[359] Dem gekränkten Freunde

Wenn meine Lippen schweigen,
Mein Haupt sich niederbückt
Und stille Thränen zeugen,
Daß tiefer Schmerz mich drückt,
Und wenn verhehltes Klagen
Aus meiner Brust sich drängt:
Woll'st nimmer dann mich fragen,
Was meine Seele kränkt.
Daß ich Dich einst verkannte
Und daß ich zürnend mich
Von Deinem Herzen wandte,
Das kränkt mich mehr als Dich. –
[360]
Wenn schwer sich aufwärts hebend
Mein müdes Auge bricht
Und meine Lippe bebend
Das letzte Amen spricht,
Wenn meine Händ' erkalten,
Zum reuigen Gebet
Sich fromm noch einmal falten
Und still das Herz mir steht:
Auch dann woll'st Du nicht fragen,
Was sterbend mich noch kränkt,
Und was die letzten Klagen
Aus meinem Busen drängt.
Daß ich Dein Herz verkannte,
Von Deiner Liebe mich
In harter Strenge wandte,
Das quält noch sterbend mich.
O Bruder, dann verzeihe,
Was ich mir nie verziehn;
Dann möge meiner Reue
Vergebung ewig blühn.
[361]
Und dann wirst Du mir drüben
Die Hand versöhnend weihn,
Und dann wird auch Dein Lieben
Verklärt und selig sein:
»Denn eine einz'ge Treue
Ist aller Liebe werth,
Und eine einz'ge Reue
Zerbricht das Richterschwert.«

Coblenz, 1825.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. Gedichte. Lieder (Ausgabe von 1879). Anhang. Dem gekränkten Freunde. Dem gekränkten Freunde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-54B1-D