[269] Am Tage Bartholomäi

Evangel. Luc. XXII. v. 24. etc.

Text

Die Jünger zanckten unter sich
Des grösten Ranges wegen,
Des Heilands Wort gieng alsogleich
Dem eitlen Streit entgegen
Und sprach: Last Fürsten dieser Welt
Nach hohen Tituln rennen;
Denn wer Gewalt und Reichthum hat,
Der läst sich gnädig nennen.
Ihr aber, Liebsten, nicht also!
Gebt beßre Demuthszeichen.
Wer vorgeht, soll ein Diener seyn,
Der Größre Schlechtern weichen;
Denn dieser, der am Tische sizt,
Sagt, ist nicht dieser beßer
Als welcher hinten steht und dient?
Gewis, der erst ist größer.
Nun muß ich mitten unter euch
Als Knecht mein Amt verwalten;
Ihr aber seyd die, die bey mir
Im Elend ausgehalten,
Ihr seyd mir in Gefahr gefolgt,
Nun will ich auch bey Zeiten,
So wie der Vater mir gethan,
Das Reich vor euch bereiten.
Und dieses meines Vaters Reich
Hat viele Wollusttische,
Woran euch Fried und Seeligkeit
Mit Speiß und Tranck erfrische.
Die Stühle sind auch schon bereit,
[270]
Da sollt ihr meinetwegen
Vor zwölf Geschlechten Israels
Gericht und Urtheil hegen.
Lehre

So blind, so thöricht und verkehrt
Ist unser Fleisch gebohren,
So langsam öfnet die Natur
Der Warheit Aug und Ohren:
Die Jünger waren nun drey Jahr
Bey ihrem Herrn gewesen
Und konten doch sein Absehn nicht
Aus so viel Wundern lesen.
Mit was vor Wachen, Lieb und Müh
Hatt er sie unterrichtet
Und zur Erbauung Tag vor Tag
Gelehret und gedichtet!
Noch waren sie so blind und taub
Und wollten auf der Erden
Sogar mit Zanck und Eifersucht
Zu großen Leuten werden.
Wie mancher Christ hat noch bey uns
So fleischliche Gedancken
Und steckt durch seinen Hoffartsgeist
Der Ehre weite Schrancken!
Er liebt nur Gott aus Eigennuz
Und aus Begier zu steigen,
Und wo er Tugend üben soll,
Da soll sich Vortheil zeigen.
Kommt's auf des Glaubens Prüfung an
Und soll man etwas leiden,
Da läst sich Fleisch und Blut gar leicht
Von Jesu Liebe scheiden.
[271]
Im Glücke fällt die Demuth weg,
Und bey den guten Tagen
Wird einer unter Tausenden
Kaum nach dem Himmel fragen.
Man lerne doch einmahl verstehn,
Was unser Heiland wolle!
Nicht, daß man vor und in der Welt
Viel Ansehn hofen solle,
Nein, sondern daß man als ein Knecht
Dem armen Nechsten nüze
Und bis zur rechten Läuterung
Im Elendsofen schwize.
Wer dies geduldig thut und trägt,
Dem ist das Reich dort oben,
Worin man unvergänglich herrscht,
Vom Vater aufgehoben,
Von jenem Vater, deßen Treu
Durch scharfe Zucht probieret
Und uns nach kurzer Angst und Müh
Ins Land der Freyheit führet.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Günther, Johann Christian. Am Tage Bartholomäi. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-2176-6