[159] An seine Schöne

Bora, den 22. Aug. A. 1719.


Nun Kind, ich kan dich nicht mehr bitten,
Behalt mein Herz in treuer Brust.
Das Denckmahl deiner muntren Sitten
Erweckt mir auch von weiten Lust,
Und wo ich reise, wohn und bin,
Da folgt mir dein Gedächtnüß hin.
Ein Waldhorn klingt bey Abendstunden
Von weiten durch die Gärthen schön,
Es reizt das Blut verliebter Wunden
Und läst die Geister flüchtig gehn;
Jedoch ergözt mich das Gehör
Von deinem Wohlseyn noch viel mehr.
Das Glücke spielt mir tausend Poßen
Und lockt mich auf des Hofes Eiß,
Ich folg ihm klug und unverdroßen,
So gut ich seine Tücke weis;
Die Vorsicht leite, wie sie will,
Ich halt in allen Wettern still.
Die Gegend, wo ich jezund dichte,
Ist einsam, schatticht, kühl und grün;
Hier hör ich bey der schlancken Fichte
Den sanften Wind nach Leipzig ziehn
Und geb ihm allzeit brünstiglich
Viel tausend heiße Küß an dich.
Hier kan ich mich der Zeit bequemen,
Hier ist mir Still und Ort geneigt,
Die große Rechnung vorzunehmen,
Wie viel mir Leipzig Guts erzeigt;
Doch alles, was ich schäzen kan,
Das kömmt auf deinen Umgang an.
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Erinnre dich der ersten Küße,
Die niemand als der Schatten sah;
Sie machten mir die Äpfel süße;
Ach, wäre doch die Zeit noch da!
Gedenck an Pfeifers Schlafgemach
Und zehle dort die Wollust nach.
Der Umgang wurd uns sonst verbothen,
Wir suchten die geheimste Bahn,
Wir riefen die verwandten Todten
Zu Zeugen unsrer Freundschaft an
Und ließen bey verschwiegner Pein
Den Kirchhof unsre Freystatt seyn.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Günther, Johann Christian. An seine Schöne. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-21A4-D