[117] 14.
Ueber den Ursprung des Uebels


Erstes Buch

1734.


Dieses Gedicht habe ich allemal mit einer vorzüglichen Liebe angesehen. Die mir wohl bekannte Rauhigkeit einiger Stellen entschuldigte ich mit der moralischen Unmöglichkeit, gewisse Vorwürfe zugleich stark und dennoch angenehm zu malen. Die lange Mühe, die ich daran gewandt und die über ein Jahr gedauret hat, vermehrte meine Liebe, indem uns ordentlich alles lieber ist, was uns theurer zu stehen kömmt. Ich unterzog mich dieser Arbeit aus Hochachtung für einen Freund, der die Früchte seiner reifen Tugend schon längst in der Ewigkeit genießt. Das Ende gefiel ihm am wenigsten. Er sah es für zu kurz, zu abgebrochen und zu unvollständig an. Es können in der That noch bessre Ursachen für die Mängel der Welt gesagt werden. Aber ein Dichter ist kein Weltweiser, er malt und rührt und erweiset nicht. Ich habe also dieses Gedicht unverändert beibehalten, ob ich wohl bei gewissen Stellen hätte wünschen mögen, daß ich die nehmlichen Dinge deutlicher und fließen der hätte sagen können. Jetzt da mir die nahe Ewigkeit alles in einem ernsthaften Lichte zeigt, finde ich, die Mittel seien unverantwortlich verschwiegen worden, die Gott zum widerherstellen der Seelen angewendt hat, die Menschwerdung Christi, sein leiden, die aus der Ewigkeit uns verkündigte Wahrheit, sein genugthun für unsre Sünden, das uns dem Zutritt zu der Begnadigung eröffnet, alles hätte gesagt werden sollen. Ich könnte wohl zur Entschuldigung sagen, die Geister seien in meinem Gedichte mit den Menschen als Knechte des Uebels beschrieben, und für die Geister habe Gott keinen Mittler geschickt. [118] Ich könnte mich auch auf die Macht der Sünde berufen, die ungeachtet des verdienstlichen leidens Jesu bei den Menschen herrschet. Ich fühle aber dennoch, daß in einem Gedichte, dessen Verfasser Gottes Gerechtigkeit und Güte vertheidigen wollte, alles hätte gesagt werden sollen, was Er zu unsrer Errettung gethan hat. Aber damals war mein Entwurf ganz allgemein und philosophisch, und jetzt ist es mir nicht mehr möglich, ein ohnedem fast meine Kräfte übersteigendes Werk umzugießen.


Auf jenen stillen Höhen,
Woraus ein milder Strom von stäten Quellen rinnt,
Bewog mich einst ein sanfter Abend-Wind,
In einem Busche still zu stehen.
Zu meinen Füßen lag ein ausgedehntes Land,
Durch seine eigne Größ umgränzet,
Worauf das Aug kein Ende fand,
Als wo Jurassus es mit blauen Schatten kränzet. 1
Die Hügel decken grüne Wälder,
Wodurch der falbe Schein der Felder
Mit angenehmem Glanze bricht;
Dort schlängelt sich durchs Land, in unterbrochnen Stellen,
Der reinen Aare wallend Licht;
Hier lieget Nüchtlands Haupt in Fried und Zuversicht
In seinen nie erstiegnen Wällen.
So weit das Auge reicht, herrscht Ruh und Ueberfluß;
Selbst unterm braunen Stroh bemooster Bauren-Hütten
Wird Freiheit hier gelitten
Und nach der Müh Genuß.
Mit Schaafen wimmelt dort die Erde,
Davon der bunte Schwarm in Eile frisst und bleckt,
[119]
Wann dort der Rinder schwere Heerde
Sich auf den weichen Rasen streckt
Und den geblümten Klee im kauen doppelt schmeckt
Dort springt ein freies Pferd, mit Sorgen-losem Sinn,
Durch neu-bewachsne Felder hin,
Woran es oft gepflüget,
Und jener Wald, wen lässt er unvergnüget?
Wo dort im rothen Glanz halb nackte Buchen glühn
Und hier der Tannen fettes Grün
Das bleiche Moos beschattet;
Wo mancher heller Strahl auf seine Dunkelheit
Ein zitternd Licht durch rege Stellen streut
Und in verschiedner Dichtigkeit
Sich grüne Nacht mit güldnem Tage gattet.
Wie angenehm ist doch der Büsche Stille,
Wie angenehm ihr Widerhall,
Wann sich ein Heer glückseliger Geschöpfe
In Ruh und unbesorgter Fülle,
Vereint in einen Freudenschall!
Und jenes Baches Fall,
Der schlängelnd durch den grünen Rasen
Die schwachen Wellen murmelnd treibt
Und plötzlich, aufgelöst in Schnee- und Perlen-Blasen,
Durch gähe Felsen rauschend stäubt!
Auf jenem Teiche schwimmt der Sonne funkelnd Bild
Gleich einem diamantnen Schild,
Da dort das Urbild selbst vor irdischem Gesichte
In einem Strahlen-Meer sein flammend Haupt versteckt
Und, unsichtbar vor vielem Lichte,
Mit seinem Glanz sich deckt.
Dort streckt das Wetterhorn den nie beflognen Gipfel
Durch einen dünnen Wolken-Kranz;
Bestrahlt mit rosenfarbem Glanz,
[120]
Beschämt sein graues Haupt, das Schnee und Purpur schmücken,
Gemeiner Berge blauen Rücken. 2
Ja, alles was ich seh, des Himmels tiefe Höhen,
In deren lichtem Blau die Erde grundlos schwimmt;
Die in der Luft erhabnen weißen Seen,
Worauf durchsichtigs Gold und flüchtigs Silber glimmt;
Ja, alles, was ich seh, sind Gaben vom Geschicke!
Die Welt ist selbst gemacht zu ihrer Bürger Glücke,
Ein allgemeines Wohl beseelet die Natur,
Und alles trägt des höchsten Gutes Spur!
Ich sann in sanfter Ruh dem holden Vorwurf nach,
Bis daß die Dämmerung des Himmels Farben brach,
Die Ruh der Einsamkeit, die Mutter der Erfindung,
Hielt der Begriffe Reih in schließender Verbindung,
Und nach und nach verknüpft kam mein verwirrter Sinn,
Uneinig mit sich selbst, zu diesen Worten hin:
Und dieses ist die Welt, worüber Weise klagen,
Die man zum Kerker macht, worin sich Thoren plagen!
Wo mancher Mandewil des guten Merkmal misst, 3
Die Thaten Bosheit würkt und fühlen leiden ist.
[121]
Wie wird mir? Mich durchläuft ein Ausguß kalter Schrecken,
Der Schauplatz unsrer Noth beginnt sich aufzudecken,
Ich seh die innre Welt, sie ist der Hölle gleich:
Wo Qual und Laster herrscht, ist da wohl Gottes Reich?
Hier eilt ein schwach Geschlecht, mit immer vollem Herzen
Von eingebildter Ruh, und allzu wahrem Schmerzen,
Wo nagende Begier und falsche Hoffnung wallt,
Zur ernsten Ewigkeit; im kurzen Aufenthalt
Des nimmer ruhigen und nie gefühlten Lebens
Schnappt ihr betrogner Geist nach ächtem Gut vergebens.
So wie ein fetter Dunst, der aus dem Sumpfe steigt,
Dem irren Wandersmann sich zum verführen zeigt:
So lockt ein flüchtig Wohl, das Wahn und Sehnsucht färben,
Von Weh zu größerm Weh, vom Kummer zum Verderben.
Nie mit sich selbst vergnügt sucht jeder außenher
Die Ruh, die niemand ihm verschaffen kann, als er;
[122]
Sucht er in Arbeit Ruh und Leichterung in Bürden;
Umsonst hält die Vernunft das schwache Steuer an,
Der Lüste wilde See spielt mit dem leichten Kahn,
Bis der auf seichtem Sand und jener an den Klippen
Ein untreu Ufer deckt mit trocknenden Gerippen.
Wer ists, der einen Tag von tausenden erlebt,
Den nicht in seine Brust die Reu mit Feuer gräbt?
Wo ist in seltnem Stern ein Seliger geboren,
Bei dem der Schmerz sein Recht auf einen Tag verloren?
Was hilfts, daß Gott die Welt aufs angenehmste schmückt,
Wann ein verdeckter Feind uns den Genuß entrückt?
Aus unserm Herzen fließt des Unmuths bittre Quelle;
Ein unzufriedner Sinn führt bei sich seine Hölle.
Noch selig, wäre noch der Tage kurze Zahl
Für uns zugleich das Maaß des Lebens und der Qual!
Ach, Gott und die Vernunft giebt Gründe größrer Schrecken,
Vor jenem Leben kann kein Grabstein uns bedecken.
Nachdem der matte Geist die Jahre seiner Acht,
Verbannt in einen Leib, mit Elend zugebracht,
Schlägt über ihm die Noth mit voller Wuth zusammen,
Verzweiflung brennt in ihm mit nie geschwächten Flammen,
Und die Unsterblichkeit, das Vorrecht seiner Art,
Wird ihm zum Henker-Trank, der ihn zur Marter spart;
Im Haß mit seinem Gott, mit sich selbst ohne Frieden,
Von allem, was er liebt, auf immer abgeschieden,
Gepresst von naher Qual, geschreckt von ferner Noth,
Verflucht er ewig sich und hoffet keinen Tod.
Elende Sterbliche! zur Pein erschaffne Wesen!
O daß Gott aus dem nichts zum sein euch auserlesen,
[123]
O daß der wüste Stoff einsamer Ewigkeit
Noch läg im öden Schlund der alten Dunkelheit!
Erbarmens voller Gott! in einer dunkeln Stille
Regiert der Welten Kreis dein unerforschter Wille,
Dein Rathschluß ist zu hoch, sein Siegel ist zu fest,
Er liegt verwahrt in dir, wer hat ihn aufgelöst?
Dieß weiß ich nur von dir, dein Wesen selbst ist Güte,
Von Gnad und Langmuth wallt dein liebendes Gemüthe;
Du Sonne wirfest ja, mit gleichem Vater-Sinn,
Den holden Lebens-Strahl auf alle Wesen hin!
O Vater! Rach und Haß sind fern von deinem Herzen,
Du hast nicht Lust an Qual, noch Freud an unsern Schmerzen,
Du schufest nicht aus Zorn, die Güte war der Grund,
Weswegen eine Welt vor nichts den Vorzug fund!
Du warest nicht allein, dem du Vergnügen gönntest,
Du hießest Wesen sein, die du beglücken könntest,
Und deine Seligkeit, die aus dir selber fließt,
Schien dir noch seliger, so bald sie sich ergießt.
Wie daß, o Heiliger! du dann die Welt erwählet,
Die ewig sündiget und ewig wird gequälet?
War kein vollkommner Riß im göttlichen Begriff,
Dem der Geschöpfe Glück nicht auch entgegen lief?
Doch wo gerath ich hin? wo werd ich hingerissen?
Gott fodert ja von uns zu thun und nicht zu wissen!
Sein Will ist uns bekannt, er heißt die Laster fliehn
Und nicht, warum sie sind, vergebens sich bemühn.
Indessen, wann ein Geist, der Gottes Wesen schändet,
Die Einfalt, die ihm traut, mit falschem Licht verblendet
Und aus der Oberhand des Lasters und der Pein
Lehrt schließen, wie die Welt, so muß der Schöpfer sein,
[124]
Soll Manes im Triumph Gott und die Wahrheit führen?
Soll Gott verläumdet sein und uns kein Eifer rühren?
Ist stummer Glauben gnug, wann Irrthum kämpft mit Witz,
Und ihm zu widerstehn erwarten wir den Blitz?
Nein, also hat sich noch die Wahrheit nicht verdunkelt,
Daß nicht ihr reiner Strahl durch Dampf und Nebel funkelt;
So schwach ihr Glanz auch ist, kein Irrwisch bleibt vor ihr,
Ihr stammeln hat mehr Kraft als aller Lügen Zier.
O daß die Wahrheit selbst von ihrem Licht mir schenkte!
Daß dieses Himmels-Kind den Kiel mir selber lenkte!
Daß ihr sieghafter Schall, der durch die Herzen dringt,
Beseelte, was mein Mund ihr jetzt zu Ehren singt!

Zweites Buch

Im Anfang jener Zeit, die Gott allein beginnet,
Die ewig ohne Quell und unversiegen rinnet,
Gefiel Gott eine Welt, wo, nach der Weisheit Rath,
Die Allmacht und die Huld auf ihren Schauplatz trat.
Verschiedner Welten Riß lag vor Gott ausgebreitet,
Und alle Möglichkeit war ihm zur Wahl bereitet;
[125]
Allein die Weisheit sprach für die Vollkommenheit,
Der Welten würdigste gewann die Würklichkeit.
Befruchtet mit der Kraft des Wesen-reichen Wortes
Gebiert das alte nichts; den Raum des öden Ortes
Erfüllt verschiedner Zeug; die regende Gewalt
Erlieset, trennet, mischt und schränkt ihn in Gestalt.
Das dichte zog sich an, das Licht und Feuer ronnen,
Es nahmen ihren Platz die neugebornen Sonnen;
Die Welten welzten sich und zeichneten ihr Gleis,
Stäts flüchtig, stäts gesenkt, in dem befohlnen Kreis.
Gott sah und fand es gut, allein das stumme Dichte
Hat kein Gefühl von Gott, noch Theil an seinem Lichte;
Ein Wesen fehlte noch, dem Gott sich zeigen kann,
Gott blies, und ein Begriff nahm Kraft und Wesen an.
So ward die Geister-Welt. Verschiedne Macht und Ehre
Vertheilt, nach Stufen Art, die unzählbaren Heere,
Die, ungleich satt vom Glanz des mitgetheilten Lichts,
In langer Ordnung stehn von Gott zum öden nichts.
Nach der verschiednen Reih von fühlenden Gemüthern
Vertheilte Gott den Trieb nach angemessnen Gütern;
Der Art Vollkommenheit ward wie zum Ziel gesteckt,
Wohin der Geister Wunsch aus eignem Zuge zweckt.
Doch hielt den Willen nur das zarte Band der Liebe,
So daß zur Abart selbst das Thor geöffnet bliebe
Und nie der Sinn so sehr zum guten sich bewegt,
Daß nicht sein erster Wink die Wagschal überschlägt.
Dann Gott liebt keinen Zwang, die Welt mit ihren Mängeln
Ist besser als ein Reich von Willen-losen Engeln;
Gott hält vor ungethan, was man gezwungen thut,
Der Tugend Uebung selbst wird durch die Wahl erst gut.
Gott sah von Anfang wohl, wohin die Freiheit führet,
Daß ein Geschöpf sich leicht bei eignem Licht verlieret,
[126]
Daß der verbundne Leib zu viel vom Geiste heischt,
Daß das Gewühl der Welt den schwachen Sinn beräuscht
Und ein gemessner Geist nicht stäts die Kette findet,
Die den besondern Satz an den gemeinen bindet.
Zu Gottes Freund ersehn, zu edel für die Zeit,
Vergessen wir zu leicht den Werth der Ewigkeit;
Des äußern Zauber-Glanz verdeckt die innre Blöße,
Die stärkre Gegenwart erdrückt des fernern Größe.
Wer ists, der allemal der Neigung Stufe misst,
Wo nur das Mittel gut, sonst alles Laster ist?
Kein endlich Wesen kennt das mitsein aller Sachen,
Und die Allwissenheit kann erst unfehlbar machen.
Gott sah dieß alles wohl, und doch schuf er die Welt;
Kann etwas weiser sein, als das, was Gott gefällt?
Gott, der im Reich der Welt sich selber zeigen wollte,
Sah, daß, wann alles nur aus Vorschrift handeln sollte,
Die Welt ein Uhrwerk wird, von fremdem Trieb beseelt,
Und keine Tugend bleibt, wo Macht zum Laster fehlt.
Gott wollte, daß wir ihn aus Kenntniß sollten lieben
Und nicht aus blinder Kraft von ungewählten Trieben;
Er gönnte dem Geschöpf den unschätzbaren Ruhm,
Aus Wahl ihm hold zu sein und nicht als Eigenthum.
Der Thaten Unterscheid wird durch den Zwang gehoben:
Wir loben Gott nicht mehr, wann er uns zwingt zu loben;
Gerechtigkeit und Huld, der Gottheit Arme, ruhn,
So bald Gott alles würkt, und wir nichts selber thun.
Drum überließ auch Gott die Geister ihrem Willen
Und dem Zusammenhang, woraus die Thaten quillen.
Doch so, daß seine Hand der Welten Steur behielt,
Und der Natur ihr Rad muß stehn, wann er befiehlt.
So kamen in die Welt die neu-erschaffnen Geister,
Vollkommenes Geschöpf von dem vollkommnen Meister
[127]
In ihnen war noch nichts, das nicht zum guten trieb,
Kein Zug, der an die Stirn nicht ihren Ursprung schrieb;
Ein jedes einzle war in seiner Art vollkommen.
Dem war wohl mehr verliehn, doch jenem nichts benommen.
Der einen Wesen ward vom irdischen befreit,
Sie blieben näher Gott an Art und Herrlichkeit.
Euch kennt kein Sterblicher, ihr himmlischen Naturen!
Von eurer Trefflichkeit sind in uns wenig Spuren;
Nur dieses wissen wir, daß, über uns erhöht,
Ihr auf dem ersten Platz der Reih der Wesen steht.
Vielleicht empfangen wir, bei trüber Dämmrung Klarheit,
Nur durch fünf Oeffnungen den schwachen Strahl der Wahrheit;
Da ihr, bei vollem Tag, das heitere Gemüth
Durch tausend Pforten füllt und alles an euch sieht;
Daß, wie das Licht für uns erst wird mit unsren Augen,
Ihr tausend Wesen kennt, die wir zu sehn nicht taugen;
Und wie sich unser Aug am Kleid der Dinge stößt,
Vor eurem scharfen Blick sich die Natur entblößt.
Vielleicht findt auch bei uns der Eindruck der Begriffe
Im allzuseichten Sinn nicht gnug Gehalt und Tiefe,
Da bei euch alles haft und, sicher vor der Zeit,
Sich die lebhafte Spur, so oft ihr wünscht, verneut.
Vielleicht, wie unser Geist, gesperrt in enge Schranken,
Nicht Platz genug enthält zugleich für zwei Gedanken,
In euch der offne Sinn des vielen fähig ist,
Und den zu breiten Raum kein einzler Eindruck misst.
Doch unser wissen ist hierüber nur vermuthen,
Genug der Engel Sinn war ausgerüft zum guten,
Ihr Trieb zur Tugend war so stark als ihr Verstand,
Sie sehnten sich nach Gott, als ihrem Vaterland,
[128]
Und ewiglich bemüht mit loben und verehren
War all ihr Wunsch, ihr Licht zu Gottes Ruhm zu mehren.
Fern unter ihnen hat das sterbliche Geschlecht,
Im Himmel und im nichts, sein doppelt Bürgerrecht.
Aus ungleich festem Stoff hat Gott es auserlesen,
Halb zu der Ewigkeit, halb aber zum verwesen:
Zweideutig Mittelding von Engeln und von Vieh,
Es überlebt sich selbst, es stirbt und stirbet nie.
Auch wir, ach! waren gut: der Welt beglückte Jugend
Sah nichts, so weit sie war, als Seligkeit und Tugend;
Auch in uns prägte Gott sein majestätisch Bild,
Er schuf uns etwas mehr, als Herren vom Gewild.
Er legte tief in uns zwei unterschiedne Triebe,
Die Liebe für sich selbst und seines Nächsten Liebe.
Die eine niedriger, doch damals ohne Schuld,
Ist der fruchtbare Quell von Arbeit und Geduld:
Sie schwingt den Geist empor, sie lehrt die Ehre kennen,
Sie flammt das Feuer an, womit die Helden brennen,
Und führt im steilen Pfad, wo Tugend Dornen streut,
Den Welt-vergessnen Sinn nach der Vollkommenheit.
Sie wacht für unser Heil, sie lindert unsern Kummer,
Versöhnt uns mit uns selbst und stört des Trägen Schlummer;
Sie zeiget uns, wie heut für morgen sorgen muß,
Und speiset ferne Noth mit altem Ueberfluß.
Sie dämpft des Kühnen Wuth, sie waffnet den Verzagten;
Sie macht das Leben werth im Auge des Geplagten;
Sie sucht im rauhen Feld des Hungers Gegengift;
Sie kleidet Nackende vom Raub der fetten Trift;
Sie bahnete das Meer zur Beihülf unsres reisens,
[129]
Sie fand des Feuers Quell im Zweikampf Stein und Eisens;
Sie grub ein Erzt hervor, das alle Thiere zwung;
Sie kocht aus einem Kraut der Schmerzen Leichterung;
Sie spähte der Natur verborgne Eigenschaften;
Sie waffnete den Sinn mit Kunst und Wissenschaften.
O daß sie doch so oft, vor zartem Eifer blind,
In eingebildtem Glück ein wirklich Elend findt!
Viel edler ist der Trieb, der uns für andre rühret,
Vom Himmel kömmt sein Brand, der keinen Rauch gebieret;
Von seinem Ebenbild, das Gott den Menschen gab,
Drückt deutlicher kein Zug sein hohes Urbild ab.
Sie, diese Liebe, war der Menschen erste Kette,
Sie macht uns bürgerlich und sammelt uns in Städte,
Sie öffnet unser Herz beim Anblick fremder Noth,
Sie theilt mit Dürftigen ein gern gemisset Brot
Und würkt in uns die Lust, vom Titus oft verlanget,
Wann ein verwandt Geschöpf von uns sein Glück empfanget.
Die Freundschaft stammt von ihr, der Herzen süße Kost,
Die Gott, in so viel Noth, uns gab zum letzten Trost;
Sie steckt die Fackeln an, bei deren holdem scheinen
Zu beider Seligkeit zwei Seelen sich vereinen;
Das innige Gefühl, der Herzen erste Schuld,
Ist ein besondrer Zug der allgemeinen Huld.
Sie ist, was tief in uns für unsre Kinder lodert,
Sie macht die Müh zur Lust, die ihre Schwachheit fodert,
[130]
Sie ist des Blutes Ruf, der für die Kleinen fleht
Und unser innerstes, so bald er spricht, umdreht.
Ja auch dem Himmel zu gehn ihre reinen Flammen,
Sie leiten uns zu Gott, aus dessen Huld sie stammen,
Ihr Trieb zieht ewiglich dem liebenswürdgen zu
Und findt erst im Besitz des höchsten Gutes Ruh.
Noch weiter wollte Gott für unsre Schwachheit sorgen:
Ein wachsames Gefühl liegt in uns selbst verborgen,
Das nie dem Uebel schweigt und immer leicht versehrt,
Zur Rache seiner Noth den ganzen Leib empört.
Im zärtlichen Gebäu von wunderkleinen Schläuchen,
Die jedem Theil von uns die Kraft und Nahrung reichen,
Bräch alles Uebermaaß den schwachen Faden ab,
Und die Gesundheit selbst führt unvermerkt zum Grab.
Allein im weichen Mark der zarten Lebens-Sehnen
Wohnt ein geheimer Reiz, der, zwar ein Brunn der Thränen,
Doch auch des Lebens ist, der wider einen Feind,
Der sonst wohl unerkannt uns auszuhölen meint,
Uns zwingt zum Widerstand; er schließt die regen Nerven
Vor Frost und Salze zu, verflößet alle Schärfen
Durch Zufluß süßen Safts und kühlt gesalznes Blut
Durch Zwang vom heißen Durst, mit Strömen dünner Flut.
In allen Arten Noth, die unsre Glieder fäulet,
Ist Schmerz der bittre Trank, womit der Leib sich heilet.
Weit nöthiger liegt noch, im innersten von uns,
Der Werke Richterin, der Probstein unsers thuns:
Vom Himmel stammt ihr Recht; er hat in dem Gewissen
Die Pflichten der Natur den Menschen vorgerissen;
[131]
Er grub mit Flammenschrift in uns des Lasters Scheu
Und ihren Nachgeschmack, die bittre Kost der Reu.
Ein Geist, wo Sünde herrscht, ist ewig ohne Frieden,
Sie macht uns selbst zur Höll und wird doch nicht gemieden!
Versehn zu Sturm und See, in allem wohl bestellt,
Betraten wir nunmehr das weite Meer der Welt.
Die Werkzeug unsers Glücks sind allen gleich gemessen,
Jedweder hat sein Pfund, und niemand ist vergessen.
Zwar in der Seele selbst herrscht Maaß und Unterscheid,
Das Glück der Sterblichen will die Verschiedenheit;
Die Ordnung der Natur zeugt minder Gold als Eisen,
Der Staaten schlechtester ist der von eitel Weisen; 4
[132]
Der eingetheilte Witz ist nirgend unfruchtbar,
Und jeder füllt den Ort, der für ihn ledig war.
Dort würkt ein hoher Geist, betrogen vom Geschicke,
Nur um sich selbst besorgt, an seines Landes Glücke;
Wann hier ein niedrer Sinn, mit Schweiß und Brot vergnügt,
Des Großen Unterhalt im heißen Feld erpflügt.
Hier sucht ein weiser Mann, bei Nacht und stillem Oele,
Des Körpers innre Kraft, das Wesen seiner Seele;
Wann dort mit schwächrem Licht, gleich nützlich in der That,
Ein Weib sein Haus beherrscht und Kinder zieht dem Staat.
Doch nur im Zierat herrscht der Unterscheid der Gaben,
Was jedem nöthig ist, muß auch ein jeder haben;
Kein Mensch verwildert so, dem eingebornes Licht
Nicht, wann er sich vergeht, sein erstes Urtheil spricht.
Die Kraft von Blut und Recht erkennen die Huronen,
Die dort an Mitschigans beschneiten Ufern wohnen, 5
[133]
Und unterm braunen Süd fühlt auch der Hottentott
Die allgemeine Pflicht und der Natur Gebot.

Drittes Buch

O Wahrheit! sage selbst, du Zeugin der Geschichte!
Wer machte Gottes Zweck und unser Glück zu nichte?
Wer wars, der wider Gott die Geister aufgebracht
Und uns dem Laster hold, uns selber feind gemacht?
Verschieden war der Fall verschiedner Geister-Orden:
Der einen Trefflichkeit ist ihr Verderben worden,
Die Kenntniß ihres Lichts gebar ihr Finsterniß,
Sie hielten ihre Kraft für von sich selbst gewiß
Und, voll von ihrem Glanz, verdrüßlich aller Schranken,
Misskennten sie den Gott, dem sie ihn sollten danken;
Ihr allzu starker Trieb nach der Vollkommenheit
Ward endlich zum Gefühl der eignen Würdigkeit;
Ihr Stolz fieng an in Haß die Furcht vor Gott zu kehren,
Als ohne den sie selbst der Wesen erste wären.
So wich ihr Schwarm von Gott, dem Ursprung seines Lichts,
Ihr Glanz, entlehnt von Gott, fiel bald ins eigne nichts;
Nichts blieb an ihnen gut. Gott hatten sie verlassen,
Der Liebe wahren Zweck verschwuren sie zu hassen,
Des höchsten Guts Genuß war ewiglich verscherzt,
Der Sinn war missvergnügt, des Urtheils Licht geschwärzt.
In ihrem Wesen selbst, worin sie sich verstiegen,
Fand sich kein innrer Quell von stätigem Vergnügen:
Ihr Aufruhr rächte Gott, ihr Hochmuth ward zur Schmach,
Das böse war gewählt, das Uebel folgte nach;
[134]
Bis daß Reu ohne Buß, Verzweiflung an dem Heile,
Und Missgunst ohne Macht den Frevlern ward zum Theile;
Da dort die treue Schaar, die niemals Gott verließ,
In seiner Gegenwart der Geister Paradies
Und Tag fund ohne Nacht, da ewig hoh und steigend
Ihr Stand der Gottheit naht und keinen Eckel zeugend
In der Begierd genießt und im Genuß begehrt
Und ihren Geist mit Licht, das Herz mit Wollust nährt.
Das Uebel, dessen Macht den Himmel konnte mindern,
Fund wenig Widerstand bei Adams schwachen Kindern.
Ein stäter Bilder-Kreis schwebt spielend vor dem Sinn,
Der wählt zur Gegenwart, behält und sendet hin;
Bald hatte Lust und Zier das ernstliche verdrungen,
Der Müh und Tugend Bild schien trocken und gezwungen,
Die Seele hängte sich an Ruh und Lustbarkeit,
Der Tugend Kraft nahm ab durch die Abwesenheit,
Auch lockt der Leib zur Lust mit zärtlicher Verbindung,
Bedacht wich dem Genuß und Kenntniß der Empfindung.
Zudem, was endlich ist, kann nicht unfehlbar sein,
Das Uebel schlich sich auch in uns durch Irrthum ein.
Der schwache Geist verlor der Neigungen Verwaltung,
Wir wendeten in Gift die Mittel der Erhaltung,
Die Triebe der Natur misskennten Ziel und Maaß,
Bis das, was himmlisch war, sein hoh Geschick vergaß.
Der Schönheit Liebe trieb zu unerlaubten Lüsten,
Die Sorg um Unterhalt zu Haß und bittren Zwisten;
Der Ehre rege Sucht schwoll in den Herzen auf.
Gewissen und Vernunft hemmt zwar des Uebels Lauf,
Doch ihr verhasster Mund, voll unberedter Lehren,
Behielt allein das Recht, zu tadeln, nicht zu wehren.
[135]
Wir alle sind verderbt, der allgemeine Gift
Ist beide Welten durch den Menschen nachgeschifft.
Gold, Ehr und Wollust herrscht, so weit der Mensch gebietet,
Und alles was ein Herz, von diesen schwanger, brütet:
Betrug mit falschem Blick, die Lust an andrer Leid,
Verachtung fremden Werths, Verläumdung, Brut vom Neid,
Verführung schwacher Zucht, der Gottesdienst des Bauches,
Fruchtloser Müßiggang, der Hunger eitlen Rauches,
Und so viel Seuchen mehr, von denen undurchwühlt
Kein Herz mehr übrig bleibt, das echte Frucht erzielt.
Verschiedene Gestalt bedeckt die Ungeheuer,
Die Kunst der Ehrbarkeit leiht manchen ihren Schleier,
Wann andrer, die die Scheu mit keiner Larve deckt,
Erborne Hässlichkeit die Augen trotzt und schreckt.
Geringer Unterscheid! der auf der Haut nur lieget,
Nicht in das innre dringt und niemand mehr betrieget!
Noch Zeit, noch Land, noch Schwang vermag auf die Natur,
Der Quell fließt überall, der Auslauf ändert nur.
Vergebens rühmt ein Volk die Unschuld seiner Sitten,
Es ist nur jünger schlimm und minder weit geschritten:
Der Lappen ewig Eis, wo, allzu tief geneigt,
Die Sonne keinen Reiz zur Ueppigkeit erzeugt,
Schließt nicht die Laster aus, sie sind, wie wir, hinlässig, 6
Geil, eitel, geizig, träg, missgünstig und gehässig,
Und was liegt dann daran, bei einem bittren Zwist,
Ob Fisch-Fett oder Gold des Zweispalts Ursach ist?
[136]
Wer von der Tugend weicht, entsaget seinem Glücke
Und beugt sein Engels-Recht zu eines Thiers Geschicke.
Die Pflichten sind der Weg, den Gott zur Wohlfahrt giebt,
Ein Herz, wo Laster herrscht, hat nie sich selbst geliebt.
Von außen fließt kein Trost, wann uns das innre quälet,
Uns eckelt der Genuß, so bald die Nothdurft fehlet;
Die Schätze dieser Welt sind nur des Leibes Heil;
Der wahre Mensch, der Geist, nimmt daran keinen Theil;
So bleibt der müde Geist bei falschen Gütern öde,
Der Eckel im Genuß entdeckt das innre Blöde,
Nie froh vom itzigen, stäts wechslend, keinem treu,
Erfährt der Glücklichste, wie nichtig alles sei.
Vergebens übertrifft das Schicksal unsre Bitten,
Die Welt hat Philipps Sohn und nicht die Ruh erstritten; 7
Ein Thor rennt nach dem Glück, kein Ziel schließt seine Bahn,
Wo er zu enden meint, fängt er von neuem an.
Doch auch das Schatten-Glück erfreut den Menschen selten,
Weil Gold und Ehre nichts als durch den Vorzug gelten:
Die Güter der Natur sind endlich und gezählt,
Die einen werden groß von dem, was andern fehlt:
Ein Sieger wird berühmt durch tausend andrer Leichen,
Und ganzer Dörfer Noth macht einen eingen Reichen:
Der Schönen holdes Ja, die einem sich ergiebt,
Verurtheilt die zur Qual, die da, wo er, geliebt.
Wir streiten in der Welt um diese falschen Güter,
Der Eifer, nicht der Werth, erhitzet die Gemüther;
Wie Kinder (wer ist nicht in einem Stück ein Kind?)
Oft um ein streitig nichts sich in den Haaren sind
[137]
Bald dieß, bald jenes siegt und trotzet mit dem Balle,
Bei keinem bleibt die Lust, und der Verdruß drückt alle.
Wir schwitzen, kümmern, flehn, verschwenden Zeit und Blut,
Was wir von Gott erpresst, ist endlich keinem gut.
So findt man wahre Noth, wo man Vergnügen suchet,
Der Zepter wird so oft, als wie der Pflug, verfluchet.
Die Furcht, der Seele Frost, der Flammenstrom, der Zorn,
Die Rachsucht ohne Macht, des Kummers tiefer Dorn,
Die wache Eifersucht, bemüht nach eignem Leide,
Der Brand der Ungeduld, der theure Preis der Freude,
Der Liebe Folter-Bett, der leeren Stunden Last
Fliehn von der Hütten Stroh und herrschen im Pallast.
Noch stärker peitscht den Geist das zornige Gewissen;
Noch Macht, noch Haß von Gott befreit von seinen Bissen;
Sein fürchterlicher Ruf dringt in der Fürsten-Saal,
In Gold und Purpur bebt Octaviens Gemahl 8
Und siehet, wo er geht, so sehr er sucht zu schlafen,
Vor ihm den offnen Schlund voll unfehlbarer Strafen.
Der Leib, das Meisterstück der körperlichen Pracht,
Folgt seinem Gaste bald und fühlt des Uebels Macht.
Vollkommen hatt er einst, geschickt zu Gottes Bilde,
Die Unschuld noch zum Arzt und Einigkeit zum Schilde,
Dem Tode minder nah und vielleicht frei davon,
Nahm er Theil an der Lust und nimmt itzt Theil am Lohn,
Die Zeit muß seit dem Fall ihr Sandglas gäher stürzen,
[138]
Die Mordsucht grub ein Erzt, die kurze Frist zu kürzen,
Tod, Schmerz und Krankheit wird ergraben und erschifft,
Und unsre Speise macht der Ueberfluß zum Gift.
Der Sorgen Wurm verzehrt den Balsam unsrer Säfte,
Der Wollust gäher Brand verschwendt des Leibes Kräfte,
Verwesend, abgenutzt und nur zum Leiden stark
Eilt er zur alten Ruh und sinket nach dem Sark.
Der Geist, von allem fern, womit er sich bethöret,
Sieht sich in einer Welt, wovon ihm nichts gehöret;
Nur geht mit ihm ins Reich der öden Dunkelheit
Ein unerträglich Bild der eignen Hässlichkeit.
Gold, Ehre, Wollust, Tand, wonach er sich gesehnet,
Verblendung, Selbstbetrug, worauf er sich gelehnet,
Witz, Ansehn, Wissenschaft, der Eigenliebe Spiel,
Von allem bleibt ihm nichts, als des Verlusts Gefühl.
Der Thaten Unterscheid ist bei ihm umgedrehet,
Er hasst, was er geliebt, und ehrt, was er verschmähet,
Und brächte, könnt es sein, jedweden Augenblick,
Worin er sich versäumt, mit Jahren Pein zurück.
Die Wahrheit, deren Kraft der Welt Gewühl verhindert,
Findt nichts, das ihr Gefühl in dieser Wüste mindert;
Ihr fressend Feur durchgräbt das innre der Natur
Und sucht im tiefsten Mark des Uebels mindste Spur.
Das gute, das versäumt, das böse, so begangen,
Die Mittel, die verscherzt, sind eitel Folter-Zangen,
Von stäter Nachreu heiß. Er leidet ohne Frist,
Weil er gepeiniget und auch der Henker ist.
O selig jene Schaar, die, von der Welt verachtet,
Der Dinge wahren Werth und nicht den Wahn betrachtet,
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Und, treu dem innren Ruf, der sie zum Heile schreckt,
Sich ihre Pflicht zum Ziel von allen Thaten steckt!
Gesetzt, daß Welt und Hohn und Armuth sie misshandeln,
Wie angenehm wird einst ihr Schicksal sich verwandeln,
Wann dort, beim reinen Licht, ihr Geist sich selbst gefällt,
Das überwundne Leid zu seiner Wollust hält
Und innig hold mit Gott, dem Urbild ihrer Gaben,
Sie Gott, das höchste Gut, in stäter Nähe haben!
Indessen ist die Welt, die Gott zu seinem Ruhm
Und unserm Glücke schuf, des Uebels Eigenthum:
In allen Arten ist das Loos des guten kleiner,
Wo tausend gehn zur Qual, entrinnt zur Wohlfahrt einer,
Und für ein zeitlich Glück, das keiner rein genießt,
Folgt ein unendlich Weh, das keine Ruh beschließt.
O Gott voll Gnad und Recht, darf ein Geschöpfe fragen:
Wie kann mit deiner Huld sich unsre Qual vertragen?
Vergnügt, o Vater, dich der Kinder Ungemach?
War deine Lieb erschöpft? ist dann die Allmacht schwach?
Und konnte keine Welt des Uebels ganz entbehren,
Wie ließest du nicht eh ein ewig Unding währen?
Verborgen sind, o Gott! die Wege deiner Huld,
Was in uns Blindheit ist, ist in dir keine Schuld.
Vielleicht, daß dermaleinst die Wahrheit, die ihn peinigt,
Den umgegossnen Geist durch lange Qualen reinigt
Und, nun dem Laster feind, durch dessen Frucht gelehrt,
Der Willen, umgewandt, sich ganz zum guten kehrt;
Daß Gott die späte Reu sich endlich lässt gefallen,
Uns alle zu sich zieht und alles wird in allen.
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Dann seine Güte nimmt, auch wann sein Mund uns droht,
Noch Maaß, noch Schranken an und hasset unsern Tod.
Vielleicht ersetzt das Glück vollkommener Erwählten
Den minder tiefen Grad der Schmerzen der Gequälten;
Vielleicht ist unsre Welt, die wie ein Körnlein Sand
Im Meer der Himmel schwimmt, des Uebels Vaterland!
Die Sterne sind vielleicht ein Sitz verklärter Geister,
Wie hier das Laster herrscht, ist dort die Tugend Meister,
Und dieses Punkt der Welt von mindrer Trefflichkeit
Dient in dem großen All zu der Vollkommenheit;
Und wir, die wir die Welt im kleinsten Theile kennen,
Urtheilen auf ein Stück, das wir vom Abhang trennen.
Dann Gott hat uns geliebt, wem ist der Leib bewusst?
Sagt an, was fehlt daran zur Nutzbarkeit und Lust?
Seht den Zusammenhang, die Eintracht in den Kräften,
Wie jedes Glied sich schickt zu menschlichen Geschäften,
Wie jeder Theil für sich und auch für andre sorgt,
Das Herz vom Hirn den Geist, dieß Blut von jenem borgt;
Wie im bequemsten Raum sich alles schicken müssen,
Wie aus dem ersten Zweck noch andre Nutzen fließen,
Der Kreis-Lauf uns belebt und auch vor Fäulung schützt,
Der ausgebrauchte Theil von uns sich selbst verschwitzt,
Und unser ganzer Bau ein stätes Muster scheinet
Von höchster Wissenschaft, mit höchster Huld vereinet!
Soll Gott, der diesen Leib, der Maden Speis und Wirth,
So väterlich versorgt, so prächtig ausgeziert,
Soll Gott den Menschen selbst, die Seele nicht mehr schätzen?
Dem Leib sein Wohl zum Ziel, dem Geist sein Elend setzen?
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Nein, deine Huld, o Gott, ist allzu offenbar!
Die ganze Schöpfung legt dein liebend Wesen dar:
Die Huld, die Raben nährt, wird Menschen nicht verstoßen,
Im kleinen ist er groß, unendlich groß im großen.
Wer zweifelt dann daran? ein undankbarer Knecht!
Drum werde, was du willst, dein wollen ist gerecht!
Noch Unrecht, noch versehn kann vom Allweisen kommen,
Du bist an Macht, an Gnad, an Weisheit ja vollkommen!
Wann unser Geist gestärkt dereinst dein Licht verträgt
Und uns des Schicksals Buch sich vor die Augen legt;
Wann du der Thaten Grund uns würdigest zu lehren,
Dann werden alle dich, o Vater! recht verehren
Und kündig deines Raths, den blinde Spötter schmähn,
In der Gerechtigkeit nur Gnad und Weisheit sehn!

Fußnoten

1 Diese ganze Aussicht ist nach der Natur beschrieben.

2 Die niedrigen Gebürge, die von dem Thuner See nach dem luzernischen Gebiete sich erheben und über deren langen und blauen Rücken die hintere hohe Kette der obersten Alpen weit empor ragt. Unter den letztern sind das Wetterhorn, Schreckhorn und andere erstaunlich hohe Spitzen bekannt.

3 Der Verfasser des bekannten Gedichtes von den Bienen, der die Laster für eben so nützlich als Tugenden und für die Triebfedern alles unsers thuns angesehen hat.

4 Das une Isle remplie de parfait Stoiciens chaque Philosophe ignorant les douceurs de la confiance et de l'amitié, ne pense qu'à se sequestrer des autres humains. Il a calculé ce qu'ìl en pouvoit attendre; les avantages qu'ils pourroient lui procurer, et les torts qu'ils pourroioent lui faire, et a rompu tout commerce avec eux. Nouveau Diogène, il fait consister sa perfećtion à occuper un tonneau plus étroit que celui de son voisin. Essais de Phil. Mor. par Mr. de Maupertuis. Diese Stelle ist eine so genaue Erklärung meines Gedankens, daß ich mich über das Glücke verwundre, welches mir sie durch einen so berühmten Mann zugeschickt zu haben scheint, das aber doch viele Jahre später sich geäußert hat. Ich erinnere mich hier eines Unbills, den der verstorbene Herr Präsident in seinen Œvres Philosophiques mir angethan hat. Er sagt, ich sei über seine Erklärung wegen des berüchtigten la Mettrie nicht zu befriedigen gewesen, da doch die größte Eigenliebe sich daran hätte sättigen können. Wie hat doch diese Anklage dem Herrn Maupetuis entfahren und von andern ihm nachgeschrieben werden können, da ich nicht nur eben diese Erklärung selbst in Göttingen habe abdrucken und meinen Freunden austheilen lassen, sondern ihr auch in meinen kleinen deutschen Schriften eine Stelle gelassen habe, ohne dabei das geringste Merkmal eines Missvergnügens zu bezeigen. Wohl aber sind andre berühmte Männer, und zumal Hr. König, der mit dem Hrn. v.M. im Streit lebte, der Meinung gewesen, er hätte über die Verläumdungen und offenbare Erdichtungen seines Landsmanns mehr Abscheu bezeugen können. Aber wie kann ich für andrer Gesinnungen haften? –

5 See in Nord-Amerika, woran vormals die Huronen gewohnt.

6 Siehe Höngströms Beschreibung.

7 Alexander der Große.

8 Der Kaiser Nero.


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TextGrid Repository (2012). Haller, Albrecht von. 14. Ueber den Ursprung des Uebels. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-33A3-D