[208] Selbst

Vergiß Dein Ich; Dich selbst verliere nie!
Nichts Größres konnt' aus ihrem Herzen Dir
Die reiche Gottheit geben als Dich selbst.
Was an der Mutter Brust, was an der Brust
Der großen Mutter, der belebenden
Natur, von Elementen in Dich floß,
Luft, Aether, Speis' und Trank und Regung, Bild,
Gedank' und Phantasei, bist Du nicht selbst.
Du selbst bist, was aus Allem Du Dir schufst
Und bildetest und wardst und jetzo bist,
Dir bist, Dein Schöpfer selbst und Dein Geschöpf.
Nicht was Du siehest (auch das Thier bemerkt),
Nicht was Du hörest (auch das Thier vernimmt),
Nicht was Du lernest (auch der Rabe lernt),
Was Du verstehest und begreifst, die Macht,
Die in Dir wirkt, die innre Seherin,
Die aus der Vorwelt sich die Nachwelt schafft,
Die Ordnerin, die aus Verwirrungen
Entwirrend webt den Knäuel der Natur
Zum schönen Teppich in und außer Dir:
Das bist Du selbst; die Gottheit ist's, wie Du.
»Die Gottheit?« Ja! denn denke, denke Dir
Der Wesen Chaos ohne Sinn und Geist,
Ohn' einen Allerfüllenden, der sich
Und Allem Regel ist; gedenke Dir
Den großen Unsinn der sinnreichesten
Natur und stürz unsinnig Dich hinab
Ins öde Chaos, das sich selbst nicht kennt:
Denn wärest Du, wenn's nirgend ist, ein Selbst?
Zurück in Dich! In Deinem innersten
Bewußtsein lebt ein sprechender Beweis
Vom höchsten Allbewußtsein. Sei ein Thier,
Verliere Dich: und wunderst Dich, o Thor,
Daß Du die Gottheit mit Dir selbst verlorst?
»Der Wesen Harmonie!« Ein leeres Wort
Ohn' einen Hörer. Höre Du sie tief
In Deinem Herzen, und es nennt Dein Herz
In tiefster Stille mit dem vollen Chor
[209]
Der Welten Ihn, das höchste Selbst, den Sinn
Und Geist, das Wesen aller Wesen, Gott.
Wolauf! in Deinem Innern baue dann
Der Gottheit einen Tempel, wo sie gern
Mittheilend wohnt! In ihm erschallet laut
Und leise jener Wahrheit Stimme, die
Der Wesen Selbst ist. Auf! erkenne sie,
Sei Priester dieser Wahrheit, diene ihr
Am heiligsten Altar und ehre Dich
Und pfleg in Dir Dein göttlich Selbst, Vernunft!
Die häßliche Gestalt, die schaudernd Du
Im Spiegel Deines Lebens an Dir siehst,
Die Furie, die Dich zu Neid und Haß
Und Eitelkeit anregte, sie, die Dich
Von Deinen Liebsten trennete und schloß
Mit Eisen Dir das freundlichste Gemüth:
Sie war nicht Du; die ärgste Feindin Dir,
Dich selbst Dir raubend. Hemmte sie Dir nicht
Dein Fröhlichstes, das Wirken? stellte Dir,
Dem Stolzen, größern Stolz entgegen, der
Dich überwältigend erbitterte,
Daß Deine schönsten Früchte Du mit Gift
Anhauchtest statt des süßen Wohlgeruchs;
Entzweiete Dich mit Dir selbst und schuf
Zur Truggestalt Dich Dir, die außenher
Du suchetest und liebtest, und, nur sie
Begehrend, Dich, Dich in Dir selbst verlorst.
Betrogener Narcissus, bist denn Du,
Was Du im Quell anlächelst? sehnsuchtvoll
In allen Spiegeln suchst? dem Echo selbst
Abzwingest? Ist Dein Schatte mehr als Du?
Und wunderst Du Dich, der vom ärgsten Gift,
Dem eignen ausgehauchten Athem, lebt,
Wenn er von Andrer Munde wiederkehrt?
Du wunderst Dich, daß Du zum Schatten wirst,
Zum trocknen Quell, zum Grabe Deiner selbst,
Zur Puppe: spieltest Du mit Dir nicht stets?
Wer sich verlor, was hätt' er ohne sich?
Was in dem Herzen Andrer von uns lebt,
Ist unser wahrestes und tiefstes Selbst.
[210]
Was mit der weiten Welt uns einet, was
Uns innern Frieden schafft im Sturm der Zeit,
Uns Frevel übersehn, vergessen lehrt
Und mild erkläret, wie denn und woher
Der Thor ein Thor sei, ist ein großes Selbst.
Was ungereizt von außen unser Herz
Aufregt und hoch erhebt – es spannet uns
Die Flügel weit und hält sie, daß im Sturm
Sie über Lüften wie im Neste ruhn
Und frischer aufwärts schlagen –, was in Ruh
Geschäftig macht und, innrer Kräfte voll,
Des äußern Danks sich wundert, wenn am Ziel,
Am Ziel der Laufbahn nur sein Auge weilt:
Wer ist's? Ein überschwänglich großes Selbst.
Wer Tausende in seinem Busen trägt,
Sich ihrer Noth erbarmend, Finsterniß
Zu Lichte schafft und träget in sich selbst
Die große Regel aller Seligkeit:
»Was Du nicht willst, daß Dir geschehe, thu
Auch Andern nicht! was Du willst, thu zuerst!«
Und hat Gefühl und Kraft, ein Menschengott,
Nur Göttliches zu wollen und zu thun:
Wer ist es? Ein allmächtig-gutes Selbst.
Talent ist nicht der Mann. Die Spinne webt;
Die Wespe wie die Biene baut: der Trieb
Zur Kunst ist bei Insecten. Wähne nicht,
Daß, was die Sängrin singet, sie empfand,
Daß, was der Spieler spielet, er auch sei!
Ein Feiger schleicht, ein Schatte, durch die Welt;
Der Thor vergeudet sich; der Weichling zieht
Und schmeichelt sich hindurch; der Schwache bebt
Und stirbt im Tode: sich unsterblich fühlt
Wer als ein ewiges, unsterblich Selbst?
Ambrosia, Frucht der Unsterblichkeit,
Ihr amaranthnen Lauben, ewig blühend
Der Freundschaft und dem daurenden Verdienst,
Euch fand ein unbezwingliches Gemüth,
Das nicht zum Moder sprach: »Du bist mein Vater!«
Zu Würmern, zur Verwesung nicht: »Ihr seid
[211]
Mir Brüder, Schwestern, Mutter!« Ruhig sah's
Den Abgrund vor, den Himmel über sich
Und sprach: »Was an mir stirbt, bin ich nicht selbst!
Was in mir lebet, mein Lebendigstes,
Mein Ew'ges, kennet keinen Untergang.«

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Viertes Buch. Selbst. Selbst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-57F0-9