[305] Das Vöglein im Käfig

(Dem Bruder.)


Mein Sehnen und Bangen

Nach Dir nur verlangen.

Ein Vöglein sitzt gefangen
Im engen Kerker sein
Und schlägt die Eisenstangen
Mit wunden Flügelein.
Es weht zu ihm herüber
Der frohen Brüder Lied;
Bald nah, bald fern vorüber
Manch freier Vogel zieht.
Wie möcht' es auch so gerne
Durch blaue Lüfte ziehn;
Wie blickt es in die Ferne
Nach frischer Wälder Grün.
Wie fröhlich wollt' es loben
Mit süßem Sang und Klang
Den Herrn im Himmel droben
Sein kurzes Leben lang. –
[306]
Arm Vöglein mag nicht singen,
Ist traurig und allein,
Thut auf und nieder springen
Im engen Kerker sein.
Und singt es einmal leise
Mit krankem Schnäbelein,
So klingt nur Trauerweise
Tief aus dem Herzen sein. –
Ach, Vöglein, dein Verlangen,
Das fühl' ich all mit dir;
Dein Sehnen und dein Bangen
Brennt auch im Busen mir.
Mich zieht nach Südens Auen
Wie dich der Sehnsucht Schmerz:
Den Bruder möcht' ich schauen,
Ihm sinken an das Herz.
Mit ihm dann wollt' ich loben
In süßem Sang und Klang
Den Herrn im Himmel droben
Mein ganzes Leben lang.

Wiesbaden, Sommer 1826.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. Gedichte. Lieder (Ausgabe von 1879). Anhang. Das Vöglein im Käfig. Das Vöglein im Käfig. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5519-C