheit behaftet war, und sagte zu ihm: »Ihr seid verzaubert, soll ich Euch das Weib vor Augen bringen, das Euch das Übel angetan?« Als der Edelmann einwilligte, sprach jener: »Welches Weib morgen in Euer Haus kommt, sich auf den Herd zum Feuer stellt und den Kesselhaken mit der Hand angreift und hält, die ist es, welche Euch das Leid angetan.« Am andern Tag kam die Frau eines seiner Untertanen, der neben ihm wohnte, ein ehrliches und frommes Weib, und stellte sich dahin genau auf die Weise, wie der Landfahrer vorhergesagt hatte. Der Edelmann verwunderte sich gar sehr, daß eine so ehrbare, gottesfürchtige Frau, der er nicht übelwollte, so böse Dinge treiben sollte, und fing an zu zweifeln, ob es auch recht zugehe. Er gab darum seinem Diener heimlichen Befehl, hinzulaufen und zu sehen, ob diese Nachbarin zu Hause sei oder nicht. Als dieser hinkommt, sitzt die Frau über ihrer Arbeit und hechelt Flachs. Er heißt sie zum Herrn kommen, sie spricht: »Es wird sich ja nicht schicken, daß ich so staubig und ungeputzt vor den Junker trete.« Der Diener aber sagt, es habe nichts zu bedeuten, sie solle nur eilig mit ihm gehen. Sobald sie nun in des Herrn Türe trat, verschwand die andere [260] als ein Gespenst aus dem Saal, und der Herr dankte Gott, daß er ihm in den Sinn gegeben, den Diener hinzuschicken, sonst hätte er auf des Teufels Trug vertraut und die unschuldige Frau verbrennen lassen.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. 259. Doppelte Gestalt. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-08A0-C