[134] Stentor

An Herrn I.I.D. Zimmermann.


Mein Zimmermann, zu dem die Musen eilen,
Die unereilt den wilden Strephon fliehn!
O lehre mich, durch wohlgeprüfte Zeilen
Mein schüchtern Werk der Tadelsucht entziehn;
Der Tadelsucht, die, Neidern zu gefallen,
Nach Splittern sieht, nur fremde Fehler merkt,
In deren Ton hier auch oft Kinder lallen,
Die noch kein Mark der Wissenschaften stärkt.
Sprich: Soll man nur, wie du, die Wahrheit lieben,
(Der sich mein Herz und meine Fabeln weihn)
Dem Schmeicheln taub, und dem, was man geschrieben,
Mit allem Ernst ein strenger Richter sein,
Durch weisen Fleiß von Fehlern sich entfernen,
Die Alten sich zu Mustern ausersehn,
Die Nachwelt scheun, und mit Horaz erlernen,
Wie Geist und Kunst wol zu verbinden stehn?
Das war genug zu jenen edlen Zeiten,
Als den Quintil die Wahrheit lehren hieß,
Den Ehrenmann, der, ohne zu verleiten,
Dem röm'schen Witz die rechten Wege wies.
Sein edler Geist, der aller Falschheit fluchte,
Und Redlichkeit und Wissenschaft verband,
Ersah mit Lust das Schöne, das er suchte,
Und suchte nicht die Fehler, die er fand.
Sitzt ein Quintil im Rath der kleinen Kenner,
Wo man so keck den frühen Machtspruch wagt?
Nein! jeder horcht im Schatten größrer Männer,
Und wiederholt, was man ihm vorgesagt.
Da richten Sie nach Stimmen, nicht nach Gründen,
Wie Stentor that; man folgt dem stolzen Ton.
Fast jede Stadt wird einen Stentor finden,
Vielleicht noch mehr; und einen kennt man schon.
Der hatte sich durch List und Händedrücken
Bei Großen klein, bei Kleinen groß gemacht,
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Und schien ein Mann, den, fast in allen Stücken,
Minervens Gunst mit klugem Salz bedacht.
Mit Celadon sang Thyrsis um die Wette;
Da sollte nun mein Stentor Schiedsmann sein.
Der wußte nicht, wer hier den Vorzug hätte;
Doch fiel ihm bald ein rechtes Kunststück ein.
Sein starker Mund rief gegen Fels und Klüfte:
Ihr Kenner! sagt's: Wer trägt den Preis davon?
Ist's Celadon? Sogleich drang durch die Lüfte,
Bei jedem Ruf, ein deutlich Celadon.
Drauf zeigt' er sich den Schäfern lächelnd wieder,
Und schrie: Vernehmt, was keiner besser weiß,
Was ich entdeckt, und zweifelt nicht, ihr Brüder,
Für dieses Mal hat Celadon den Preis!
Sie dankten ihm, und Stentor blieb bei Ehren.
So geht es jetzt fast überall;
Man glaubt Orakel anzuhören,
Und hört nur einen Widerhall.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Hagedorn, Friedrich von. Gedichte. Fabeln und Erzählungen. Erstes Buch. Stentor. Stentor. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3140-A