Die verdorbenen Sitten
1731.
Difficile est satiram non scribere ...
JUVENAL. [1, 30.]
Ein edler, scharfsinniger und nunmehr verstorbener Freund hat diese Satire von mir ausgepresst. Ein jugendlicher Eifer erhitzte mich dabei. Junge Leute, die in Büchern die Welt kennen gelernet haben, wo die Laster immer gescholten, die Tugenden immer geehrt und die vollkommensten Muster ihnen vorgemalet werden, fallen leicht in den Fehler, daß alles, was sie sehen, ihnen unvollkommen und tadelhaft vorkömmt. Sie fodern von einem jeden Freunde die Treue eines Pylades, und eine obrigkeitliche Person scheint ihnen pöbelhaft, so bald sie nicht einem Fabricius, einem Cato gleich kömmt. Die Erfahrung belehrt uns freilich nach und nach eines bessern. Eine kleine Republik bedarf keiner Scipionen, sie ist ohne dieselben glücklicher. Menschenliebe, Wissenschaft, Arbeitsamkeit und Gerechtigkeit ist alles, was sie von ihren grösten Häuptern verlangt, und der ungezweifelt blühende Zustand meines glückseligen Vaterlandes bezeugt unwidersprechlich, daß die herrschenden Grundregeln ihrer Vorgesetzten gut und gemeinnützig sind. Man kann dem Zeugniß des von aller Schmeichelei entfernten Herrn von Montesquieu glauben, das er in der Schriftsur les causes de la décadence de Rome und in dem Werke über den Esprit des loix gegeben hat.
Genug und nur zu viel hab ich die Welt gescholten!
Was zeigt die Wahrheit sich? Wann hat sie was gegolten?
Seht einen Juvenal, der Vorwelt Geisel, an,
Was hat sein Tadel guts der Welt und ihm gethan?
[86]Ihn bracht in Lybien das Gift der scharfen Feder,
Ein Land wie Tomos fern und trauriger und öder.
Rom las, so viel er schrieb, es las und schwelgte fort.
Was damals Rom gethan, thut jetzt ein jeder Ort.
Seit Boileau den Parnass von falschem Geist gereinigt,
Hat reimen und Vernunft in Frankreich sich vereinigt?
Lebt nicht ein Nadal noch? Reimt nicht ein Pelegrin?
Drängt nicht sich ganz Paris zu Scapins Possen hin?
Ich aber, dem sein Stern kein Feuer gab zum dichten,
Was hab ich für Beruf der Menschen thun zu richten?
Stellt Falschmund, wann ers liest, sein heimlich lästern ein?
Sein Haß wird giftiger, sein Herz nicht besser sein!
[87]Und stünde Thessals Bild gestochen auf dem Titel,
Noch dünkt er sich gelehrt und schölt auf andrer Mittel.
Ja rühmen will ich itzt, wofern ich rühmen kann,
Und lache nur, mein Geist, du mußt gewiß daran!
Ein strenger Despréaux hat Dichter nur getadelt
Und Ludwigs Uebergang mit klugem Muth geadelt,
1Sonst hätt er auf dem Stroh, von Gram und Frost gekrümmt,
Zuletzt mit Saint-Amand ein Klaglied angestimmt.
Wo aber findet sich der Held für meine Lieder?
Ich geh die Namen durch, ich blättre hin und wieder
Und finde, wo ich seh, vom Zepter bis zum Pflug,
Zum schelten allzu viel, zum rühmen nie genug;
Zählt selber, wie August, das Alter und die Jugend!
Fürs Laster ist kein Raum, kein Anfang für die Tugend.
Sag an Helvetien, du Helden-Vaterland!
Wie ist dein altes Volk dem jetzigen verwandt?
[88]Wars oder wars nicht hier, wo Biderbs Degen strahlte,
2Der das erhaltne Fahn mit seinem Blute malte?
Wo fließt der Muhleren, der Bubenberge Blut?
3Der Seelen ihres Staats, die mit gesetztem Muth
Fürs Vaterland gelebt, fürs Vaterland gestorben,
Die Feind und Gold verschmäht und uns den Ruhm erworben,
Den kaum nach langer Zeit der Enkel Abart löscht;
Da Vieh ein Reichthum war und oft ein Arm gedrescht,
Der sonst den Stab geführt; da Weiber, derer Seelen
Kein heutig Herz erreicht, erkauften mit Juwelen
Den Staat vom Untergang, den Staat, des Schatz uns heut
Zum offnen Wechsel dient und Trost der Ueppigkeit.
Wo ist die Ruhm-Begier, die Rom zum Haupt der Erden,
Uns groß gemacht aus nichts, Gefahren und Beschwerden
Für Lust und Schuld erkennt, fürs Glück der Nachwelt wacht,
Stirbt, wann der Staat es heischt, die Welt zum Schuldner macht?
Wo ist der edle Geist, der nichts sein eigen nennet,
Nichts wünschet für sich selbst und keinen Reichthum kennet,
[89]Als den des Vaterlands, der für den Staat sich schätzt,
Die eignen Marchen kürzt, der Bürger weiter setzt? –
Ach! sie vergrub die Zeit und ihren Geist mit ihnen,
Von ihnen bleibt uns nichts als etwas von den Minen.
Doch also hat uns nicht der Himmel übergeben,
Daß von der güldnen Zeit nicht theure Reste leben;
Die Männer, deren Rom sich nicht zu schämen hat,
Ihr Eifer zeigt sich noch im Wohlsein unsrer Stadt:
Ein Steiger stützt die Last der wohlerlangten Würde
Auf eigne Schultern hin und hat den Staat zur Bürde;
Er hat, was herrschen ist, zu lernen erst begehrt,
Nicht, wie die Großen thun, die ihre Stelle lehrt.
Er sucht im stillen Staub und halb verwesnen Häuten
Des Staates Lebenslauf, die Ebb und Flut der Zeiten;
Sein immer frischer Sinn, in stäter Müh gespannt,
Wacht, weil ein Jüngling schläft, und dient dem Vaterland;
Er lässt des Staates Schatz sich auf das Land ergießen,
Wie aus dem Herzen sonst der Glieder Kräfte fließen;
Von seinem Angesicht geht niemand traurig hin,
Er liebt die Tugend noch und auch die Tugend ihn.
4 [90]Ein Cato lebet noch, der den verdorbnen Zeiten
5Sich setzt zum Widerspruch und kann mit Thaten streiten.
Zwar Pracht und Ueppigkeit, die alles überschwemmt,
Hat das Gesetz und er bisher zu schwach gehemmt;
Doch wie ein fester Damm den Sturm gedrungner Wellen,
Wie sehr ihr Schaum sich bläht, zurücke zwingt zu prellen,
Und nie dem Strome weicht, wann schon der wilde Schwall,
Von langem Wachsthum stark, sich stürzet übern Wall:
So hat Helvetien der Durchbruch fremder Sitten
Mit Lastern angefüllt und Cato nichts gelitten;
Die Einfalt jener Zeit, wo ehrlich höflich war,
[91]Wo reine Tugend Ehr, auch wann sie nackt, gebar,
Herrscht in dem rauhen Sinn, den nie die List betrogen,
Kein Großer abgeschreckt, kein Absehn umgebogen;
Hart, wanns Gesetze zürnt, mitleidig, wann er darf,
Gut, wann das Elend klagt, wann Bosheit frevelt, scharf,
Vom Wohl des Vaterlands entschlossen nie zu scheiden,
Kann er das Laster nicht, noch ihn das Laster leiden.
O hebe lange noch dein Vaterland empor,
Steh unsern Söhnen einst, wie unsern Vätern, vor!
Wer kennt die andern nicht? sie sind so leicht zu zählen!
Doch wann, einst zugedrückt, die werthen Augen fehlen,
Wer ists, auf den man dann den Grund des Staates legt?
Der Wissenschaft im Sinn, im Herzen Tugend trägt?
Der thut, was sie gethan, und die geleerten Plätze
Auch mit den Tugenden, nicht mit der Zahl, ersetze?
Gewiß kein Appius, die prächtige Gestalt,
Ein Wort, ein jeder Blick zeigt Hoheit und Gewalt;
Des großen Mannes Thor steht wenig Bürgern offen,
Und einen Blick von ihm kann nicht ein jeder hoffen.
Sein Ansehn dringt durchs Recht, sein Wort wird uns zur Pflicht,
Er ist fast unser Herr und seiner selber nicht.
Doch fällt der Glanz von ihm, so wird der Held gemeiner,
Der Unterscheid von uns ist in dem innern kleiner,
Den aufgehabnen Geist stützt ein gesetzter Sinn, –
Ein prächtiger Pallast und leere Säle drinn!
Gewiß kein Salvius, der Liebling unsrer Frauen,
Dem trefflichen Geschmack kann jeder Käufer trauen;
[92]Wer ists, der so wie er, durch alle Monat weiß
Der Mode Lebenslauf und jedes Bandes Preis?
Wer haschet listiger der Kleider neuste Arten?
Wer nennt so oft Paris? Wer theilt, wie er, die Karten
Auf griechisch hurtig aus? wer stellt den Fuß so quer?
Wer singt so manches Lied? wer flucht so neu als er?
O Säule deines Staats! wo findet sich der Knabe,
Der sich so mancher Kunst dereinst zu schämen habe?
Auch kein Democrates, der Erbe seiner Stadt,
Der sonst kein Vaterland, als seine Söhne, hat;
Der jeden Stammbaum kennt, der alle Wahlen zählet,
Die Stimmen selber theilt und keine Kugel fehlet;
Der Mund und Hand mir heut und morgen andern schätzt
Und zwischen Wort und That nur einen Vorhang setzt;
6Der Recht um Freundschaft spricht, der Würde tauscht um Würde
Und, wann er sein Geschlecht dem Staate macht zur Bürde,
Kein Mittel niedrig gläubt, durch alle Häuser rennt,
Droht, schmeichelt, fleht, verspricht und alles Vetter nennt.
Gewiß kein Rusticus, der von den neuen Sitten
Noch alles ruhiger, als nüchtern sein, gelitten,
Der Mann von altem Schrot, dem neuer Witz missdünkt,
[93]Der wie die Vorwelt spricht und wie die Vorwelt trinkt,
Im Keller prüft den Mann, was wird er dort nicht kennen?
Er wird im Glase noch den Berg und Jahrgang nennen;
Was aber Wissenschaft, was Vaterland und Pflicht,
Was Kirch und Handlung ist, die Grillen kennt er nicht;
Die Welt wird, wann sie will, und nicht sein Kopf sich ändern;
Was fragt er nach dem Recht, der Brut von fremden Ländern?
Recht ist, was ihm gefällt, gegründet, was er fasst,
Das schmählen Bürger-Pflicht, ein Fremder, wen er hasst.
Gewiß auch kein Sicin, der Sauerteig des Standes,
Der Meister guten Raths, der Pachter des Verstandes,
Der nichts vernünftig glaubt, wann es von ihm nicht quillt,
Und seine Meinung selbst in fremdem Munde schilt;
Bald straft man ihm zu hart, bald laufen Laster ledig,
Heut heißt der Staat ein Zug und morgen ein Venedig;
7Wer herrscht, der ihm gefällt? vor ihm ist alles schlecht,
Belohnen unverdient, versagen ungerecht.
So lässt der Frösche Volk sein quecken in den Röhren
Noch eh beim Sonnenschein, als wann es wittert, hören.
Auch kein Heliodor, verliebt in Frankreichs Schein,
8Der sich zur Schande zählt, daß er kein Sklav darf sein,
Misskennt sein Vaterland, des Königs Bildniß spiegelt,
[94]Was unsrer Ahnen Muth mit Lüpolds Blut versiegelt,
Die Freiheit, hält vor Tand, verhöhnt den engen Staat,
Gesetze Bauern lässt und schämet sich im Rath.
Flieh Sklav! ein freier Staat bedarf nur freier Seelen,
Wer selber dienen will, soll Freien nicht befehlen!
Gewiß kein Härephil, der allgemeine Christ,
Der aller Glauben Glied und keines eigen ist;
Der Retter aller Schuld, der Schutz-Geist falscher Frommen,
Der, was den Staat verstört, zu schützen übernommen;
Der Bosheit Einfalt nennt und heucheln Andacht heißt
Und dem erzürnten Recht das Schwert aus Händen reißt;
Der Kirch und Gottesdienst mit halben Reden schwärzet
Und niemals williger als über Priester scherzet.
Ein andrer Zweck ist oft an wahrer Liebe Statt,
Ein Absehn dringet weit, das Gott zum Fürwort hat;
Sein Gut, das er verschmäht, wird nicht vergessen werden,
Im Himmel ist der Sinn, die Hände sind auf Erden.
Wer ists dann? ein Zelot, der Kirchen-Cherubin,
Bereit, den Strick am Hals in Himmel mich zu ziehn?
Ein murrender Suren, der nie ein Ja gesprochen
Und selten sonst gelacht, als wann der Stab gebrochen?
Der leichte Franzen-Aff, der Schnupfer bei der Wahl,
Der bei den Eiden scherzt und pfeift im großen Saal?
Ein wankender Saufei, dem nie das Rathhaus stehet,
Der von dem Tisch in Rath, vom Rath zu Tische gehet?
[95]Der nie sich selber zeigt, der kluge Larvemann,
Der alle Bürger hasst und alle küssen kann?
Ein reicher Agnoët, der Feind von allem lernen,
Der Sonnen viereckt macht und Sterne zu Laternen?
9Ein Unselbst, reich an Ja, der seine Stimme liest
Und dessen Meinung stets vorher eröffnet ist?
10Und so viel andre mehr, der Großen Leib-Trabanten,
Die Ziffern unsers Staats, im Rath die Consonanten?
Bei solchen Herrschern wird ein Volk nicht glücklich sein!
Zu Häuptern eines Stands gehöret Hirn darein!
Lasst zehen Jahr sie noch, sich recht zu unterrichten,
In jenem Schatten-Staat gemessne Sachen schlichten!
11 [96]Wer aber sich dem Staat zu dienen hat bestimmt
Und nach der Gottheit Stell auf Tugend-Staffeln klimmt,
Der würkt am Wohl des Volks und nicht an seinem Glücke
Und dient zum Heil des Lands dem segnenden Geschicke,
Er setzet seiner Müh die Tugend selbst zum Preis,
Er kennet seine Pflicht und thut auch, was er weiß.
Fürs erste lerne der, der groß zu sein begehret,
Den innerlichen Stand des Staates, der ihn nähret;
Wie Ansehn und Gewalt sich, mit gemessner Kraft,
Durch alle Staffeln theilt und Ruh und Ordnung schafft;
Wie zahlreich Volk und Geld; wie auf den alten Bünden,
Dem Erbe bessrer Zeit, sich Fried und Freundschaft gründen;
Wodurch der Staat geblüht, wie Macht und Reichthum stieg,
Des Krieges erste Glut, den wahren Weg zum Sieg,
Die Fehler eines Staats, die innerlichen Beulen,
Die nach und nach das Mark des sichern Landes fäulen;
Was üblich und erlaubt, wie Ernst und männlichs Recht,
Den angelaufnen Schwall des frechen Lasters schwächt;
Wie weit dem Herrscher ziemt der Kirche zu gebieten;
Wie Glaubens-Einigkeit sich schützet ohne wüthen;
Was Kunst und Boden zeugt, was einem Staat ersprießt;
Wodurch der Nachbarn Gold in unsre Dörfer fließt;
Auch was Europa regt; wie die vereinten Machten
In stätem Gleichgewicht sich selbst zu halten trachten;
Wodurch die Handlung blüht; wie alle Welt ihr Gold
Dem zugelaufnen Schwarm verbannter Bettler zollt;
Was Frankreich schrecklich macht, wodurch es sich entnervet;
Wie Kunst und Wissenschaft der Britten Waffen schärfet;
Auch Rom und Sparta hat, was nützlich werden kann;
[97]Die Tugend nimmt sich leicht bei ihrem Beispiel an!
Bild aber auch dein Herz, selbst in der ersten Jugend!
Sieh auf die Weisheit viel, doch weit mehr auf die Tugend;
Lern, daß nichts selig macht als die Gewissens-Ruh,
Und daß zu deinem Glück dir niemand fehlt als du;
Daß Gold auch Weise ziert, verdient durch reine Mittel,
Daß Tugend Ehre bringt und nicht erkaufte Titel,
Daß Maaß und Weisheit mehr als leere Namen sind.
Und daß man auf dem Thron noch jetzt George findt!
Kein Reiz sei stark genug, der deine Pflicht verhindert,
Kein Nutz sei groß genug, der Nüchtlands Wohlfahrt mindert;
Such in des Landes Wohl und nicht beim Pöbel Ruhm,
Sei jedem Bürger hold und niemands Eigenthum,
Sei billig und gerecht, erhalt auf gleicher Waage
Des Großen drohend Recht und eines Bauren Klage!
Bei Würden sieh den Mann und nicht den Gegen-Dienst,
Mach Arbeit dir zur Lust und helfen zum Gewinnst
Thu dieß und werde groß! Liegt schon dein Glück verborgen,
Der Himmel wird für dich, mehr als du selber, sorgen!
Und wann er künftig dich in hohen Aemtern übt
Und deiner Bürger Heil in deine Hände giebt,
So lebe, daß dich einst die späten Enkel preisen,
Dein Tod den Staat betrübt und macht dein Volk zum Waisen!
Und schlössen schon dein Land die engsten Schranken ein,
So würdest du mir doch der Helden erster sein;
In dir zeigt sich der Welt der Gottheit Gnaden-Finger,
Du bist ein größrer Mann als alle Welt-Bezwinger!