Die Schöpfung

Ein Morgengesang.


1773.


Auf, Ihr Sinnen, und erwacht
Aus des Schlafes Mitternacht!
Auf zu jener Gotteshöh,
Daß ich seine Schöpfung seh'!
Nacht und Grausen ist um mich,
Nacht und Grausen regte sich.
Dort auf wüstem dunkeln Meer,
Da webt' Gottes Geist daher.
Und er sprach: »Sei Licht!« Das Licht
Strahlt' aus Gottes Angesicht
In die dunkle Mitternacht,
Wie es dort im Ost erwacht!
Licht! o Morgenlicht! o Du
Heil'ger Strahl voll Gottesruh
Und voll Gottes reger Kraft,
Kraft, durch die er Alles schafft!
Leben, Freude, Wonne, Blick,
Herz, Gedanke, That und Glück,
Gottes Wort und Angesicht
Spricht und strahlet uns im Licht!
Licht, o Du Gedankenmeer,
Ach, wo nehm' ich Farben her,
Dich zu malen, wie Gott malt
Und in unsre Seelen strahlt!
[449]
Licht, o Du der Freuden Meer,
Wo, wo nehm' ich Worte her,
Auszusprechen, wie Gott blickt
Und der Menschen Herz entzückt!
Licht im Menschenangesicht,
Christus-Auge, Gotteslicht!
Menschenherz, Du Feuermeer,
Wallend Gottesgluth daher!
Licht in Thaten, Licht im Schau'n,
Licht im Hoffen, Licht im Trau'n!
Licht, was Sam' und Leben heißt,
Aller Schöpfung Lebensgeist,
Wirkgeist, Freudengeist! O Licht,
Strahl von Gottes Angesicht,
Seines Sohnes Zeugungsbild,
Das dies All mit Engeln füllt!
Sie durchwandeln, kreuzen sich,
Sie durchstrahlen mich und Dich,
Wärmen, schaffen, sterben nicht,
Welt, voll Gottes Angesicht!
Sieh hinauf, da bläuet sich
Hoch der Himmel; sichtbarlich
Geht er dort aus Meeresduft,
Spinnet sich zu Morgenluft.
Zart Gewebe! blaues Gold!
Gottes Stirn, wie hoch und hold,
Unabsehlich tief und weit
Wölbt sie sich mit Herrlichkeit!
Und hier unten – Erde geht
Aus der Tiefe. Seht, da steht
Meeresabgrund, und Gott spricht
Sichtbar: »Hier und weiter nicht!«
Und die Wolken sind ihr Kleid;
Eingewindelt weit und breit
Hat er sie mit Wellenmacht,
Fest gebürgt auf Wellenmacht.
[450]
Gottesberg, der Menschen Land,
Wie erhob Dich seine Hand!
Und welch neues Blumenheer
Tritt dort auf sein Wort daher!
Lichtesstrahl und Meeresduft,
Gottesgeist und Lebensluft,
Wie so sein Ihr Euch schon regt,
Daß die Schöpfung Blumen trägt!
O daß ich mich ganz und gar,
Erstgeborne Brüderschaar,
In Euch fühlt' und auf einmal
Dort vor jenem Morgenstrahl
Euch umarmt'! O gebet mir,
Ihr, der Erde Kraft und Zier,
Leiht mir Euer Lustgefühl,
Leiht mir Euer Farbenspiel!
Tränket mich mit Lebensduft!
Denn Ihr keltert Gottesluft,
Keltert Gottes Sonnenstrahl,
Wie er Euch zu thun befahl,
Und erfrischt die todte Luft
Neu mit Gottes Lebensduft
Und kocht Allem, was da lebt,
Odem, dem Ihr Frischung gebt!
O Du Gottes Herrlichkeit,
Du der Erde schönes Kleid,
Zart Gewand, wo Alles webt
Und zu höherm Leben strebt!
Nieder fall' ich, heil'ge Au',
Nieder in den Morgenthau;
Da träuft seiner Güte Spur.
Ach, wie feiert die Natur!
Stiller Gottestempel! Kaum
Daß im weiten Morgenraum
Dort vor Dir, o Gottesbild,
Ein und noch ein Lüftchen spielt.
[451]
Herz, o werde Deinem Gott,
Wie vor jenem Morgenroth
Dieser Tempel! Jugend sei
Wie dies Weltall still und frei
Und voll reger Gotteskraft,
Die im Ruhn hier Alles schafft!
Wie arbeitet sich hervor
Sonne aus dem Morgenflor!
Sonne, Meer der Herrlichkeit!
Sie erfüllet weit und breit
Alles mit Posaunenklang,
Mit Triumph und Festgesang!
Sonne! Wer, der Dich erfand,
Ballte und mit kühner Hand
Dich in jene Laufbahn warf,
Wo Dein Fuß nicht gleiten darf?
Sonne! Sieh, mit Riesenschritt
Kommt der schöne Jüngling, tritt
Wie ein Bräut'gam an die Bahn,
Und die Erde lacht ihn an,
Seine Blumenbraut. O Braut,
Wer, der Dich ihm anvertraut?
Daß, wenn er Dich neu umarmt,
Daß Dein kalt Gebein erwarmt!
Leben ringet und gebiert
Tausend Leben! – Sieh, da führt
Schon ein buntes Vogelheer
Unser Sonnenjüngling her.
Wie sie singen! schwingen sich
Auf den Lüften! Freue Dich,
Zartes, reges Sängerchor,
Und erfüll der Schöpfung Ohr!
Du, ihr vielfach Saitenspiel,
Tiefbelebt mit Lustgefühl,
Jeder Vogel seiner Art
Eine Sait'. Die Schöpfung ward
[452]
Hier nur Gottes Lustklang, und
Unten regt der Meeresgrund
Andre Fittige. Da schwimmt
Wasservolk, noch nicht gestimmt
Zu der feinern Wasser Chor.
So sind wir im Engelohr,
Was der stummen Fische Schaar
Jenem Luftgefieder war.
Noch umgiebt uns Ocean
Grober Wasser. Unsre Bahn
Ist noch nicht, wo jenes schwimmt
Und der Sonn' ihr Liedlein stimmt.
Noch ist unser Fittig schwer,
Und doch schweben wir im Meer
Voll von Gottes Freundlichkeit,
Der's erfüllet weit und breit.
Sieh, dort wimmelt Meeresschooß!
Sieh, dort reißt ein Berg sich los!
Leviathan speit ein Meer,
Schwimmt, ein lebend Land, daher!
Sieh, hier wimmelt Erdenschooß,
Hier auch reißt ein Berg sich los!
Behemoth und Elephant,
Wunderbau von Gottes Hand!
Königthier! Wie unbemüht,
Groß zu scheinen! sieh, er kniet
Vor der Sonne, betet an;
Fühlt er ihren Strahl etwan?
Fühlst Du Gott? und bist das Ziel
Seiner Schöpfung? Voll Gefühl,
Feiner fast als Menschenhand
Und voll Ruh und voll Verstand?
Nein, o nein! Du nicht das Ziel
Seiner Schöpfung, nur Gefühl,
Wie es dort den Löwen füllt,
Der, auch Fürst, im Walde brüllt;
[453]
Wie es dort im Adler blickt,
Der, auch Fürst, die Luft durchzückt;
Wie's im Walfisch sich dort regt,
Der, auch Fürst, sein Reich bewegt!
Nein! die Schöpfung, jetzt am Ziel,
Harret, schweigt noch! Ihr Gefühl
Wandelt in sich und vermißt,
Was Geschöpf und Schöpfer ist;
Suchet Einen, der mit Geist
Schmeckt und, was er ist, geneußt,
Suchet, der mit Gottes Blick
Alle Schöpfung strahlt zurück,
In sich, von sich; und selbst sich
In sich strahl' und väterlich
Von sich strahl' und walte frei
Und wie Gott ein Schöpfer sei!
Sieh, den suchet, jetzt am Ziel,
Gottes Schöpfung, wirft Gefühl
In sich deß, was sie vermißt,
Und der Mensch – der Gott – er ist!
Neu Geschöpf, wie nenn' ich Dich?
Gott der Schöpfung, lehre mich!
Doch ich bin, ich bin es ja,
Dem dies Gottesbild geschah!
Ich – wie Gott! Da tritt in mich
Plan der Schöpfung, weitet sich,
Drängt zusammen und wird Macht!
Endet froh und jauchzt: Vollbracht!
Ich – wie Gott! Da tritt in sich
Meine Seel' und denket mich!
Schafft sich um und handelt frei,
Fühlt, wie frei Jehovah sei.
Ich – wie Gott! Da schlägt mein Herz
Königsmuth und Brüderschmerz;
Alles Leben hier vereint,
Fühlt sich liebend Aller Freund!
Fühlt sich Sinn voll Mitgefühl
Bis zur Pflanze, bis zum Ziel
[454]
Aller Menschengöttlichkeit,
Feint sich liebend weit und breit,
Immer tiefer, höher. Ich
Bin's, in dem die Schöpfung sich
Punktet, der in Alles quillt,
Und der Alles in sich füllt!
Bis zur letzten Schöpfung hin
Fühlet, tastet, reicht mein Sinn!
Aller Wesen Harmonie
Mit mir – ja, ich selbst bin sie!
Bin der eine Gottesklang,
Der aus allem Lustgesang
Aller Schöpfung tönt' empor
Und trat ein in Gottes Ohr
Und ward Bild, Gedank und That
Und ward Mensch. Der Schöpfung Rath,
Mensch, ist in Dir! Fühle Dich,
Und die Schöpfung fühlet sich!
Fühle Dich, so fühlst Du Gott
In Dir. In Dir fühlt sich Gott,
Wie ihn Sonn' und Thier nicht fühlt,
Wie er – sich – in sich – erzielt!
Schweig, o hohe Harmonie
Meiner Seelenkräfte! sie
Faßt die Welt nicht. Gottes Bild
Tief verhüllt und tief enthüllt,
Was ich bin. Da wölbst Du Dich,
Meine Stirn, so breitet sich
Jener Himmel, schaut ihn an
Gottes Licht und Wolkenbahn!
Und was dies mein Haupt versteckt,
Ist im Himmel dort verdeckt;
Und was dies mein Auge spricht,
Spricht Jehovah's Angesicht.
Leben athmet hier und Geist,
Der Jehovah's Odem heißt.
Sprache schaffet dieser Mund;
So schuf seines Herzens Grund
[455]
Gott im Worte für uns hin!
Und so tief als Gottes Sinn
Reicht auch menschliche Natur
Immerdar auf Gottes Spur.
Uns ein unerschöpflich Meer!
Ewigkeiten strömten's her,
Ewigkeiten strömten's hin,
Was Gott ist, und was ich bin.
Gottes Bild in Wort und That,
Menschenbild in Gottes Rath,
Mittler, Schöpfer, Pfleger bist
Du in Allem, Jesus Christ!
Erster, Letzter! – Doch hier schweigt
Meine Zunge! Abgrund zeigt,
Segensabgrund mir Dein Wort
Nun und ewig, hie und dort.
Eins in Allem, All in Ein
Warst und bist und wirst Du sein,
Du, aus dem die Schöpfung quillt,
Du, in Allen Gottes Bild!
Der sie schuf und durch sein Bild
Sie verwandelt, läutert, füllt,
Auftreibt, segnet und in sich
Einst zurückzieht! Freue Dich,
Schöpfung und Du Menschenbild,
Wirker Gottes, das sie füllt
Und verwandelt! – Groß bist Du,
Mittelpunkt in Gottes Ruh!

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Siebentes Buch. Die Schöpfung [1]. Die Schöpfung [1]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5946-C