[278] Zwei schöne alte Dichtungen
nebst
treuer Umsetzung in's neue Deutsch 1

[279]

1. Maria

Ick weet eyne maget schone
de draget den hogesten prys.
we ringet na eren lone
de is van dogenden wys.
by er synt ander frouwen
eyn dorneken anger ouwe
by eynen lilien rys.
Er reine wyflike belde
er kuscheit is so groit
dat syk eyn eenhorn wilde
syk gaff in eren schoot
dat was so starker krefften
dat in der meister scheffte
den hemel ok nicht en beslot.
[280][282]
Von sternen glans eyne kronen
de draget se wolgedaen;
he sach se in den trone
de vorste ocktaviaen
in hemel schoner wune
gekledet mit der sune
er voitchemel was de mane.
Eyn lam in kyndes wyse
an eren brusten lach
dat was de olde ryse
he schoip den ersten dach.
he was eyn manlick ridder.
syn leven wort em bitter
dorch syn ungemack.
Syn herte wort em dorstecken [dorvuret(?)]
mit eynen steilen speer
dar mede heft he versturet
de helle und al er heer.
he verlosede de gefangen.
er leit was em vergangen,
wal uns der lewe mer!
[282][284]
He stont up uth dem grawe
der edele vorste gudt
mit synes kruzes stave,
syne wunden weren em roit
want he mit groiter eren
tom hemel wolde keren.
verwunen was de doit.
He is to hemel gefaren
mit also groter macht.
eyne also groten schare
heft he myt em gebracht.
de hemel was geslotten,
he steit uns allen oppen.
wal em, wer dar komen mach!
He syttet in den trone
to synes vaders hant
em syngen de engeln schone
sanktus den soiten sank
sanktus deus sabaoth
eyn hillich mensch und darto god
Christus is genant.

Fußnoten

1 Diese beiden schönen Dichtungen wurden mir in alter Abschrift von einer Freundin geschenkt und durch mich dem Hrn. Rath Schlosser gegeben, der sie in seinen »Liedern der Kirche aus allen Jahrhunderten« gab. Meine Umsetzung ist um zehn Jahre älter als die seine.

[284] [281]1. Maria

Ich weiß eine Magd, gar hehre,
Die trägt den höchsten Preis.
Wer ringt zu ihrer Ehre,
Der ist an Tugenden weis'.
Gen ihr sind andre Frauen
Nur Dörnlein auf der Auen
Bei einem Lilienreis.
Ihr rein weiblich Gebilde,
Ihr' Keuschheit ist so groß,
Daß sich ein Einhorn wilde
Gab hin in ihren Schooß,
Das war so stark an Kraft,
Daß seine Meisterschaft
Der Himmel nicht beschloß.
[281][283]
Von Sternenglanz eine Krone,
Die trägt sie wohlgethan;
Es sah sie in ihrem Throne
Der Fürst Octavian
In himmelschöner Wonne,
Bekleidet mit der Sonne,
Den Mond ihr unterthan.
Ein Lamm als Kindlein süße
In ihren Armen lag;
Der Alte war's, der Riese,
Der schuf den ersten Tag,
Der mannlichste der Ritter;
Ihm ward sein Leben bitter
Durch schwerstes Ungemach.
Sein Herz ward ihm durchstochen
Mit einem scharfen Speer,
Damit hat er durchbrochen
Die Höll' und all' ihr Heer.
Er löste, die gefangen,
Ihr Leid war da vergangen,
Wohl uns der guten Mär'!
[283][285]
Er stand auf aus dem Grabe,
Der edle Fürste gut,
Mit seinem Kreuzes-Stabe;
Sein' Wunden waren roth.
Als er mit großen Ehren
Zum Himmel wollte kehren,
Ueberwunden war der Tod.
Er ist zum Himmel gefahren
Mit wundergroßer Macht.
Wol unzählbare Schaaren
Hat Er mit Sich gebracht.
Der Himmel, einst geschlossen,
Steht nun uns allen offen;
Heil, der drein kommen mag!
Nun sitzt Er auf dem Throne
Zu Seines Vaters Hand.
Ihm singen die Engel zum Lohne
Sanctus, den süßen Sang,
Sanctus Deus Sabaoth! –
Ein heil'ger Mensch und wahrer Gott
Christus ist genannt.

[285] 2. De zeile und de werlt

de zeile.

Werlt ick wil dy myde
und deinen dy nicht mer.
du lonest my al mit lyden,
dyne vroude ick nichten begeer.
ick wil my von dy scheiden
du hesst my leedt gedaen,
nicht lenger wyl ick beiden,
eynen orden wyl ick anfaen.
de werlt.

Wultu dyn lyden annemme
und wultu von my gaen,
in eynen orden begewen
so is dyne vroude gedaen.
woldestu noch by my blyven,
dat wer der wille myn,
dy mochte noch heil beklyven:
myn deyner soldestu syn.
[286] [288]de zeile.

Ick hebbe dy so lange gedeinet,
myne lon is alto smal;
ick wyl den genen deinen
de eth my wal lonen sal.
ick wil dy iumer myden,
dyn deiner wil ick nicht syn;
du lonest my al myt liden,
dar na der hellen pyn.
de werlt.

Laet dusse rede varen
und hebbe eynen vrischen moet,
und wil de reise sparen,
dat dunkt my wesen gudt.
du bist ser wilt von syne
de vroude is dy bereit
wu soldestu bedwyegen
in solker strengicheit?
de zeile.

De tydt is kort up erden
de wy hir sollen haen.
van al dyner vroude
so wil ick ledich staen.
[288][290]
du lonest my al mit liden,
dar na der hellen stank;
de ewichlick sal duren
und wesen sunder verganck.
de werlt.

Du bist noch junk van yaren,
gebruke dyner juagenzaget
und laet dyn truren varen
darvon werstu verhaget.
du machst noch lange leven
dar by vele vroude haen
in dynen older dy begeven
dar mede der helle untgaen.
de zeile.

Al byn ick iunck van iaren,
de doit kumpt alto hant
de niemant en wil sparen,
dat is my wal bekant.
se synt dar hen gevaren,
se weren eres modes fry,
se lygen my in der erden
vele swarer dann dat blyg.

[290][292]
de werlt.

Du kannst dy nicht besynnen
wat eynen orden to hort:
dyne natuer mostu bedwyngen,
de vroude wert dy verstuert.
eyn arm elendich leven
dat wert dy dann bekant;
du en kannst es nicht genesen,
to swaer is dy de bant.
de zeile.

De konink van hie boven
dat sal myn hulper syn
den de engele loven
in blydeliken anschyn.
in em so wyl ick hopen,
syne genade is also groit,
he en sal my nicht verlaten,
he hulpet my wal uth der noit.
de werlt.

We heft dy dyt geraden?
des do my doch gemach,
want do yn korten dagen
dut nicht en werst bedacht.
[292][294]
up mysmoet wultu bouwen,
du wult mih volgen ny,
dat sal dy noch wal rouwen –
davor se warne ick dy.
de zeile.

Du woldest my gerne bedriege,
ick hebbe dy wal verstaen
darto woldestu my leygen
als du mannigen hesst gedaen.
dyne lysten mogen dy nicht baten,
dyne redde mogestu wal laen;
ick wil my van dy scheiden,
eynen anderen wech bestaen.

[294] [287]2. Die Seele und die Welt

Die Seele.

Welt, ich will dich meiden
Und dienen dir nicht mehr.
Du lohnst mir nur mit Leiden,
Deine Freud' ich nicht begehr'.
Ich will von dir mich scheiden,
Hast Leides mir gethan;
Nicht länger will ich säumen
Den Schleier zu empfahn.
Die Welt.

Den Schleier wolltest du nehmen
Und wolltest von mir gehn?
Wirst du in's Kloster treten,
Ist's um deine Freude geschehn.
Doch willst du bei mir bleiben,
Wie es der Wille mein,
Dir möchte Heil bekleiben:
Mein Diener sollst du sein.
[287] [289]Die Seele.

Ich habe dir lange gedienet,
Gering war stets mein Lohn;
Nun will ich Jenem dienen,
Der lohnt mit ew'ger Kron'.
Dich will fortan ich meiden,
Dein Diener nimmer sein.
Du lohnst mir jetzt mit Leiden
Und einst mit ew'ger Pein.
Die Welt.

Laß diese Rede fahren
Und fasse frischen Muth;
Wollst deine Reis' auch sparen,
Das, mein' ich, wäre gut.
Du bist so froh von Sinnen,
Die Freud' ist dir bereit;
Was willst du nur beginnen
In solcher Strengigkeit?
Die Seele.

Die Zeit ist kurz auf Erden,
Das Ende nimmer fern.
All' deine Freud' und Ehren
Verlaß ich froh und gern.
[289][291]
Du lohnest deinen Kindern
Mit Schmach und Schmerz ohn' Zahl,
Die keine Zeit mag lindern,
In ew'ger Höllenqual.
Die Welt.

Du bist noch jung an Jahren
Benutze deine Zeit
Und laß dein Trauern fahren,
Das dir die Lust verleid't.
Du kannst noch lange leben,
Viel Freuden noch ersehn,
Im Alter dich bekehren
Und so der Höll' entgehn.
Die Seele.

Bin ich auch jung von Jahren,
Der Tod ist nah zur Hand,
Der Niemanden will sparen,
Das ist mir wol bekannt.
Viel sind dahin gefahren
Der Frohen jung und alt;
Nun liegen sie in der Erde
Wie Blei so schwer und kalt.

[291][293]
Die Welt.

Du kannst dich nicht besinnen,
Was zu einem Orden gehört:
Deine Natur mußt du bezwingen,
Alle Freude wird dir zerstört.
Ein arm elendig Leben
Umgiebt dich eng umher.
Du darfst dich ihm nicht geben,
Das Joch ist dir zu schwer.
Die Seele.

Der König hoch dort oben,
Der soll mein Helfer sein,
Den alle Engel loben
Im lichten Himmelsschein.
Vertrauen will ich fassen,
Sein Gnadenarm reicht weit.
Er wird mich nicht verlassen,
Er hilft mir in dem Streit.
Die Welt.

Wer mochte dir das sagen?
Das wüßte ich doch gern,
Denn deinen jungen Tagen
Liegt solch ein Denken fern.
[293][295]
Aus Mißmuth willst du wählen?
Nicht hören willst du mich?
Bald wird dich Reue quälen,
Mein Kind, ich warne dich.
Die Seele.

Du willst mich fein belügen,
Ich kenne dich, o Welt!
Willst listig mich betrügen,
Wie du Manchen hast gefällt.
Magst deine Netze breiten,
Magst locken noch so schön:
Ich will von dir mich scheiden,
Einen andern Weg zu gehn.

Notes
• Zwei schöne alte Dichtungen
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TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. Zwei schöne alte Dichtungen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-537D-B