Die Auferweckung des Lazarus

Eine biblische Geschichte zur Musik.
1772.
Maria (über dem Grabe).

Er ist dahin, den Gott mir nahm!
Wo nimmer Keiner wiederkam,
Und was ich Thränen auf sein Grab
Weine, kommen nicht hinab!
Nein!
Er ist dahin! liegt öd' allein
Und droben sein Leichenstein. –
War all mein Freund- und Bruderherz,
Und nun zerrissen ist mein Herz!
Ist bei ihm droben! Zu ihm hin,
Seufzer! findet Ihr ihn?
[514]
Nein!
Ist hin, ist fern in Gottes Land,
Ich nieden im Erdentand.
Martha.

Maria, ach, Du murrest
Zu Gott empor! Du schiltst
Des großen Vaters aller Lebenden
Und Todten Rath umsonst!
Kann Dich das Grab
Erhören? kann
Ihn Deine Thräne wecken?
Maria.

Und was ich denk' und red' und thu',
Nichts giebt doch, nichts dem Herzen Ruh.
»Blüht,« sprach ich, »Blumen, um ihn her,
Trost mir!« Sie blühn nicht mehr!
Nein!
Ein Sturm, der kam! der Zweig, er brach,
Sein Blättlein welket nach!
Martha.

Und ist Jesus, unser Freund,
Der Mitleidvolle, nicht auf Erden? Kann
Er ihn, o Schwester, kann er ihn
(Arioso.)

Uns nicht auch wiedergeben?
Maria.

Ach!
Da ich an seinen Worten hing
Und, Engel, in den Himmel ging
Und salbete mit Thränen
Und trocknete mit meinem Haar
Den Fuß des Lieben – ach, wie war
Mir Freude da!
Martha.

Mein Herz
Spricht: »Noch sei Freude da!«
Spricht: »Jesus ist nah!«

(Sie eilt hinweg.)

[515] Maria.

All ihre Sorg' und Müh und Freude
Ist mir nicht mehr,
Bin für die Schattenerde
Kaum Schatte mehr.
In seiner Welt,
Da ist mir Freude
Und Herz und Theil!
Choral.

Wenn Trost und Rettung schwunden ist,
Die uns die Welt erzeiget,
So kommt in tiefster Jammersfrist
Der Schöpfer selbst und neiget
Die Vaterhand dem Kinde zu,
Und schnell am Jammer wohnet Ruh,
Und aus der Nacht bricht Morgen.
Martha.

Maria! unser Freund erscheinet. Auf!
Vertrau und bete!

Aria.

Maria (traurig).

Ach, wärst Du hie gewesen,
Er wäre nicht verschieden,
Mein Bruder, nicht verschieden!
Jesus.

Dein Bruder, er soll auferstehn!
Maria.

Auferstehn am jüngsten, späten Tage!
Und dann doch selig! frei von Plage,
Von Trennung frei! Ich werd' ihn sehn!
Den Bruder sehn!
Jesus.

Ja, Arme! sollst ihn sehn.
Maria (mit Hoffnung).

Ach, wärst Du hier gewesen!
[516] Chor.

Christus ist Auferstehung und Leben;
Wer an ihn glaubt, der Todte soll leben,
Der Lebende sterben nimmermehr!
Choral (alte Kirchenmelodie).

Ich weiß, daß mein Erlöser lebt,
Und mit ihm werd' ich leben,
Aus meinem Grabe schweben,
Wie er einst seinem Grab entschwebt';
Auf neuen Himmelsauen
Den Herren werd' ich schauen,
Mein Ich, mit neuer Hüll' umwebt,
In diesen Augen schauen,
Der für mich starb und für mich lebt;
Drum sterb' ich ohne Grauen.
Martha.

Ach, Herr, da ist die Kluft! Er modert schon
Vier lange Tag' und Nächte,
In seiner Höhl' allein!

Zuschauer.

1.
O sieh,
Ihm thränet selbst sein mildes Auge nun!
Er hat fürwahr ihn sehr geliebet!
2.
Und
Der ihn so sehr geliebt
Und Blinde wieder sehend wähnet, ja,
Konnt' er nicht seinen Freund
Unsterblich wähnen?
1.
Schweig!
Er zürnet! Alle weinen!

(Klagende Accente der Musik sprechen allein und erheben sich allmählig.)

Jesus.

Ich hab' Euch, Weinende, gesagt
Und sage: »Könnt Ihr glauben?
Und schauen Gottes Herrlichkeit?« Hinweg
Den Fels! –
Dir, Vater, Dank,
[517]
Daß Du mich hörest! hörest allezeit,
Den Du gesandt! – Komm, Lazarus, empor!
Accompagnement. Zuschauer.

O Gott, ein Weben! Schauer dringt
Durch alle Wesen! Grab,
Das Grab voll Feuerstrahl
Und Leben! Seht,
Der Todte regt sich! kommt empor
Mit Grabesbinden!
Jesus.

Löset ihn!
Und Ihr, erzittert nicht! Maria,
Nimm ihn, den Bruder! lebe
Mit ihm gen Himmel, ein Herz und Sinn!
Ihr sollet hier
Nicht lange weilen! sollet bald
In einem Kuß der Schwester-, Bruderliebe
Zum schönern Leben scheiden!
Maria.

Mein Bruder, wieder mir gegeben.
Nach Grab und Noth zum schönern Leben!
Lazarus.

Maria, wieder mir gegeben
Aus Nacht und Traum zum schönern Leben!
Beide.

O Freund, nimm unsre Thränen an!
Maria.

Dem Moder hatt' ich ihn gegeben;
Lazarus.

O, sieh mich Dir zu Füßen beben!
Maria.

Wir wandeln Hand in Hand durchs Leben –
[518] Lazarus.

Im Todeskuß zum schönern Leben –
Beide.

Gen Himmel hin, die schöne Bahn.
O Freund, nimm unsre Thränen an!

Choräle.


(Alte Kirchenmelodie: Jesus Christus, unser Heiland etc.)

1.
Auferstehung Gottes, Du wirst sein!
Mit Jesu gehn wir ein
Ins Himmelsleben.
O Tod, wo ist Dein Beben?
Wo wird es sein?
Chor.

Der Tod verschlungen in Sieg,
Tod, wo ist Dein Pfeil? Hölle, Dein Sieg?
2.
Auferstehung Gottes, Du wirst sein!
Kein Pilger wallt allein,
Sind Alle Brüder,
Und Brüder Jesu! Glieder
Der Krone sein!
Chor.

In der Auferstehung Gottes die Gerechten werden sein
Wie Engel Gottes im Himmel!
3.
Auferstehung Gottes, Du wirst sein,
Nicht Schicksal mehr wird sein!
Sind überwunden
Der Trennung bange Stunden,
Der Erde Pein!
Chor.

Meine Seele sterbe
Des Todes der Gerechten!
Mein Ende sei
Ihr Ende!

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Siebentes Buch. Die Auferweckung des Lazarus. Die Auferweckung des Lazarus. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-58DD-F