3. Der Morgenwind

Wacht auf, wacht auf, ihr Fluren!
Laßt Träumen sein!
Dahin ist Nacht und Sorgen,
Schaut an den roten Morgen
So hell und frisch und rein!
Ich lag in Blumen so tief, so tief,
Bis mich der klare Morgen
Mit seinem Schimmer rief.
Habt Dank, ihr süßen Blumen!
Wie hold ich schlief.
Nun schwing' ich meine Flügel
Und zieh' durch fremde Fluren,
Wer hemmte meinen Lauf?
Flattr' um ferne Hügel,
Gehe, wehe,
Ihr Blumen auf den Fluren,
Wacht auf! Wacht auf!

[155] Nelke neben der Viole.

Nun ist in blauen Lüften
Der Morgenwind erwacht!
Du hast mit süßen Düften
Die ganze Nacht geklagt.
Nun stehst im dunklen Kleide
So ferne du und stumm,
Und neigst dich tief im Leide
Und siehst dich gar nicht um.
»Laßt mich in meinem Leide
Nur stille hier verblühn.
Es gibt doch keine Freude,
Seitdem die Rose hin.«
Reseda.

Ja, seit die Ros' erblichen,
Kann sich kein Gräslein freun.
Da ist der Lenz gewichen
Aus diesem ganzen Hain.
Alle Blumen.

Du Wurm, der sie zerstochen,
O falscher, böser Wurm.
Du Sturm, der sie gebrochen,
O wilder, grauser Sturm!
Goldblume.

Ich tat mich so betrüben,
Ein golden Pünktlein kaum
Ist mir noch übrig blieben
An meiner Blätter Saum.
Alle Blumen.

Wir mögen nicht mehr prangen
Mit Farben rot und blau,
Wie fällt auf unsre Wangen
Doch nachts so warmer Tau!
Tuberose.

Der Tau, der brennt und glühet
Ach Schwestern, wie so heiß!
Und was sonst farbig glühet,
Das wäscht er bleich und weiß.
[156] Staude.

Ja, Schwester, Tau sind Tränen,
Sind sie auch oftmals heiß.
Ja, namenlos ist Sehnen,
Drum bin ich bleich und weiß.
Vergißmeinnicht.

Sonst stand ich blau am Quelle
Und sprach: vergiß mein nicht,
Hier glüh' ich weiß und helle
Und sage: weine nicht.
Weiße Rose.

Wir weißen Rosen blühen
Recht wie in Lieb' und Lust,
Wir weißen Rosen blühen
Herauf aus ihrer Brust.
Sie ist ja nun geschieden
Von Leid und Erdenschmerz,
Wir Rosen heißen Frieden,
Ach, nimm uns an dein Herz.
Aster.

Ach, hier auf dieser Erde
Ist gar nichts zart und rein,
Und Kummer und Beschwerde
Engt jeden Busen ein.
Laß sein! was hier verglühet,
Das wird dort reiner glühn.
Laß sein! was hier verblühet,
Das wird dort ewig blühn.
Dort, wo die Sel'gen wohnen,
Führt einst der Tod dich hin;
O Herz, dort gibt es Kronen
Für treuen Duldersinn.
Alle Blumen.

Wir lächeln all durch Tränen,
Die Blättlein sind so naß.
Uns pflanzte heißes Sehnen,
Drum sind wir welk und blaß.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. 3. Der Morgenwind. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5497-7