Friedrich Hebbel
Mein Wort über das Drama!
Eine Erwiderung
an Professor Heiberg in Kopenhagen
[545] Ein Wort über das Drama!
(Morgenblatt 1843. Nr. 21 und 22)
Die Kunst hat es mit dem Leben, dem innern und äußern, zu tun, und man kann wohl sagen, daß sie beides zugleich darstellt, seine reinste Form und seinen höchsten Gehalt. Die Hauptgattungen der Kunst und ihre Gesetze ergeben sich unmittelbar aus der Verschiedenheit der Elemente, die sie im jedesmaligen Fall aus dem Leben herausnimmt und verarbeitet. Das Leben erscheint aber in zwiefacher Gestalt, als Sein und als Werden, und die Kunst löst ihre Aufgabe am vollkommensten, wenn sie sich zwischen beiden gemessen in der Schwebe erhält. Nur so versichert sie sich der Gegenwart, wie der Zukunft, die ihr gleich wichtig sein müssen, nur so wird sie, was sie werden soll, Leben im Leben; denn das Zuständlich-Geschlossene erstickt den schöpferischen Hauch, ohne den sie wirkungslos bliebe, und das Embryonisch-Aufzuckende schließt die Form aus.
Das Drama stellt den Lebensprozeß an sich dar. Und zwar nicht bloß in dem Sinne, daß es uns das Leben in seiner ganzen Breite vorführt, was die epische Dichtung sich ja wohl auch zu tun erlaubt, sondern in dem Sinne, daß es uns das bedenkliche Verhältnis vergegenwärtigt, worin das aus dem ursprünglichen Nexus entlassene Individuum dem Ganzen, dessen Teil es trotz seiner unbegreiflichen Freiheit noch immer geblieben ist, gegenübersteht. Das Drama ist demnach, wie es sich für die höchste Kunstform schicken will, auf gleiche Weise ans Seiende, wie ans Werdende verwiesen: ans Seiende, indem es nicht müde werden darf, die ewige Wahrheit zu wiederholen, daß das Leben als Vereinzelung, die nicht Maß zu halten weiß, die Schuld nicht bloß zufällig erzeugt, sondern sie notwendig und wesentlich mit einschließt und bedingt; ans Werdende, indem es an immer neuen Stoffen, wie die wandelnde Zeit und ihr Niederschlag, die [545] Geschichte, sie ihm entgegenbringt, darzutun hat, daß der Mensch, wie die Dinge um ihn her sich auch verändern mögen, seiner Natur und seinem Geschick nach ewig derselbe bleibt. Hiebei ist nicht zu übersehen, daß die dramatische Schuld nicht, wie die christliche Erbsünde, erst aus der Richtung des menschlichen Willens entspringt, sondern unmittelbar aus dem Willen selbst, aus der starren eigenmächtigen Ausdehnung des Ichs, hervorgeht, und daß es daher dramatisch völlig gleichgültig ist, ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung scheitert.
Den Stoff des Dramas bilden Fabel und Charaktere. Von jener wollen wir hier absehen, denn sie ist, wenigstens bei den Neueren, ein untergeordnetes Moment geworden, wie jeder, der etwa zweifelt, sich klar machen kann, wenn er ein Shakespearesches Stück zur Hand nimmt, und sich fragt, was wohl den Dichter entzündet hat, die Geschichte oder die Menschen, die er auftreten läßt. Von der allergrößten Wichtigkeit dagegen ist die Behandlung der Charaktere. Diese dürfen in keinem Fall als fertige erscheinen, die nur noch allerlei Verhältnisse durch- und abspielen, und wohl äußerlich an Glück oder Unglück, nicht aber innerlich an Kern und Wesenhaftigkeit gewinnen und verlieren können. Dies ist der Tod des Dramas, der Tod vor der Geburt. Nur dadurch, daß es uns veranschaulicht, wie das Individuum im Kampf zwischen seinem persönlichen und dem allgemeinen Weltwillen, der die Tat, den Ausdruck der Freiheit, immer durch die Begebenheit, den Ausdruck der Notwendigkeit, modifiziert und umgestaltet, seine Form und seinen Schwerpunkt gewinnt, und daß es uns so die Natur alles menschlichen Handelns klar macht, das beständig, sowie es ein inneres Motiv zu manifestieren sucht, zugleich ein widerstrebendes, auf Herstellung des Gleichgewichts berechnetes äußeres entbindet – nur dadurch wird das Drama lebendig. Und obgleich die zugrunde gelegte Idee, von der die hier vorausgesetzte Würde des Dramas und sein Wert abhängt, den Ring abgibt, innerhalb dessen sich alles planetarisch regen und bewegen muß, so hat der Dichter doch im gehörigen Sinn, und unbeschadet der wahren Einheit, für Vervielfältigung der Interessen, oder richtiger, für Vergegenwärtigung der Totalität des Lebens und der Welt zu sorgen, und sich wohl zu hüten, [546] alle seine Charaktere, wie dies in den sogenannten lyrischen Stücken öfters geschieht, dem Zentrum gleich nah zu stellen. Das vollkommenste Lebensbild entsteht dann, wenn der Hauptcharakter das für die Neben- und Gegencharaktere wird, was das Geschick, mit dem er ringt, für ihn ist, und wenn sich auf solche Weise alles, bis zu den untersten Abstufungen herab, in-, durch- und miteinander entwickelt, bedingt und spiegelt.
Es fragt sich nun: in welchem Verhältnis steht das Drama zur Geschichte und inwiefern muß es historisch sein? Ich denke, so weit, als es dieses schon an und für sich ist, und als die Kunst für die höchste Geschichtschreibung gelten darf, indem sie die großartigsten und bedeutendsten Lebensprozesse gar nicht darstellen kann, ohne die entscheidenden historischen Krisen, welche sie hervorrufen und bedingen, die Auflockerung oder die allmählige Verdichtung der religiösen und politischen Formen der Welt, als der Hauptleiter und Träger aller Bildung, mit einem Wort: die Atmosphäre der Zeiten zugleich mit zur Anschauung zu bringen. Die materielle Geschichte, die schon Napoleon die Fabel der Übereinkunft nannte, dieser buntscheckige ungeheure Wust von zweifelhaften Tatsachen, und einseitig oder gar nicht umrissenen Charakterbildern, wird früher oder später das menschliche Fassungsvermögen übersteigen, und das neuere Drama, besonders das Shakespearesche, und nicht bloß das vorzugsweise historisch genannte, sondern das ganze, könnte auf diesem Wege zur entfernteren Nachwelt ganz von selbst in dieselbe Stellung kommen, worin das antike zu uns steht. Dann, eher wohl nicht, wird man aufhören, mit beschränktem Sinn nach einer gemeinen Identität zwischen Kunst und Geschichte zu forschen und gegebene und verarbeitete Situationen und Charaktere ängstlich miteinander zu vergleichen, denn man hat einsehen gelernt, daß dabei ja doch nur die fast gleichgültige Übereinstimmung zwischen dem ersten und zweiten Porträt, nicht aber die zwischen Bild und Wahrheit überhaupt, herausgebracht werden kann, und man hat erkannt, daß das Drama nicht bloß in seiner Totalität, wo es sich von selbst versteht, sondern daß es schon in jedem seiner Elemente symbolisch ist und als symbolisch betrachtet werden muß, ebenso wie der Maler die Farben, durch die er seinen Figuren rote Wangen und blaue Augen gibt, nicht [547] aus wirklichem Menschenblut herausdestilliert, sondern sich ruhig und unangefochten des Zinnobers und des Indigos bedient.
Aber der Inhalt des Lebens ist unerschöpflich, und das Medium der Kunst ist begrenzt. Das Leben kennt keinen Abschluß, der Faden an dem es die Erscheinungen abspinnt, zieht sich ins Unendliche hin, die Kunst dagegen muß abschließen, sie muß den Faden, so gut es geht, zum Kreis zusammenknüpfen, und dies ist der Punkt, den Goethe allein im Augen haben konnte, als er aussprach, daß alle ihre Formen etwas Unwahres mit sich führten. Dies Unwahre läßt sich freilich schon im Leben selbst aufzeigen, denn auch dieses bietet keine einzige Form dar, worin alle seine Elemente gleichmäßig aufgehen; es kann den vollkommensten Mann z.B. nicht bilden, ohne ihm die Vorzüge vorzuenthalten, die das vollkommenste Weib ausmachen, und die beiden Eimer im Brunnen, wovon immer nur einer voll sein kann, sind das bezeichnendste Symbol aller Schöpfung. Viel schlimmer und bedenklicher jedoch, als im Leben, wo das Ganze stets für das Einzelne eintritt und entschädigt, stellt sich dieser Grundmangel in der Kunst heraus, und zwar deshalb, weil hier der Bruch auf der einen Seite durchaus durch einen Überschuß auf der andern gedeckt werden muß.
Ich will den Gedanken erläutern, indem ich die Anwendung aufs Drama mache. Die vorzüglichsten Dramen aller Literaturen zeigen uns, daß der Dichter den unsichtbaren Ring, innerhalb dessen das von ihm auf gestellte Lebensbild sich bewegt, oft nur dadurch zusammenfügen konnte, daß er einem oder einigen der Hauptcharaktere ein das Maß des Wirklichen bei weitem überschreitendes Welt- und Selbstbewußtsein verlieh. Ich will die Alten unangeführt lassen, denn ihre Behandlung der Charaktere war eine andere, ich will nur an Shakespeare, und mit Übergehung des vielleicht zu schlagenden Hamlet, an die Monologe im Macbeth und im Richard, sowie an den Bastard im König Johann, erinnern. Man hat, nebenbei sei es bemerkt, bei Shakespeare in diesem offenbaren Gebrechen zuweilen schon eine Tugend, einen besonderen Vorzug erblicken wollen (sogar Hegel in seiner Ästhetik), statt sich an dem Nachweis zu begnügen, daß dasselbe nicht im Dichter, sondern in der Kunst selbst seinen Grund habe. Was sich aber solchemnach bei den größten Dramatikern [548] als durchgehender Zug in ganzen Charakteren findet, das wird auch oft im Einzelnen, in den kulminierenden Momenten, angetroffen, indem das Wort neben der Tat einhergeht, oder ihr wohl gar voraneilt, und dies ist es, um ein höchst wichtiges Resultat zu ziehen, was die bewußte Darstellung in der Kunst von der unbewußten im Leben unterscheidet, daß jene, wenn sie ihre Wirkung nicht verfehlen will, scharfe und ganze Umrisse bringen muß, während diese, die ihre Beglaubigung nicht erst zu erringen braucht, und der es am Ende gleichgültig sein darf, ob und wie sie verstanden wird, sich an halben, am Ach und O, an einer Miene, einer Bewegung, genügen lassen mag. Goethes Ausspruch, der an das gefährlichste Geheimnis der Kunst zu ticken wagte, ist oft nachgesprochen, aber meistens nur auf das, was man äußerlich Form nennt, bezogen worden. Der Knabe sieht im tiefsinnigsten Bibelvers nur seine guten Bekannten, die vierundzwanzig Buchstaben, durch die er ausgedrückt ward.
Das deutsche Drama scheint einen neuen Aufflug zu nehmen. Welche Aufgabe hat es jetzt zu lösen? Die Frage könnte befremden, denn die zunächst liegende Antwort muß allerdings lauten: dieselbe, die das Drama zu allen Zeiten zu lösen hatte. Aber man kann weiter fragen: soll es in die Gegenwart hineingreifen? soll es sich nach der Vergangenheit zurückwenden? oder soll es sich um keine von beiden bekümmern, d.h. soll es sozial, historisch oder philosophisch sein? Respektable Talente haben diese drei verschiedenen Richtungen schon eingeschlagen. Dassoziale Thema hat Gutzkow aufgenommen. Vier seiner Stücke liegen vor, und sie machen in ihrer Gesamtheit einen befriedigenderen Eindruck, als einzeln, sie sind offenbar Korrelate, die den gesellschaftlichen Zustand mit scharfen, schneidenden Lichtern in seinen Höhen und Niederungen beleuchten. Richard Savage zeigt, was eine Galanterie bedeutet, wenn sie zugleich mit der Natur und der Rücksicht aufs Dekorum schließt; je grausamer, umso besser; es war nicht recht, daß der Verfasser den ursprünglichen Schluß veränderte, denn gerade darin lag das Tragische, daß sowenig die Lady, als Richard, über ihr näheres Verhältnis zueinander klar werden konnten. Werner genügt am wenigsten; er scheint mehr aus einem Gefühl, als aus einer Idee hervorgegangen zu sein. Patkul hat gerade darin seine Stärke, worin [549] man seine Schwäche suchen könnte, im Charakter und in der Situation des Kurfürsten; er zeigt, wer an einem Hof die abhängigste Person ist, und es gilt gleich, ob die Zeichnung auf August den Starken paßt oder nicht. Die Schule der Reichen lehrt, daß die Extreme von Glück und Unglück in ihrer Wirkung auf den Menschen zusammenfallen. – Andere haben sich dem historischen Drama zugewandt. Ich glaube nun, und habe es oben ausgeführt, daß der wahre historische Charakter des Dramas niemals im Stoff liegt, und daß ein reines Phantasiegebilde, selbst ein Liebesgemälde, wenn nur der Geist des Lebens in ihm weht, und es für die Nachwelt, die nicht wissen will, wie unsere Großväter sich in unsern Köpfen abgebildet haben, sondern wie wir selbst beschaffen waren, frisch erhält, sehr historisch sein kann. Ich will hiemit keineswegs sagen, daß die Poeten ihre dramatischen Dichtungen aus der Luft greifen sollen; im Gegenteil, wenn ihnen die Geschichte oder Sage einen Anhaltspunkt darbietet, so sollen sie ihn nicht in lächerlichem Erfindungsdünkel verschmähen, sondern ihn dankbar benutzen. Ich will nur den weitverbreiteten Wahn, als ob der Dichter etwas anderes geben könne, als sich selbst, als seinen eigenen Lebensprozeß, bestreiten; er kann es nicht und hat es auch nicht nötig, denn wenn er wahrhaft lebt, wenn er sich nicht klein und eigensinnig in sein dürftiges Ich verkriecht, sondern durchströmt wird von den unsichtbaren Elementen, die zu allen Zeiten im Fluß sind und neue Formen und Gestalten vorbereiten, so darf er dem Zug seines Geistes getrost folgen und kann gewiß sein, daß er in seinen Bedürfnissen die Bedürfnisse der Welt, in seinen Phantasien die Bilder der Zukunft ausspricht, womit es sich freilich sehr wohl verträgt, daß er sich in die Kämpfe, die eben auf der Straße vorfallen, nicht persönlich mischt. Die Geschichte ist für den Dichter ein Vehikel zur Verkörperung seiner Anschauungen und Ideen, nicht aber ist umgekehrt der Dichter der Auferstehungsengel der Geschichte; und was die deutsche Geschichte speziell betrifft, so hat Wienbarg in seiner vortrefflichen Abhandlung über Uhland es mit großem Recht in Frage gestellt, ob sie auch nur Vehikel sein kann. Wer mich versteht, der wird finden, daß Shakespeare und Aeschylos meine Ansicht eher bestätigen, als widerlegen. – Auch philosophische Dramen liegen vor. Bei diesen kommt alles darauf an, ob [550] die Metaphysik aus dem Leben hervorgeht, oder ob das Leben aus der Metaphysik hervorgehen soll. In dem einen Fall wird etwas Gesundes, aber gerade keine neue Gattung entstehen, in dem andern ein Monstrum.
Nun ist noch ein Viertes möglich, ein Drama, das die hier charakterisierten, verschiedenen Richtungen in sich vereinigt und eben deshalb keine einzelne entschieden hervortreten läßt. Dieses Drama ist das Ziel meiner eigenen Bestrebungen, und wenn ich, was ich meine, durch meine Versuche selbst, durch die Judith und die nächstens erscheinende Genoveva, nicht deutlich gemacht habe, so wäre es törigt, mit abstrakten Entwickelungen nachzuhelfen.
Professor Heiberg in Kopenhagen hat meinen vorstehenden, vor längerer Zeit im Morgenblatt erschienenen und jetzt, wie ich sehe, ins Dänische übertragenen Aufsatz: ein Wort über das Drama, in Nr. 31 seines Intelligenzblatts einer kritischen Beleuchtung unterzogen. Nicht diese Kritik selbst, nur der Zeitpunkt, in welchem Professor Heiberg damit hervortritt, kann mich zu einer Erwiderung veranlassen. In dem Augenblick, wo mir von der Großmut meines Königs zum Behuf meiner weiteren Entwickelung ein Reisestipendium ausgesetzt worden ist, muß ich es für meine Pflicht halten, die starken Behauptungen, die sich Professor Heiberg in jener Kritik erlaubt, auf ihr Nichts zu reduzieren. Zu jeder anderen Zeit würde ich dem hochgebildeten dänischen Publikum, das ohne Zweifel den angegriffenen Aufsatz in Fædrelandet Nro. 1261 mit der Beleuchtung verglich, ehe es urteilte, die Widerlegung ruhig anheimgestellt haben. Ich kann nicht dringend genug bitten, diesen alleinigen Beweggrund meines persönlichen Hervortretens gehörig zu würdigen, und zu bedenken, daß ich jetzt zu dem mir gemachten Vorwurf eines »philosophischen oder kritischen Bankerotts« nicht stillschweigen darf, obgleich meine Verteidigung, wie ich wohl weiß, kaum etwas anderes dartun kann, als daß sie unnötig war.
Zuerst eine Erörterung, die nicht der wissenschaftlichen Kategorie angehört, die aber, wie ich fast fürchte, auf die Stellung, die mein Gegner mir gegenüber angenommen hat, ein ganz eigentümliches [551] Licht werfen wird. Professor Heiberg spricht über meine Judith, aber er spricht nicht über die Judith, die ich bei Hoffmann und Campe in Hamburg in den Druck gegeben habe und die der Kritik als Objekt vorliegt, er spricht über eine andere, über eine von mir für die Bühne abgeänderte Judith, die Manuskript geblieben und Manuskript zu bleiben bestimmt ist. Zur Kenntnis dieses Manuskripts ist er als Mit-Direktor des Kopenhagener Theaters gelangt, nicht ich habe dasselbe der Theater-Direktion vorgelegt, sondern ein geistreicher dänischer Schriftsteller, Herr P. L. Mœller, der mich um die Mitteilung ersuchte, und dem ich, da ich ihn achten und schätzen lernte, seinen Wunsch mit Vergnügen gewährte; wie konnte Professor Heiberg sich erlauben, ein Aktenstück, in dessen zeitweiligen Besitz er nur als Beamter kam, zu rezensieren? Lessing macht es mit Recht zur moralischen Bedingung aller Kritik, die sich nicht von vornherein um den Kredit bringen will, daß dem Kritiker von einem Autor nie mehr bekannt sein dürfe, als das zu besprechende Werk selbst ihm verrate; auf den Mißbrauch amtlicher Erfahrungen sind sogar angemessene Strafen gesetzt. Professor Heiberg, um alles, was zu seinen Gunsten spricht, hervorzuheben, konnte aus öffentlichen Blättern wissen, daß ich die Judith zum Zweck der Aufführung verändert habe, aber nur der Blick in das ihm anvertraute Manuskript konnte ihn über das Wie, auf das er doch sein ganzes Räsonnement stützt, belehren. Ich begnüge mich, die einfache Tatsache anzuführen, und enthalte mich jeder Bemerkung; das Urteil über ein solches Verfahren ergibt sich von selbst.
Professor Heiberg stempelt die Abänderung meiner Judith zu einer ästhetischen Sünde. Er hat recht, es ist eine Sünde, aber eine solche, die unter gleichen Umständen jeder Dichter, Professor Heiberg selbst nicht ausgeschlossen, begehen wird. Ich fragte nicht etwa, mein korrumpiertes Manuskript in der Hand, bei den Bühnen herum, ob irgendeine so gnädig sein wolle, mein Erstlingswerk in Szene zu setzen. Im Gegenteil, mir kam das erste Theater Norddeutschlands mit größter Bereitwilligkeit entgegen, bedeutende Künstler drangen in mich, mein Drama bühnengerecht zu machen, und ich war keineswegs gleich bereit, ihnen zu willfahren, ja auf die Haupt-Veränderung ließ ich mich bei [552] der Aufführung in Berlin überall nicht ein, sie wurde ohne mein Wissen von fremder Hand getroffen. Vielleicht hätte ich noch hartnäckiger sein, vielleicht hätte ich mit Pathos ausrufen sollen: Alles oder nichts! Doch Professor Heiberg wird als Theater-Direktor zu gut wissen, daß wenig Dichter in eine ähnliche Versuchung geführt werden, um es nicht zu entschuldigen, daß ich ihr halb erlag. Ohnehin wird ein Drama gedruckt und dadurch für jedermann zugänglich gemacht. Die Bühnen, wenn sie es für ihre Zwecke geeignet halten, fragen nicht lange, ob sie durch ihre »Bearbeitung« den darin veranschaulichten Ideen zu nahe treten und den Dichter prostituieren, sie streichen, setzen hinzu und führen auf. Nun wäre es doch seltsam, wenn jede dritte Person berechtigt sein sollte, mit einem Werk eine solche Prozedur vorzunehmen, nur der Verfasser nicht. Übrigens wirft Professor Heiberg, indem er über die Manuskript gebliebene Judith spricht, beiläufig auch einen Blick auf die wirklich gedruckte. Er sagt, er wolle sie nicht kritisieren, und kritisiert sie doch, denn er versichert, sie sei verwerflich, aber es sei nicht der Ort, das Warum zu entwickeln. Man sollte nun glauben, daß da, wo der Ort ist, ein Drama herabzusetzen, auch der Ort sein müsse, das Urteil mit Gründen zu belegen. Doch mache ich diesen Einwurf nur im allgemeinen, weil ich es verhüten mögte, daß die aus der Justiz mehr und mehr verschwindenden unmotivierten Richtersprüche in die Ästhetik übergehen, keineswegs aber, weil ich daran zweifle, daß Professor Heiberg Gründe hat. Er braucht sich nur an die von ihm schon in seinem Aufsatz rot ankreideten »Kraftstellen« zu halten und Grund und Zweck des Ganzen zu ignorieren, um zu einer uneingeschränkten Verdammung meines Werks zu gelangen. Wie leicht ist nicht ein Holofernes in einer Zeit, wo es keine römische Imperatoren mehr gibt, die sich vergöttern lassen, lächerlich gemacht! Warum nach den vielleicht unter den rohsten Zynismen versteckten psychologischen Angeln fragen, worin dieser Charakter sich dreht! Warum gar über die behandelte Anekdote wegsehen und den Ideenhintergrund ins Auge fassen! Es wäre ja schlimm, wenn es sich fände, daß ein Dichter, der nach ProfessorHeiberg in seinem Räsonnement über die Kunst das Moment der Idee übergangen haben soll, in seinem Drama nur Ideen, ja die absolute, die dem gesamten[553] Geschichtsverlauf zugrunde liegende höchste Idee, soweit das menschliche Bewußtsein sie bei Heiden und Juden erfaßt hatte, dargestellt hat! Ich würde zu Angriffen auf eine meiner dichterischen Produktionen selbst dann schweigen, wenn niemand, als der Angreifer, sie kennte. Jetzt freilich, wo sich in Deutschland längst die kompetentesten Richter über mein Werk ausgesprochen haben, liegt in meinem Schweigen nichts Verdienstliches. Ich darf aber diesen Gegenstand nicht verlassen, ohne Professor Heiberg für das Lob zu danken, das er dadurch über die Auffassungsweise meines Dramas ausgesprochen hat, daß er sie zu der allein möglichen, zu der objektiv mit dem Stoff selbst gegebenen erhöhte. Denn ein so glänzendes Lob liegt in seinem Tadel, daß ich mein Sujet bei der Umarbeitung, in welcher nämlich, wie die reale Bühne es verlangte, Judith wohl noch mit dem Kopf des Holofernes, nicht aber er mit ihrem Herzen davongeht, alles Safts und aller Kraft beraubt habe, indem eine Judith, die sich nicht persönlich aufopfere, keine Judith mehr sei, sondern eine Charlotte Corday. Er hat recht, durchaus recht, ein Weib, das eine so ungeheure Tat nicht noch vor dem Vollbringen bezahlt, das vorher nicht moralisch und sittlich eben dasselbe leidet, was sie ihrem Feind nachher physisch zufügt, ist alles, nur keine tragische Heldin. Es ist ihm nur ein kleiner Irrtum mit untergelaufen, denn – die Judith der Bibel ist eben nichts, als eine Charlotte Corday, ein fanatisch-listiges Ungeheuer, sie singt und tanzt drei Tage lang um die Bundeslade und gibt ihren »lieben Brüdern« in den Aufatmungs-Pausen die Versicherung, daß sie von dem greulichen Tyrannen keineswegs »verunreinigt« worden sei. Erst meine Erfindung, erst die furchtbare Situation am Schluß, daß sie dem Ermordeten einen Sohn gebären und so nach dem alten Diktum: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut, den Muttermörder, also die Nemesis, in ihrem eigenen Schoß tragen kann, hat sie in den tragischen Kreis erhoben. Ich darf zweifeln, ob ProfessorHeiberg mir das obige Zugeständnis gemacht haben würde, wenn er vorher das Buch Judith in der Bibel nachgelesen hätte, er kann es mir daher nicht verdenken, wenn ich Beschlag darauf lege.
Professor Heiberg entwickelt hierauf seine Ansichten über das eigentliche Verhältnis des Dramas zum Theater. Ich könnte [554] diesen Abschnitt seiner Abhandlung unberührt lassen, da er sich nicht persönlich mit mir beschäftigt, aber an und für sich ist der Gegenstand zu wichtig, als daß ich nicht auch meine Bemerkungen daran knüpfen sollte, und dann vermisse ich hier bei Professor Heiberg das, was ich gerade bei ihm suchen durfte, da er ein so außerordentliches Gewicht darauf zu legen scheint, den praktischen Blick. Ob es Deutschland an der dramatischen Literatur fehlt und ob man schon deshalb kein Dramatiker sein kann, weil man ein Deutscher ist, bleibe unerörtert; ich führe es nur an, um zu zeigen, daß Professor Heiberg nicht bloß dann sehr viel auf einmal behauptet, wenn er von mir als einzelnem Deutschen redet, sondern daß er ganz Deutschland auf ähnliche Weise behandelt. So viel gebe ich zu, daß den deutschen Dichtern, weil sie sich zu sehr bemühen, alle innere Motive zu ergründen, eben deshalb der Effekt, welcher Konzentration und rasches Fortschreiten verlangt, nicht selten entgeht, und daß das, was sie durch die schärfere psychologische Zeichnung bei ihren Lesern gewinnen, nicht jedes Mal für das entschädigt, was sie durch das den Strom der Handlung aufhaltende immer neue Knotenknüpfen bei ihren Zuschauern verlieren. Aber Professor Heiberg würde doch vermutlich in einige Verlegenheit geraten, wenn ich ihn aufforderte, nachzuweisen, wo denn seit 1770 größere dramatische Taten verrichtet worden sind, als in Deutschland. Doch das ist gleichgültig. Im Prinzip stimme ich mit ihm völlig überein. Die Trennung zwischen Drama und Theater ist unnatürlich, sie sollte nicht sein. Aber sie ist, und sie wird schwerlich wieder beseitigt, denn die Ideal-Bühne ist nur einmal, bei den Griechen, wo das Drama aus der Religion hervorging und in Stoff und Form heilig und geweiht war, verkörpert gewesen, das moderne Theater dagegen schwebte zu allen Zeiten mehr oder weniger in der Luft, da es sich wohl zuweilen zum National-Ausdruck erhob, aber nie im Sinne der Griechen ein National-Akt wurde, noch werden konnte. Es war von jeher Unterhaltungsmittel, Zeitvertreib. Wer es nicht zugeben will, der zeige mir im Bewußtsein derjenigen Völker, die es unter den Neueren wirklich zu einem Drama brachten, das innere Entwicklungsmoment auf, aus dem dieses mit Notwendigkeit hervortrat. Ich sage: das allgemein-nationale Entwicklungsmoment, nicht das speziell literatur-historische, [555] das hier nicht genügt, noch weniger die äußeren Umstände, die hie und da die Ausbildung des Theaters begünstigten, ohne ihm darum die wahre und hohe Bedeutung, die es für das Volksbewußtsein haben soll, zu verleihen. Ich kenne die meisten schönen Reden, die von witzigen Köpfen über diesen Gegenstand gehalten worden sind, ich weiß namentlich, daß man sich in geistreichen Wendungen erschöpft hat, um den wunderbaren Umstand, daß die Shakespeareschen Stücke unter der jungfräulichen Königin fast ebensoviel Aufsehen erregten, als die Bärenhetzen, zu einem solchen Entwicklungsmoment zu stempeln, aber ich weiß leider auch, daß schöne Reden und geistreiche Wendungen nichts beweisen, und daß ein äußeres Interesse für das Institut, selbst wenn es sich, wie bei den Franzosen in ihrer klassischen Zeit, zur National-Eitelkeit steigert, etwas ganz anderes ist, als ein inneres Bedürfnis, dessen Befriedigung das Volksbewußtsein zu einer höheren Stufe hinüberführt. Und warum soll man der Sache den rechten Namen nicht geben? Solange das Theater Zeitvertreib des Volks, des wirklichen, wahren Volks, bleibt, ist es nicht verloren, denn das Volk hat Phantasie, es läßt sich hinreißen und erschüttern, und der ihm einwohnende Instinkt für das Echte und Nachhaltige, den es hier, wie allenthalben, wo es als Gesamtheit urteilt, offenbart, schützt den Dichter, der etwas zu bringen hat, besser vor Verkennung und Mißhandlung, als der »gute Geschmack« der Halbwisser. Erst wenn es Zeitvertreib der gelangweilten Menschenklasse wird, die sich die allein gebildete zu nennen übereingekommen ist und die nicht von den Mühen des Lebens, sondern vom Leben selbst ausruhen will, fängt es zu sinken an, dann sinkt es aber auch schneller, als es je zuvor stieg, denn wahrlich, alle Kunst ruht auf dem tiefsten Ernst, und wenn sie diesen auch allerdings nach Schillers Worten in heiterem Spiel auflösen und bewältigen soll, so ist das doch nicht so zu verstehen, als ob es ihre Aufgabe sei, ihn hinwegzuspötteln oder ihn tändelnd und gaukelnd zu überhüpfen. Zeitvertreib der »Gebildeten«, Unterhaltungsmittel während der Verdauung, ist das Theater aber jetzt so ziemlich überall geworden. Das Volk wagt sich in die stolzen Prachtgebäude, die wir anstatt der bescheidenen Buden errichtet haben, nur noch zagend hinein, es fühlt sich unheimlich in den weiten [556] glänzenden Räumen, die es, nicht ideell, aber materiell an eine ganz andere Welt erinnern, als diejenige ist, in der es lebt und webt, und die hohen Eintrittspreise erlauben ihm nicht, so oft zu kommen, daß der befangende erste Eindruck sich abstumpfen und ihm seine geistige Freiheit zurückgeben könnte. Da kann sich denn recht ungestört jene Zartheit des Gemüts entwickeln, die sich die abgeschmackteste Dialektik über erkünstelte Leiden gefallen läßt, die sich aber, halb verdrießlich, halb schaudernd, abwendet, wenn ein wirkliches, dem die Poesie Sprache verleiht, seinen Schmerzschrei ausstößt; da kann jene Dezenz, die die Unschuld schamrot macht und die, wenn sie konsequent wäre, mit der eigenen Mutter darüber hadern müßte, daß sie sie zur Welt geboren und die Natur nicht zu einer Ausnahme von der alten plumpen Regel gezwungen hat, den höchsten Gipfelpunkt der Albernheit erreichen. Was soll nun aber in solcher Periode der Dichter beginnen? Der Seidenwurm hört nicht zu spinnen auf, weil wollene Zeuge Mode werden, und der dramatische Geist nicht zu gestalten, weil man ihm das Theater verschließt. Nichts bleibt ihm übrig, als sein Kunstwerk »schweigend in den unermeßlichen Abgrund der Zeit zu werfen« und sich ruhig und stolz in der Überzeugung, daß die Geschichte zur rechten Stunde jeden Goldfaden in ihr großes Gewebe zu verflechten wissen wird, zu neuen Schöpfungen zusammenzufassen. Alle diese rein praktischen Seiten hätte Professor Heiberg nicht übersehen sollen, dann würde er mit mir den faktischen Zustand der Dinge beklagt, aber nimmermehr dem Strom der dramatischen Literatur nach der jetzigen Kulissenwelt das Bett abgesteckt haben. Der Dichter tut genug, wenn er seine Werke so einrichtet, daß sie aufgeführt werden können, daß sie sich nicht in die epische Breite oder die lyrische Tiefe verlaufen; ob sie aber wirklich zur Aufführung gelangen, davon konnte wohl in Griechenland, wo das gesamte Volk in seiner durch feierliche Opfer erhöhten Stimmung darüber entschied, wer von den Bewerbern um den tragischen Kranz die Juwelen der religiösen und heroischen Mythen in das reinste Gold der Darstellung gefaßt habe, ihre Bedeutung für die Nation abhangen, aber gewiß nicht bei uns. Ich sprach in meinem Aufsatz, und ProfessorHeiberg erzeigt mir die Gerechtigkeit, es vorauszusetzen, allerdings [557] nicht von jenem hohlen Scheingebild, das vor den Lampen zittert und sich zum Teetisch flüchtet, weil es sich seiner Mark- und Maßlosigkeit bewußt ist, ich sprach vom wahren, wirklichen, für die Szene bestimmten Drama, denn dieses hat auch nach meiner Ansicht allein Interesse und Wert für die Zukunft, doch man muß billig auch zwischen der Bühne, wie sie ist, und der Bühne, wie sie sein sollte und könnte, unterscheiden und nicht alles als undarstellbar an sich verwerfen, was von der Bequemlichkeit der Regie und der Schauspieler als undarstellbar ignoriert oder geradezu beiseite geschoben wird, am wenigsten in einer so verworrenen Zeit, wie die unsrige, wo das Drama durchaus, wenn es nicht kümmerlich hinter der Philosophie und dem öffentlichen Leben einherhinken will, neue, und zum Teil bedenkliche Wege einschlagen muß und wo es dessenungeachtet bei der eingerissenen Unsitte des Publikums, Akt für Akt, ja Szene für Szene und Rede für Rede, kurz, die Einzelnheiten als Einzelnheiten, ohne Rücksicht auf das Ganze, zu beurteilen, über eine in der Mitte hervortretende und erst am Schluß aufgelöste ungewöhnliche Dissonanz, ja über einen starken Pinselstrich, einen gewagten Ausdruck, wenn er auch hinter dem
»Halt doch den Stier von der Kuh!«
Aeschylos, Agamemnon.
der Kassandra noch weit zurückbleibt, den Hals brechen kann.
Ich gehe weiter. Aber nun kreuzen sich die seltsamsten Sophismen so wunderbar, daß ich kaum weiß, wo ich mit meiner Berichtigung anfangen und wo ich enden soll. Es ist ein Tirailleur-Feuer, ich kann unmöglich jeden einzelnen Schuß erwidern, aber ich will den blauen Dampf, den dieses Geplänkel hinterlassen hat, zu zerstreuen suchen, dann stellt sich der Stand der Dinge wohl von selbst heraus. Zuerst muß ich bemerken, daß, als ich: »Ein Wort über das Drama« schrieb, ich keine, den Gegenstand nach allen Seiten erschöpfende Abhandlung, keine Dramaturgie, liefern wollte. Ich wollte die Resultate meines Nachdenkens über einige sehr wichtige Punkte der dramatischen Kunst mitteilen, und ich glaube Dank dafür zu verdienen, daß ich diese ohne Umschweife gab, und daß ich, um ein paar Dogmen näher zu bestimmen, nicht nach der Art der gelehrten Handwerker [558] den ganzen dramatischen Katechismus repetierte. Freilich habe ich jetzt die Erfahrung gemacht, daß man, wenn man vom Apfel spricht, die Bemerkung vorausschicken muß, daß er auf dem Baum wächst, und daß der Baum in der Erde wurzelt, wenn gewisse Leute nicht behaupten sollen, man stelle dies in Abrede, oder gar, man scheine es nicht zu wissen. Dann muß ich daran erinnern, daß mein Aufsatz aus zwei Hälften besteht, einer theoretischen und einer praktischen, und daß sich zwischen beiden natürlich der bekannte breite Graben befindet, der Theorie und Praxis überall, wie Leib und Seele, trennt. Wenn ich also, nachdem ich in dem ersten Teil die Aufgabe des künftigen Dramas zu entwickeln suchte, in dem zweiten davon rede, daß das deutsche Drama einen neuen Aufschwung zu nehmen scheine, so habe ich durch diese gewiß nicht prahlerische Wendung so wenig direkt gesagt, als indirekt angedeutet, daß das künftige Drama in Deutschland bereits geboren sei. Dennoch läßt Professor Heiberg mich dieses und etwas noch Stärkeres behaupten, wenn er sagt, daß das deutsche Drama nach mir nicht bloß neu sein wolle, sondern daß es absolut neu, daß es das erste sein wolle. Mit gleichem Rechte könnte er mir vorwerfen, wenn ich davon gesprochen hätte, daß wir Menschen tugendhaft, großmütig, gottähnlich sein sollen, ich hätte zu verstehen gegeben, daß ich, und etwa auch meine Freunde, tugendhaft, großmütig, gottähnlich seien. Ja, wer sollte es glauben, den einfachen Schlußworten meines Aufsatzes schiebt er einen Sinn unter, als hätte ich mich selbst vor aller Welt als Norm und Muster der Kunst, als praktische Ergänzung der Theorie, als ins Leben getretene Regel des Polyklet, aufstellen wollen. Ich darf mir nicht erlauben, auf diese Beschuldigung im Ernst einzugehen. Mein Aufsatz liegt vor, jeder sieht auf den ersten Blick, daß die zweite Hälfte desselben nichts ist und nichts sein soll, als eine kurze Charakteristik der neuen dramatischen Literaturbewegung in Deutschland, als eine flüchtige Skizzierung der bis jetzt hervorgetretenen Richtungen einzelner Dichter, die ich, wie es angemessen war, abbrach, als ich meiner eigenen Versuche zu erwähnen hatte. Oder würde Professor Heiberg mir den Vorwurf eines philosophisch-kritischen Bankerotts, den er mir eben bei dieser Gelegenheit macht, erspart haben, wenn ich, statt mich [559] mit einer bescheidenen Andeutung des mir bei meinen Bestrebungen vorschwebenden Ziels zu begnügen, meine Gedanken so ausgeführt hätte: es ist ein Drama möglich, das den Strom der Geschichte bis in seine geheimnisvollsten Quellen, die positiven Religionen, hinein verfolgt und das, weil es in dialektischer Form alle Konsequenzen der diesen zugrunde liegenden innersten Ideen an den zuerst bewußt oder unbewußt davon ergriffenen Individuen veranschaulicht, ein Symbolum der gesamten historischen und gesellschaftlichen Zustände, die sich im Lauf der Jahrhunderte daraus entwickeln mußten, aufstellt? Vermutlich hätte er seinen Vorwurf dann umgekehrt und ausgerufen: das sind Worte, beweise die Möglichkeit eines solchen Dramas durch die Tat! Die merkwürdigste aller Beschuldigungen ist aber die, daß ich Gutzkow als dramatischen Dichter überschätze; eine Beschuldigung, mir so neu, so ungewöhnlich, daß sie mir der Abwechslung wegen fast angenehm wird. Gutzkow ist der erste unter den neueren Schriftstellern gewesen, der sich des Theaters wieder zu bemächtigen gewußt hat, seine Stücke werden auf allen Bühnen gegeben, schon aus diesem Grunde muß man seiner gedenken, wenn man über die Regeneration des Dramas spricht. Ich sagte über ihn: Gutzkow hat das soziale Thema aufgenommen. Vier seiner Stücke liegen vor, und sie machen in ihrer Gesamtheit einen befriedigenderen Eindruck, als einzeln, sie sind offenbar Korrelate, die den gesellschaftlichen Zustand in seinen Höhen und Niederungen mit scharfen schneidenden Lichtern beleuchten. Dies ist ein richtiges, wohl abgemessenes Wort, und die Literaturgeschichte wird es ohne Zweifel bestätigen, denn in demselben Augenblick, wo sie die Untersuchung anstellt, wie weit Gutzkow hinter der höchsten Aufgabe des Dramas zurückgeblieben ist, wird sie auch untersuchen müssen, wie weit er sich über die dramatischen Handwerker, die des Zeitvertreibs wegen dramatisieren, wie die Kinder der Buchstaben wegen schreiben, erhoben hat, und dann wird sie finden, daß er nach Ideen arbeitet, was, beiläufig gesagt, Iffland, mit dem ihn ProfessorHeiberg zusammenstellt, nicht tat. Nun sehe man, wie Professor Heiberg dieses Wort interpretiert. Ich sage: Gutzkow hat das soziale Thema aufgenommen etc. Damit ist nichts ausgesprochen, als das simple Faktum, wie es Professor Heiberg selbst durch die [560] Inhalts-Anzeige der Gutzkowschen Stücke bestätigt. Es heißt nichts weiter, als: Gutzkow hat zum schwarzen, nicht zum weißen Bogen gegriffen. Professor Heiberg läßt mich sagen: Gutzkow ist der Repräsentant der von ihm eingeschlagenen neuen Richtung. Das würde heißen: Gutzkow hat geradezu ins Schwarze getroffen. Ist beides einerlei? Man sieht, die Deutung, die Professor Heiberg meinen Worten gibt, ist keck. Aber bei weitem kecker noch ist der Schluß, den er daraus zieht. »Von Gutzkow – fährt er fort – sollen wir also abstrahieren, welche Forderungen das Zeitalter an den dramatischen Dichter macht!« Wie? Nun ist Gutzkow nicht bloß auf dem von ihm gewählten Standpunkt ein guter Schütze, nun ist er absolut der Meister-Schütze? Professor Heiberg muß das Publikum des Intelligenzblatts sehr wenig achten, wenn er glaubt, daß es sich durch solche Künste verblenden läßt. Doch, es kommt noch besser. Ich gebrauche an einer Stelle meines Aufsatzes den Ausdruck: Atmosphäre der Zeiten. Professor Heiberg stellt sich, als ob er den metaphorischen Sinn dieses Ausdrucks nicht kennt, und übersetzt sich ihn ohne weiteres mit Dunstkreis. Dann stellt er meinem Ausdruck Atmosphäre den Ausdruck Zeitgeist gegenüber, um durch den Scheinkrieg, worin er die beiden Redefiguren verwickelt, die Gedanken und Begriffe zu verwirren. Doch, es ist nicht einmal ein Scheinkrieg, denn auch im gewöhnlichen Sinn genommen, würde der Ausdruck Atmosphäre dem Ausdruck Zeitgeist noch immer adäquat sein, da die Atmosphäre die leibliche Lebensquelle, die Luft, umschließt, wie der Zeitgeist die geistige, den Strom der Ideen. Mit dieser Spielerei hat Professor Heiberg also nichts gewonnen. Aber auch nichts verloren, kann man sagen, denn vielleicht war ihm die metaphorische Bedeutung jenes Ausdrucks wirklich unbekannt, vielleicht hat er ihn für einen neu geschaffenen gehalten, den er anfechten zu müssen glaubte, weil er nicht wußte, daß es Goethe war, der ihn zuerst in Umlauf brachte. Möglich, obgleich nicht wahrscheinlich. Aber, auch zugegeben, hülfe ihm das zu nichts, denn über den Sinn, den ich im vorliegenden Fall mit meinem Ausdruck verband, konnte er nicht im unklaren sein, da ich ihn, wie der Augenschein lehrt, vorher ausdrücklich festgestellt habe. Ein gleiches Manöver erlaubt sich Professor Heiberg noch zweimal mit meinen Ausdrücken, ich werde es gehörigen Orts nachweisen, [561] ich werde es mir dann jedoch ersparen dürfen, alle seine Spinnwebsfäden, vom ersten bis zum letzten, abzuwickeln, wie diesmal. Ich frage nun: wieviel Ehrlichkeit kann man in der philosophischen Sphäre, wo sich, da wir doch am Ende ebensowohl individuell denken, als individuell dichten, die Grenzen unmöglich haarscharf abmarken lassen, von einem Manne erwarten, der sich schon in einem untergeordneten Gebiet, wo die Enthüllung verhältnismäßig leicht ist, solche »Subreptionen« gestattet. Ich muß noch einmal auf Gutzkow zurückkommen. Professor Heiberg sagt über ihn: seine vier Stocke sind vier Nullen, die zusammenaddiert nur eine einzige Null ausmachen; die Sprache oszilliert zwischen der breitesten Trivialität und dem dicksten Schwulst; die Ideen sind veraltet. Als ästhetische Organismen müssen dramatische Gebilde sich selbst vertreten, die beiden ersten Vorwürfe gehen mich hier also nicht an, aber ich habe behauptet, daß sie nach Ideen gearbeitet sind, und das muß ich dartun, umso mehr, da ohne Zweifel nur mein wohlgemeintes Wort Gutzkow diesen Angriff zugezogen hat. Vorher ersuche ich Professor Heiberg, die Gutzkowsche Rezension meiner Genoveva im Telegraphen nachzulesen, damit er sich überzeugt, daß hier nicht, wie er vielleicht glaubt, ein Freund über den Freund spricht. Die Rezension ist nicht eben günstig für mein Werk, und ich bin nicht der einzige, der sie für ungerecht hält, aber umso eher darf ich sie zitieren, umso nachdrücklicher wird sie beweisen, was sie gerade beweisen soll. Nun zur Sache. Das Thema der Gutzkowschen Stücke ist der Mensch im Kampf mit der Gesellschaft. Sie wollen zeigen, daß dieselben Formen, die dem Geschlecht Halt und Bestand geben, das einzelne Individuum in extremen Fällen vernichten können, und daß dieser unabwendbare Fluch jener Formen sich, wie es Patkul und die Schule der Reichen veranschaulichen, ebensogut geltend machen kann, wenn sie sich zu sehr um den Menschen erweitern, als wenn sie sich zu sehr um ihn verengen. Dies ist, wenn anders Professor Heiberg seinen Ausspruch nicht einseitig auf den materiellstofflichen Inhalt der fraglichen Stücke, für den ich keineswegs aufzukommen gedenke, begründen will, nicht alt und noch weniger veraltet; an Darstellungen, die uns den Menschen vorführen, wie er trotz innerer Existenz-Berechtigung an äußeren Verhältnissen zugrunde geht, hat es freilich niemals gefehlt, aber [562] es ist denn doch wohl ein großer Unterschied, ob diese äußeren Verhältnisse, wie es früher geschah, in ihrer reinen Zufälligkeit, insofern sie nämlich von dem Entschluß des einen oder des andern der im Drama vorkommenden Charaktere abhängig gedacht sind, dargestellt werden, oder in ihrer tieferen Notwendigkeit. Allerdings tritt dieses zweite bedeutendere und allein bedeutende »realistisch-pragmatische« Element, das auch der strenge Immermann in seinen Memorabilien mit Liebe an den jüngeren Schriftstellern anerkannte, bei Gutzkow noch mehr instinktmäßig, als mit entschiedener Klarheit, hervor, aber er hat es in den beiden letzten Stücken schon besser zu bewältigen gewußt, als in den ersten, namentlich im Patkul, der jenes verzweifelte Credo des Mephistopheles: »am Ende hängen wir doch ab von Kreaturen, die wir machen!« (Faust 2ter Teil), zu dem sich selbst Napoleon, der doch wohl ein Selbstherrscher war, bekannte, kommentiert und sich dadurch für das Fräulein Anna von Einsiedel und das Examen über die Unsterblichkeit der Seele Verzeihung auswirkt, wenigstens bei mir.
Ich kann mich, nach Abfertigung aller dieser nur halb zur Sache gehörigen, von Professor Heiberg aber in den Vorgrund gerückten Dinge, endlich zu dem allgemein-wissenschaftlichen Teil seiner Beleuchtung wenden. Hier habe ich eine schwierige Aufgabe, ich kann mir unmöglich denken, daß ich wirklich so auffallend mißverstanden bin, wie es den Anschein hat, und ich muß mich doch stellen, als ob ich es glaube. Zweierlei Methoden gibt es, um das Lebendigste und Eigentümlichste in den Augen vieler, die diese unredlichen Nihilierungsprozesse nicht durchschauen, herabzusetzen. Entweder führt man es auf einen Gemeinplatz zurück, der, wie die zerschnittene Ochsenhaut der Dido das gesamte Karthago, eine unendliche Masse unentwickelter Begriffe, und unter diesen zufällig auch den eben in Frage stehenden, in chaotischem Gewirr, umfaßt und ruft dann triumphierend aus: seht ihr, das ist bereits gesagt! Hiernach hat der Glückliche, der zum ersten Mal die beiden großen Worte Gott und Welt aussprach, alle Philosophen zu seinen Nachtretern gemacht, denn er hat den ganzen Inhalt der Philosophie vorweggenommen. Oder man treibt es auf die äußerste Spitze, man zieht daraus die Konsequenz des Wahnsinns und spricht [563] dann: es muß doch unhaltbar sein, denn dies folgt daraus. ProfessorHeiberg hat sich abwechselnd beider Methoden gegen mich bedient, doch das kann bei einem Mann nicht verwundern, der, wie ich nachwies, meinen Ausdrücken offenbar Gewalt antat, um meine Gedanken durch den Buckel, den er ihrem Körper andichtet, zu verunstalten, ja, der sogar mit mir darüber hadert, daß ich, das logische, wie das ästhetische Alphabet voraussetzend und darum die sich von selbst verstehenden Mittelglieder »überspringend«, die Schulknaben-Menuett zwischen Prämissen und Konklusion nicht regelmäßig erst aufführe, bevor ich das Resultat hinstelle.
Professor Heiberg bemerkt im Anfang, daß er mir in manchen Punkten unbedenklich beistimmen würde, wenn er nur gewiß wäre, welche Begriffe ich mit meinen Worten verbunden habe. Welche Begriffe? Die gewöhnlichen, die, wie Münzen, im geistigen Verkehr gäng und gäbe sind und die höchstens dann unklar werden, wenn man sie lang und breit zu entwickeln sucht. Schon der Ort, wo mein Aufsatz stand, das Publikum, für welches er geschrieben war, konnte Professor Heiberg hierüber belehren. Aber er hat den Zweifel auch nur aufgeworfen, um selbst da, wo sich mir nicht offen mit sophistischen Wendungen beikommen ließ, noch mäkeln zu können. So würde er, wie er versichert, gleich meinem ersten Satz, daß das Leben, das äußere und innere, Gegenstand der Kunst sei, beipflichten, »dersom man – fährt er fort – ikke befrygtede, at han tager Livet i en abstract Betydning, nemlig i dets Adskillelse fra de objective Magter, som bestemme det. Men isaafald vilde man da komme til den usande Paastand, at Kunsten, og navnlig den dramatiske Kunst, idet den fremstiller Individer, ikke kan fremstille Andet, end et reent individuelt Liv, at den følgelig ikke kan fremstille dette som et Moment i det Ewige, ikke kan vise den guddommelige Verdensstyrelses Virken i det Individuelle. Hermed vilde da Kunstens egenlige Idee være fornægtet, de stærste dramatiske Digteres Total-Anskuelse maatte betragtes som forfeilet, og et underordnet, tildeels tilbegelagt Standpunct vilde sættes som Maalet for Dramets fremtidige Udvikling.« 1 Freilich. Aber eben weil dies[564] alles folgt, hätte er eine solche Interpretation meiner Worte von vornherein als unstatthaft abweisen sollen, denn Anschauungen und Gedanken, aus denen sich geradezu die verkehrte Welt deduzieren läßt, sind selten unter dem Monde, sie kommen wenigstens bei der Zudringlichkeit des gesunden Menschenverstandes, der es gleich merkt, wenn irgendwo der Versuch gemacht wird, das Spinnrad vom Faden abzuleiten, nicht ungestört zur Reife, und ich würde sie bei einem Schriftsteller, gegen den ich ein ganzes Heft schriebe, niemals voraussetzen, obwohl ich recht gut einsehe, daß man sich die Sache dadurch beträchtlich erleichtern mag. Ich hätte behauptet, die Kunst könne nur das rein individuelle, nur das von den objektiven Mächten, die es bestimmen, losgetrennte und gesonderte Leben darstellen? Dann hätte ich eigentlich behauptet, sie könne gar nichts darstellen, denn mit einem solchen Unbegriff wäre nicht bloß die Idee der Kunst vernichtet, wie Professor Heiberg sich noch sehr gemäßigt ausdrückt, sondern ihre Möglichkeit selbst wäre aufgehoben, es gäbe gar keinen Weg mehr, auf dem sie Form erlangen könnte, da diese ja eben nur das Verhältnis des Individuellen zum Allgemeinen zeichnet, und da die Unterscheidungs-Linie, die das Einzel-Gebilde in seinen Grenzen vom Ganzen abschneiden soll, mit dem Hintergrund, von dem es abzuschneiden ist, von selbst wegfällt. Ich darf mir den Beweis, daß ich etwas so Widersinniges wirklich nicht behauptet habe, ersparen, meine Leser werden ihn selbst führen, der flüchtigste Blick in meinen Aufsatz, ja die einfachen Worte Maß und Schuld, die gleich zu Anfang vorkommen, müssen sie vom Gegenteil überzeugen. Setzt denn das Maß nicht ein zu Überschreitendes, die Schuld nicht ein zu Beleidigendes voraus, und wird der ärgste Sophist wagen, dies zu [565] Überschreitende, dies zu Beleidigende, dem ersten gegenüber, in das zweite, dritte oder vierte Individuum, mit dem es in Konflikt gerät, zu verlegen und es in Abrede zu stellen, daß die Individuen so viel Recht haben, als sie Kraft besitzen, wenn man sie nicht eben als Glieder der sittlichen Weltordnung, als Monaden, worin die höchste Idee sich geheimnisvoll zu manifestieren sucht, betrachtet? Und ist hiermit nicht erwiesen, daß ich von Maß und Schuld nur sprechen konnte, weil ich »den guddommelige Verdensstyrelses Virken i det Individuelle« 2 oder das uralte Sophokleische Wort:
– an Göttlichem darf
Nie freveln der Mensch! Großsprecherisch Wort
Der vermessenen fühlt den gewaltigen Schlag
Der bestrafenden Hand
Und lehret im Alter die Weisheit!
(Antigone, Schlußchor)
das ich als tragischen Kanon freilich vorziehe, im Auge hatte? Die Sonnenflecke soll ich bemerkt und die Sonne selbst soll ich übersehen haben!
Wie kommt nun Professor Heiberg dazu, mir solche Absurditäten in den Mund zu legen? Etwa weil ich das Moment der Idee, das, wie ich genügend dartat, meiner Betrachtung des Dramas, wie der seinigen und wie der jedes Menschen von ästhetischer Bildung zugrunde liegt, nur im allgemeinen nannte, während ich Fabel und Charaktere ausführlich besprach? Er wäre dazu nicht berechtigt gewesen, wenn ich es auch ganz übergangen hätte, denn die Basis versteht sich überall von selbst, und eben dadurch, daß man sie als sich von selbst verstehend, behandelt, zeigt man am besten, daß man das gehörige Gewicht auf sie legt. Aber ich erinnere mich, ich habe jenes Moment ja ausdrücklich als dasjenige, von dem Würde und Wert des Dramas abhange, definiert. Das kann es also nicht sein. Was ist es denn? Muß ich die kleine Unvorsichtigkeit, daß ich, als ich aus der Schule heraustrat, um in ästhetischen Dingen zwischen ihr und dem gebildeten Publikum zu vermitteln, aus Rücksicht auf letzteres das abschreckende Handwerkszeug, die Methode, dahinter ließ, so schwer büßen? In der Tat, das ist es. Weil ich nicht A B C sage, sondern [566] gleich mit D anfange, indem ich erst zu D eine Bemerkung zu machen habe, murrt mein Gegner von dunkeln Wegen und verworrenen Begriffen und macht mich für jeden Teich, in den er hineingerät, für jede Ecke, an der er sich den Kopf zerstößt, weil er es durchaus nicht zugeben will, daß wir uns schon auf der zweiten oder dritten Station befinden und weil er sich deshalb eigensinnig an die Biegungen und Warnungstafeln der Straße nicht kehrt, verantwortlich. Und er weiß sich zu rächen! Da du mit D anfängst, denkt er, so betrachte ich D als dein A, da du die psychologische Seite des Dramas, die Charaktere, so sehr hervorhebst, so mache ich, ohne mich darum zu bekümmern, daß du es bei der dir gestellten Aufgabe mit Recht tust, daraus dein Alpha und Omega, und da du die Mittelglieder, die deine Resultate miteinander verknüpfen, überspringst, so will ich dir schon die gehörigen unterschieben. Ich habe gegen diese mir geborgten Mittelglieder nicht zur rechten Zeit protestieren können, denn ich konnte Professor Heibergs Feder, da ich nicht die Ehre habe, ihn persönlich zu kennen, in ihrem Lauf nicht aufhalten, aber ich gebe sie jetzt öffentlich zurück, und zwar ohne mich zu bedanken, denn ich glaube das Darlehn dadurch, daß ich von dem einen oder dem andern Leser des Intelligenzblatts vielleicht eine Zeitlang für den Eigentümer angesehen worden bin, mehr als hinreichend verzinst zu haben. Hier ist mein eigener Gedankengang.
Kunst und Philosophie haben eine und dieselbe Aufgabe, aber sie suchen sie auf verschiedene Weise zu lösen. Wenn die Philosophie sich bemüht, die Idee unmittelbar zu erfassen, so bescheidet die Kunst sich, alles, was ihr in der Erscheinungswelt widerspricht, zu vernichten. Die Philosophie hat ihrem Teil der gemeinschaftlichen Aufgabe noch nicht genügt, sie hat die Peripherie um das mysteriöse Zentrum enger und enger zusammengezogen, aber der Sprung von der Peripherie ins Zentrum hinein ist noch nicht geglückt, denn die Vereinzelung ist noch nicht auf ihre innereNotwendigkeit zurückgeführt. Die Kunst dagegen hat ihr Geschäft bei Alten und Neuern noch stets zur rechten Zeit vollbracht, sie hat die Vereinzelung durch die ihr eingepflanzte Maßlosigkeit selbst immer wieder aufzulösen und die Idee von ihrer mangelhaften Form zu befreien gewußt. In der Maßlosigkeit liegt die Schuld, zugleich aber auch, da das Vereinzelte [567] nur darum maßlos ist, weil es, als unvollkommen, keinen Anspruch auf Dauer hat und deshalb auf seine eigeneZerstörung hinarbeiten muß, die Versöhnung, soweit im Kreise der Kunst darnach gefragt werden kann. Diese Schuld ist eine uranfängliche, von dem Begriff des Menschen nicht zu trennende und kaum in sein Bewußtsein fallende, sie ist mit dem Leben selbst gesetzt. Sie zieht sich als dunkelster Faden durch die Überlieferungen aller Völker hindurch, und die Erbsünde selbst ist nichts weiter, als eine aus ihr abgeleitete, christlich modifizierte Konsequenz. Sie hängt von der Richtung des menschlichen Willens nicht ab, sie begleitet alles menschliche Handeln, wir mögen uns dem Guten oder dem Bösen zuwenden, das Maß können wir dort überschreiten, wie hier. Das höchste Drama hat es nur mit ihr zu tun, und es ist nicht bloß gleichgültig, ob der Held an einer vortrefflichen oder einer verwerflichen Bestrebung zugrunde geht, sondern es ist, wenn das erschütterndste Bild zustande kommen soll, notwendig, daß jenes, nicht dieses, geschieht. Professor Heiberg findet die meisten der obigen Sätze, namentlich aber das letzte Resultat, absurd. Ich will ihm glauben, daß er, da er statt des allgemeinen Schuldbegriffs nur einen dürftigen, speziellen Sündenbegriff in sich ausgebildet zu haben scheint, sich von der Wahrheit meiner Aussprüche nicht überzeugen könnte, denn allerdings ist nicht gesagt, daß wir, weil wir leben, auch morden und rauben müssen, und wenn er mich so verstand, so hatte er alle Ursache, darauf zu bestehen, daß die Schuld nur möglich, keineswegs aber unvermeidlich sei. Hier kann ich ihm also seinen Vorwurf nicht übel nehmen, im Gegenteil, ich bin ihm Dank schuldig, daß er ihn so gelind einrichtete und mir nicht einen ganz andern machte. Begriffs-Verwirrung hätte er mir nun freilich in dem Augenblick, wo ich die Begriffe aufs strengste schied und er sie wieder ineinandernestelte, nicht vorwerfen sollen, doch er hatte vergessen, daß an dem Ort, wo ich die Erbsünde ausschloß oder richtiger einschloß, indem ich sie dem Gattungsbegriff, dem sie angehört, unterordnete, vom Drama überhaupt, nicht vom christlichen Drama, die Rede war, und das kann begegnen. Wie er aber dazu kam, vor allem das letzte Resultat anzufechten, begreife ich nicht. Fiel ihm denn der größte der Tragiker, Sophokles, fiel ihm das Meisterstück der Meisterstücke, Antigone, [568] dem sich bei Alten und Neueren nichts an die Seite setzen läßt, nicht ein? Antigone will eine heilige Pflicht erfüllen, bewußt die Verwandten- und Liebespflicht gegen den unbegraben daliegenden Bruder, unbewußt die Pflicht der Ehrfurcht gegen die Götter, dennoch geht sie unter, obgleich sie nichts, als ein bürgerliches, in sich selbst unhaltbares, und nur der Form nach die Idee des Staats repräsentierendes Gesetz übertritt. Es ist klar, entweder habe ich ein Axiom ausgesprochen, oder die Antigone ist auf eine Nichtigkeit gegründet. Zuletzt bemerkt Professor Heiberg noch wider mich, daß ich bei meiner Auffassung des Dramas das Ziel desselben in eine Dissonanz setze, indem ich die Schuld unaufgehoben stehen lasse. Hier können wir uns vielleicht verständigen, nur muß ich mir andere Ausdrücke ausbitten. Das Drama, wie ich es konstruiere, schließt keineswegs mit der Dissonanz, denn es löst die dualistische Form des Seins, sobald sie zu schneidend hervortritt, durch sich selbst wieder auf, es stellt, wenn ein Gleichnis erlaubt ist, die beiden Kreise auf dem Wasser dar, die sich eben dadurch, daß sie einander entgegenschwellen, zerstören und in einen einzigen großen Kreis, der den zerrissenen Spiegel für das Sonnenbild wieder glättet, zergehen. Aber es läßt allerdings eine Dissonanz unerledigt, und zwar die ursprüngliche Dissonanz, die es von Anfang an überging, indem es die Vereinzelung, ohne nach der causa prima zu forschen, als mit oder ohne Kreation unmittelbar gegebenes Faktum hinnahm, es läßt daher nicht die Schuld unaufgehoben, wohl aber den innern Grund der Schuld unenthüllt. Doch dies ist die Seite, wo das Drama sich mit dem Weltmysterium in eine und dieselbe Nacht verliert. Das Höchste, was es erreicht, ist die Satisfaktion, die es der Idee durch den Untergang des ihr durch sein Handeln oder durch sein Dasein selbst widerstrebenden Individuums verschafft, eine Satisfaktion, die bald unvollständig ist, indem das Individuum trotzig und in sich verbissen untergeht und dadurch im voraus verkündigt, daß es an einem andern Punkt im Weltall abermals kämpfend hervortreten wird, bald vollständig, indem das Individuum im Untergang selbst eine geläutertere Anschauung seines Verhältnisses zum Ganzen gewinnt und in Frieden abtritt. Doch dies genügt auch im zweiten Fall nur halb, denn wenn der Riß sich auch wieder schließt, warum mußte der [569] Riß geschehen? Hierauf habe ich nie eine Antwort gefunden, und keiner wird sie finden, der ernstlich frägt.
Professor Heiberg gibt nun seine eigene Ansicht über die Aufgabe, die das künftige Drama lösen soll. »Den idealistiske Fremgang fordrer«, – sagt er – »at Charactererne nu skulle sees i deres Afhængighed af Ideen, og at følgelig denne skal indtage det Overherredømme, som inden Shakspears Tid var indrømmet Fabelen. Det hører til den nyere Tids Udvikling, at der mere spørges om Hvad end om Hvem. Ogsaa i det nyere Drama vil derfor Interessen mere hvile paa den fremstilte Idee, paa hvad man kunde kalde Dramets Tendens, end paa Charactererne, tagne umiddelbart for sig selv, thi nu er Touren til dem at nedsættes til Momenter.« 3 Das verstehe ich nicht, oder wenn ich es verstehe, so schreibt Professor Heiberg dem Drama einen Schritt vor, den es entweder längst getan hat, oder den es niemals tun kann. »In dem neueren Drama wird das Interesse mehr auf der dargestellten Idee, auf dem, was man die Tendenz des Dramas nennt, verweilen, als auf den Charakteren, unmittelbar für sich selbst betrachtet?« Das ist entweder immer der Fall gewesen, oder – doch, treten wir behutsam auf, denn hier ist der Ort, wo wir in Gefahr stehen, alles wieder zu verlieren, was wir schon so sicher gewonnen zu haben glaubten. »Die Charaktere werden nicht mehr in sich selbst, sondern in der Idee des Ganzen ruhen, und nur noch so weit Zentralpunkte im Drama bleiben, als sie selbst sich um ein noch tieferes Zentrum herum bewegen?« Wie? Was? Ich müßte alle Interjektionen auf einmal ausstoßen, wenn ich meine Verwunderung, mein Erstaunen genügend ausdrücken wollte. Statt dessen will ich hier ein offenes Bekenntnis ablegen. Wenn die Idee dem Drama bisher gefehlt hat, wenn sie sich nicht in jeder dramatischen Dichtung, die für die Kunst irgend in Betracht [570] kommt, als Zentrum aufzeigen läßt, und wenn die Charaktere nicht beständig in diesem Zentrum, um das sie sich in größerer oder geringerer Sonnennähe und Ferne »planetarisch« herumbewegen, ihren Ausgangs- und Zielpunkt gehabt haben, dann fehlt das Moment der Idee auch meinem Begriff des Dramas, dann habe ich mit allen meinen vorhergehenden Erörterungen gegen Professor Heiberg nicht allein nichts bewiesen, sondern auch nichts beweisen wollen, dann hat er eine Ansicht, die nicht bloß jetzt gründlich neu ist, sondern die, ich bürge ihm dafür, auch bis ans Ende der Tage neu und jüngferlich frisch bleiben wird, da sie auf keinerlei Art durch künstlerische Verleiblichung abgenutzt werden kann. Hier kehrt sich denn aber, wie jeder sieht, das ganze Verhältnis zwischen mir und meinem Gegner um. Er steht auf dem abstraktesten aller Standpunkte, ich auf dem praktischen oder empirischen, während nach seiner Versicherung das Gegenteil der Fall sein soll; er spinnt die vermessenste aller Theorien aus, und fragt nicht, ob auch Flachs um den Rocken sitzt, sondern ist zufrieden, daß das Rad schnurrt und der Finger die Bewegung des Fadenziehens macht, ich, der ich nach seiner Behauptung: »over Aaen efter Vand« 4 gehe, abstrahiere meinen Begriff der dramatischen Kunst von den Kunstwerken und hüte mich sehr, ein Moment in denselben aufzunehmen, das ich bei Sophokles und Shakespeare vermisse. Nie hat das Drama, das den Namen verdient, anders, als durch seine Totalität wirken wollen, nie hat es sich eine geringere Wirkung, wenn es sie unglücklicherweise hatte, aneignen mögen; es ist, und war von jeher, die lockende Arabeske um eine Chiffre von Geisterhand, die sich nur darum so farbig-bunt, so neckisch-verzogen um die geheimnisvolle Schrift herumschlingt, damit der Mensch, der am Gastmahl des Lebens schwelgende Belsazar, während er sich an den schnörkelhaft-putzigen Umrissen erfreut, auf denen sein trunkenes Auge mit Wohlgefallen ruht, zugleich auch unbewußt und unwillkürlich das dunkle Warnungswort gewahre und entziffere, das ihn über seine Natur und sein Geschick belehrt. Eben aber mit der unmittelbar im Leben selbst aufgehenden, wenn auch in der Form des Widerspruchs hervortretenden, nimmermehr jedoch mit der eigentlich spekulativen Seite der Idee hat es [571] die dramatische Kunst zu tun. Menschen-Natur und Menschen-Geschick, wie sie sich wechselseitig bedingen, soll sie erforschen und darstellen, nicht aber, wie Prof. Heiberg will, in die unergründlichen Tiefen der Metaphysik hinabsteigen. Jenes hat sie, wie ich oben bereits sagte, immer getan, dieses wird sie nie tun, Prof. Heibergs veredeltesLehrgedicht wird ohne Zweifel in der Sphäre der Ununterscheidbarkeit, worin er es in der Eile stecken ließ, verharren müssen, denn seine »Eenhed af det Speculative og det Poetiske« 5 widerspricht, wenn dieser neue Ausdruck nicht etwa auf die uralte Wahrheit geht, daß ein Drama immer dem jedesmaligen Entwickelungsstadium der allgemeinen Welt-Anschauung entsprechen muß, der Natur der Kunst, und kann höchstens ein kaltes allegorisches Puppenspiel, das sich um eine äußere Angel dreht, hervorrufen, nicht aber eine in sich selbst ruhende Schöpfung voll warmblütiger, lebendiger Gestalten. Das wäre kein Fortschritt auf dem Wege, den Shakespeare einschlug, als er die Charaktere von der Oberherrschaft der Fabel befreite, wie Prof. Heiberg meint, das wäre ein Sprung zur Seite, ins Nichts hinein. Shakespeare kehrte nur das um, was man die Ökonomie des Dramas nennt, und das mußte er tun, weil das Individuum durch das Christentum eine größere Bedeutung erhalten und eine veränderte Stellung erlangt hatte; er wandte die Mittel des Dramas anders an und vermehrte sie, aber er steckte ihm kein anderes Ziel. Ich habe nicht vergessen, was ich weiter oben über die Möglichkeit eines symbolischen Dramas, das den Geschichtsstrom bis in seine innersten Quellen, die religiösen, hinein verfolge, gesagt habe, aber ich tue vielleicht wohl, wenn ich hier ausdrücklich bemerke, daß ich dabei keineswegs ans Dialogisieren des dogmatischen Teils der Kirchen-Historie dachte, sondern an eine großartige Darstellung der wenigen Charaktere, die die Jahrhunderte, ja die Jahrtausende, als organische Übergangspunkte vermitteln, und die zuweilen, wie z.B. Luther, mit den Ideen, deren individuelle Träger sie sind, selbst in Konflikt geraten, weil sie vor den anfangs ungeahnten Konsequenzen derselben zu schaudern beginnen. Dies Drama könnte ein allgemeines werden, da es in Stoff und Gehalt für alle Völker gleiches Interesse haben müßte; und an ein solches zu denken, ist in einer [572] Zeit, wo die nationalen Unterschiede mehr und mehr verschwinden, nicht allzu gewagt.
Jetzt habe ich mich noch über einen »Taschenspielerkniff«, über meine »kümmerliche Anschauung der Geschichte« und über eine »Krudität« zu verantworten. Ich kann mir die Satisfaktion nicht versagen, diese Ausdrücke, deren mein Gegner sich bedienen zu müssen glaubte, und die sich den vorangegangenen und von mir ehrlich aufgezählten Vorwürfen eines »philosophisch-kritischen Bankerotts«, sowie der »Absurdität« und der »Begriffsverwirrung« würdig anschließen, zu wiederholen, damit meine Leser, die jetzt schon einigermaßen wissen werden, mit wieviel Recht Prof. Heiberg mich angriff, doch auch sehen mögen, mit wieviel Chevalerie er sein Recht bis zum letzten Augenblick verfolgt hat.
Mit der kümmerlichen Anschauung der Geschichte mache ich den Anfang, weil mit ihr der Taschenspielerkniff von selbst wegfällt. Die Anklage beruht zum Teil wieder auf einem mißverstandenen oder gemißdeuteten Ausdruck. Ich nenne die Geschichte den Niederschlag der wandelnden Zeit, Prof. Heiberg übersetzt sich das mit Hefe oder Bodensatz und frägt dann, ob die Anschauung eines Schriftstellers, der in der Geschichte nichts erblickt, als Hefe und Bodensatz, nicht eine kümmerliche sei. Wenn er wirklich nicht weiß, was der Ausdruck Niederschlag im Deutschen besagt, so lasse er sich eine öffentliche Belehrung gefallen. Der Astronom Gruithusen nennt die Sterne den Niederschlag des Äthers, Immermann die Lehre den Niederschlag der Forschung, in keinem geringeren Sinne ich die Geschichte den Niederschlag der Zeit. Der Ausdruck entspricht dem chemischen: Präzipitat und bezeichnet in jedem Zeugungs- und Gestaltungsprozeß das Dauernde, Bleibende, das sich im Gegensatz zu den verfliegenden Elementen fixieren läßt. Dieser erste Grund, aus dem meine kümmerliche Anschauung der Geschichte gefolgert wurde, beweist also das Gegenteil von dem, was er beweisen sollte; mit dem zweiten steht es nicht besser. In dem Augenblick, wo ich, auf Napoleons entscheidende Autorität gestützt, die materielle Hälfte der Geschichte durchstreiche, um der geistigen, die durch die Kunst wiedergeboren werden soll, die Bedeutung, die ihr gebührt, zu erobern, läßt Prof. Heiberg mich behaupten, [573] die Geschichte sei nichts, als das tote Porträt der Begebenheiten. Unbegreiflich! Nach der von mir entwickelten Ansicht ist sie zugleich mehr, unendlich viel mehr, aber auch weniger, als das. Weil sie weniger ist, weil Karl der Große unstreitig größer war, als das Bild, das sein Schreiber den Jahrhunderten von ihm überlieferte, spreche ich den Dichter von der Verpflichtung frei, dies Bild ängstlich zu kopieren und die Gestalt des Kaisers, wie sie in seinem eigenen Geist aufdämmert, wenn er sich in die Zeit, die er beherrschte, versenkt, zu ersticken; weil sie mehr ist, weil eine ganz andere Wahrheit durch sie hindurchgeht, als die mit Brief und Siegel zu belegende und deshalb auch mit Brief und Siegel zu verfälschende, durfte ich ihm jene Verpflichtung erlassen, ohne der Geschichte und dem Utilitäts-Verhältnis, worin das Drama zu ihr steht, etwas zu vergeben. Dieser Satz, wenn irgendeiner, beweist sich selbst, und meine Anschauung ist als eine lebendige und eigentümliche gerechtfertigt, wenn ich sie auch nur in simplen Worten, die hinter Prof. Heibergs »Tidernes levende og uforgængelige Aand« 6 weit zurückstehen, vortrug. Übrigens äußerte sich Lessing, was die dramatische Seite dieser Frage betrifft, ganz in meinem Sinn, nur daß er, als er seine Ansicht aussprach, die Gründe, gegen seine Gewohnheit, zurückbehielt. Prof. Heiberg freilich ist hier seines Sieges so gewiß, daß er den Triumph im voraus feiert, und ausruft, ich sei, der Ausdruck Niederschlag beweise es, schwerlich der Messias, den das Drama erwarte. Wie grausam! Aber wenn ich nun noch grausamer sein, wenn ich erklären wollte: Professor Heiberg ist der Messias! Würde er nicht in Verlegenheit geraten, wenn er nun das Werk der Erlösung vollbringen sollte?
Auf den Taschenspielerkniff brauche ich nun wohl kaum noch zurückzukommen. Ich soll ihn dadurch begangen haben, daß ich, als ich von Shakespeares Unterordnung der Fabel unter die Charaktere sprach, mich des Ausdrucks Geschichte bediente, statt den Ausdruck Fabel zu wiederholen. Es leuchtet ein, daß, wenn ich die mir vorgeworfene kümmerliche Anschauung der Geschichte nicht hatte, auch zu der mir angeschuldigten Subreption kein Grund vorhanden war und daß mit dem Grund sie selbst wegfällt. Aber auch hier, es ist entsetzlich, denn es ist das dritte [574] Mal, habe ich die jammervolle Aufgabe, einen schiefgedeuteten Ausdruck zu rechtfertigen, da Prof. Heiberg seine Anklage einzig und allein auf diesen stützt. Es ist bekannt, daß man nach deutschem Sprachgebrauch ebensogut von merkwürdigen Geschichten, wie von der Geschichte spricht, und daß man damit gerade wunderbare Ereignisse und schauerliche Vorgänge, wie Novellen- und Dramen-Dichter sie wohl zu benutzen pflegen, bezeichnet. In diesem Sinne gebrauchte ich den Ausdruck, und eben bei Shakespeare, der so oft seltsame Geschichten behandelt hat, war er richtig angewandt. In einem andern Sinne konnte ich ihn gar nicht gebrauchen wollen, denn der eigentlich historischen Stücke sind bei Shakespeare ungleich weniger, als der dem Stoff nach phantastischen und sagenhaften, und es versteht sich doch wohl von selbst, daß man, wenn man bei einem Dichter das Charakteristische hervorheben will, die Mehrzahl seiner Werke ins Auge faßt. Ohnehin spreche ich, wie mein Aufsatz lehrt, von der Historie, der wirklichen Welt-Historie, viel später; auch setzte ich, und dies entscheidet, am fraglichen Orte für den Ausdruck Charaktere den Ausdruck Menschen, wie für den Ausdruck Fabel den Ausdruck Geschichte, und zeigte dadurch deutlich genug, daß es mir um strenge Handhabung der herkömmlichen Terminologie keineswegs zu tun sei.
Nun ist die Krudität noch übrig. »Es kommt«, sage ich, »bei philosophischen Dramen alles darauf an, ob die Metaphysik aus dem Leben hervorgeht, oder ob umgekehrt das Leben aus der Metaphysik hervorgehen soll.« Nur einem einzigen, nur Prof. Heiberg, kann der Sinn meiner Worte dunkel sein, dieses einzigen wegen werde hier denn erläuternd bemerkt, daß ich an den unermeßlichen Unterschied erinnern woll te, der zwischen den Tiefsinnigkeiten eines Hamlet, den ein ungeheures Schicksal in die Abgründe seines Innern hineintreibt, und zwischen den kahlen Spitzfindigkeiten einer philosophischen Gliederpuppe, durch die, wie wir es in Deutschland schon erlebten, ein »Liebhaber der Weisheit« den »reinen Begriff« zur Abwechselung einmal in Szenen und Akten, statt in Paragraphen und Kapiteln, zu veranschaulichen sucht, besteht.
Ich bin zu Ende, und was ich mir nicht verhehlte, als ich diese Verteidigung begann, das hat sich bestätigt: sie beweist der [575] Hauptsache nach nichts, als daß sie überflüssig war, denn ich habe auch an keinem einzigen Ort Gelegenheit gehabt, die in meinem Aufsatz niedergelegten Ideen, in denen ich freilich die Resultate jahrelangen Nachdenkens gab, zu berichtigen, sondern mein ganzes Geschäft hat darin bestanden, die von meinem Gegner in meinem Gedanken-Haushalt durch willkürliche Interpretation angerichtete Verwirrung wieder zu beseitigen. Aber vielleicht muß in unserer Zeit, wie jedes Recht, so auch das Recht zum Stillschweigen erkämpft werden. Ich glaube es jetzt erkämpft zu haben und werde davon vermutlich in wieder vorkommenden Fällen, selbst wenn die Angriffe mir nicht entgehen sollten, was aber, da ich Deutschland allernächstens verlasse, leicht geschehen könnte, mit noch größerer Ruhe, wie bisher, Gebrauch machen.
Fußnoten
1 [wofern man nicht befürchtete, daß er Leben in einer abstrakten Bedeutung genommen hätte, nämlich in dessen Absonderung von den objektiven Mächten, welche es bestimmen. Aber so würde man kommen zu der unwahren Behauptung, daß die Kunst, und namentlich die dramatische Kunst, indem sie Individuen darstellt, nichts anderes darstellen kann, als ein rein individuelles Leben, daß sie dieses folglich nicht darstellen kann, als ein Moment im Ewigen, daß sie nicht zeigen kann das Wirken des göttlichen Weltenlenkers im Individuellen. Hiemit würde aber die eigentliche Idee der Kunst vernichtet sein, die Total-Anschauung der größten dramatischen Dichter müßte als verfehlt betrachtet werden, und ein untergeordneter, zum Teil zurückgelegter Standpunkt würde gesetzt als Ziel für die Entwicklung des Dramas.]
2 [das Wirken des göttlichen Weltenlenkers im Individuellen]
3 [Der idealistische Fortgang erfordert, daß wir die Charaktere in ihrer Abhängigkeit von Ideen gewahren und daß folglich letzteren die Oberherrschaft erobert werden soll, welche zu Shakespeares Zeit der Fabel eingeräumt war. Es gehört zur Entwicklung der neueren Zeit, daß sie mehr frägt nach dem Was, als demWer. In dem neueren Drama wird das Interesse daher mehr verweilen auf der dargestellten Idee, auf dem, was man des Dramas Tendenz nennen könnte, als auf den Charakteren, unmittelbar für sich selbst betrachtet, denn nun gilt es, daß diese sich zu Momenten niedersetzen.]
4 [über den Bach nach Wasser]
5 [Einheit des Spekulativen und des Poetischen]
6 [der Zeiten lebender und unvergänglicher Geist]