444. Karls Heimkehr aus Ungerland

König Karl, als er nach Ungarn und Walachei fahren wollte, die Heiden zu bekehren, gelobte er seiner Frauen, in zehn Jahren heimzukehren; wäre er nach Verlauf derselben ausgeblieben, so solle sie seinen Tod für gewiß halten. Würde er ihr aber durch einen Boten sein golden Fingerlein zusenden, dann möge sie auf alles vertrauen, was er ihr durch denselben entbieten lasse. Nun geschah es, daß der König schon über neun Jahre ausgewesen war, da hob sich zu Aachen an dem Rhein Raub und Brand über alle Länder. Da gingen die Herren zu der Königin und baten, daß sie sich einen andern Gemahl auswählte, der das Reich behüten könnte. Die Frau antwortete: »Wie möcht [410] ich so wider König Karl sündigen und meine Treue brechen! So hat er mir auch das Wahrzeichen nicht gesandt, das er mir kundtät, als er von hinnen schied.« Die Herren aber redeten ihr so lange zu, weil das Land in dem Krieg zugrund gehen müsse, daß sie ihrem Willen endlich zu folgen versprach. Darauf wurde eine große Hochzeit angestellt, und sie sollte über den dritten Tag mit einem reichen König vermählt werden.

Gott der Herr aber, welcher dies hindern wollte, sandte einen Engel als Boten nach Ungerland, wo der König lag und schon manchen Tag gelegen hatte. Als König Karl die Kundschaft vernommen, sprach er: »Wie soll ich in dreien Tagen heimkehren, einen Weg, der hundert Raste lang ist und fünfzehn Raste dazu, bis ich in mein Land komme?« Der Engel versetzte: »Weißt du nicht, Gott kann tun, was er will, denn er hat viel Gewalt. Geh zu deinem Schreiber, der hat ein gutes, starkes Pferd, das du ihm abgewinnen mußt; das soll dich in einem Tage tragen über Moos und Heide bis in die Stadt zu Raab, das sei deine erste Tagweide. Den andern Morgen sollst du früh ausreiten, die Donau hinauf bis gen Passau; das sei deine andere Tagweide. Zu Passau sollst du dein Pferd lassen; der Wirt, bei dem du einkehrest, hat ein schön Füllen; das kauf ihm ab, es wird dich den dritten Tag bis in dein Land tragen.«

Der Kaiser tat, wie ihm geboten war, handelte dem Schreiber das Pferd ab und ritt in einem Tag aus der Bulgarei bis nach Raab, ruhte über Nacht und kam den zweiten Tag bei Sonnenschein nach Passau, wo ihm der Wirt gutes Gemach schuf. Abends, als die Viehherde einging, sah er das Füllen, griff's bei der Mähne und sprach: »Herr Wirt, gebt mir das Roß, ich will es morgen über Feld reiten.« – »Nein«, sagte dieser; »das Füllen ist noch zu jung, Ihr seid ihm zu schwer, als daß es Euch tragen könnte.« Der König bat ihn von neuem; der Wirt sagte: ja, wenn es gezäumt oder geritten wäre. Der König bat ihn zum drittenmal, und da der Wirt sah, daß es Karl so lieb wäre, so wollte er das Roß ablassen; und der König verkaufte ihm dagegen sein Pferd, das er die zwei Tage geritten hatte und von dem es ein Wunder war, daß es ihm nicht erlag.

Also machte sich der König des dritten Tages auf und ritt schnell und unaufhaltsam bis gen Aachen vor das Burgtor, da [411] kehrte er bei einem Wirt ein. Überall in der ganzen Stadt hörte er großen Schall von Singen und Tanzen. Da fragte er, was das wäre. Der Wirt sprach: »Eine große Hochzeit soll heute ergehen, denn meine Frau wird einem reichen König anvermählt; da wird große Kost gemacht und Jungen und Alten, Armen und Reichen Brot und Wein gereicht und ungemessen Futter vor die Rosse getragen.« Der König sprach: »Hier will ich mein Gemach haben und mich wenig um die Speise bekümmern, die sie in der Stadt austeilen; kauft mir für meine Guldenpfennige, was ich bedarf, schafft mir viel und genug.« Als der Wirt das Gold sah, sagte er bei sich selbst: Das ist ein rechter Edelmann, desgleichen meine Augen nie erblickten! Nachdem die Speise köstlich und reichlich zugerichtet und Karl zu Tisch gesessen war, forderte er einen Wächter vom Wirt, der sein des Nachts über pflege, und legte sich zu Bette. In dem Bette aber liegend, rief er den Wächter und mahnte ihn teuer: »Wann man den Singos im Dom läuten wird, sollst du mich wecken, daß ich das Läuten höre; dies gülden Fingerlein will ich dir zu Miete geben.« Als nun der Wächter die Glocke vernahm, trat er ans Bette vor den schlafenden König: »Wohlan, Herr, gebt mir meine Miete, eben läuten sie den Singos im Dom.« Schnell stand er auf, legte ein reiches Gewand an und bat den Wirt, ihn zu geleiten. Dann nahm er ihn bei der Hand und ging mit ihm vor das Burgtor, aber es lagen starke Riegel davor. »Herr«, sprach der Wirt, »Ihr müßt unten durchschliefen, aber dann wird Euer Gewand kotig werden.« – »Daraus mach ich mir wenig, und würde es ganz zerrissen.« Nun schloffen sie dem Tor hinein; der König, voll weisen Sinnes, hieß den Wirt um den Dom gehen, während er selber in den Dom ging. Nun war das Recht in Franken: Wer auf dem Stuhl im Dom saß, der mußte König sein. Das deuchte ihm gut; er setzte sich auf den Stuhl, zog sein Schwert und legte es bar über seine Knie. Da trat der Mesner in den Dom und wollte die Bücher vortragen; als er aber den König sitzen sah mit barem Schwert und stillschweigend, begann er zu zagen und verkündete eilends dem Priester: »Da ich zum Altar ging, sah ich einen greisen Mann mit bloßem Schwert über die Knie auf dem gesegneten Stuhl sitzen.« Die Domherren wollten dem Mesner nicht glauben; einer von ihnen griff ein Licht und ging [412] unverzagt zu dem Stuhle. Als er die Wahrheit sah, wie der greise Mann auf dem Stuhle saß, warf er das Licht aus der Hand und floh erschrocken zum Bischof. Der Bischof ließ sich zwei Kerzen von Knechten tragen, die mußten ihm zu dem Dom leuchten; da sah er den Mann auf dem Stuhle sitzen und sprach furchtsam: »Ihr sollt mir sagen, was Mannes Ihr seid, geheuer oder ungeheuer, und wer Euch ein Leids getan, daß Ihr an dieser Stätte sitzet?« Da hob der König an: »Ich war Euch wohlbekannt, als ich König Karl hieß, an Gewalt war keiner über mich!« Mit diesen Worten trat er dem Bischof näher, daß er ihn recht ansehen könnte. Da rief der Bischof: »Willkommen, liebster Herr! Eurer Kunft will ich froh sein«, umfing ihn mit seinen Armen und leitete ihn in sein reiches Haus. Da wurden alle Glocken geläutet, und die Hochzeitgäste frugen, was der Schall bedeute. Als sie aber hörten, daß König Karl zurückgekehrt wäre, stoben sie auseinander, und jeder suchte sein Heil in der Flucht. Doch der Bischof bat, daß ihnen der König Friede gäbe und der Königin wieder hold würde, es sei ohne ihre Schuld geschehen. Den gewährte Karl der Bitte und gab der Königin seine Huld.

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. Sagen. Deutsche Sagen. Zweiter Band. 444. Karls Heimkehr aus Ungerland. 444. Karls Heimkehr aus Ungerland. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0966-8