[249] Zaunkönig

Sage aus der Normandie.


Ihr Kinder, laßt mir verschont
Zaunkönigs Nest und Zelle,
Denn wo ein Edler wohnt,
Ist eine heilige Stelle.
Wenn traulich der flammende Herd
Euch Zünglein belebt und Gedanken
Euch wärmt im Frost und euch nährt,
Dem Vöglein nur sollt ihr's danken.
In dunkler kalter Zeit,
Als uns des Feuers Gabe
Die Götter noch bargen mit Neid,
Wie Ueberreiche ihr Habe;
Da in dem Vöglein klein
Erwuchs ein großer Gedanke,
Es flog in den Himmel hinein,
Durchbrechend die Wolkenschranke.
[250]
Dem Jovisadler, der schlief,
Riß es den Brand aus den Krallen;
Und ob er's auch sengte tief,
Die Beute ließ es nicht fallen.
Und wie ein stürzender Stern
Fiel's erdenwärts mit den Schätzen;
Da eilten von nah und fern
Die Brüder, den Wunden zu letzen.
Die eigenen Federn leiht
Ihm jeder, die Blößen zu decken;
Drum ist auch sein braunes Kleid
Ein Bettlermantel voll Flecken.
Rothkehlchen voran! Doch vom Brand
Ist selbst versengt es worden;
So trägt's noch das rothe Band
Am Busen als Ehrenorden.
Nur Kukuk, der Gauch, gab nichts
Als eine gute Lehre:
»Hast du nur die Größe des Wichts,
Mit Göttergluth nicht verkehre!«
Zaunkönig rächte sich auch,
Wie nur es Edlen gelungen:
Er brütet die Jungen dem Gauch
Zugleich mit den eigenen Jungen.
Es wurde die ganze Schaar
Zu Aerzten im Heilungsdrange
Grasmücke mit dem Trokar,
Krummschnabel kam mit der Zange.
[251]
Die Meise wetzt und weist
Blutdürstig ihr Lanzettchen,
Als Wunderpflaster preist
Der Specht ein würzig Blättchen;
Es füllt in der Quelle klar
Das Spritzlein die Bekassine,
Kernbeißer macht sogar
Zum Amputiren schon Miene.
Die Elster aber entbrennt,
Grauschwesteramt zu verrichten,
Sie zupft Charpie und kennt
Hausmittel und Stadtgeschichten.
Zaunkönig mild abwehrt
Die Sorgen, die sie ihm weihen:
»Wen himmlisch Feuer versehrt,
Den heilen nicht ird'sche Arz'neien.«
Ihr schönstes Gefieder flicht
Die Schaar ihm zur lieblichen Krone,
Sein Haupt beschattet sie dicht
Dem kühnen Flug zum Lohne.
Wohlthäter der Welt, versteckt
Er tief sich im Dunkel der Hage,
Allein, beschämt und erschreckt,
Daß eine Kron' er trage.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Gedichte. Gedichte. Romancero der Vögel. Zaunkönig. Zaunkönig. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0EA6-0