Der Fremdling auf Golgatha

Eine biblische Geschichte in Gesang.

Fremdling.

Wer ist, der auf dem Hügel dort
Das Volk in lauten Wellen
Hinanzieht, wie sich Fluthen schwellen
Zum Felsen im Meer! –
Ein Todeshügel weit umher
Voll Menschenschädel und Gebein –
Und hart erschlagner Phantasei'n
Auch meiner Brüder! – Grauser Ort!
Drei Sterbende!
Sie fühlen ihres Lebens Weh
Vielleicht mit bittrer Reue Thränen! – Wer
Ist aber er,
Der hohe mittlere Gekrönte, der
Da hänget blutiger
Als Alle? Kreuz, Du träufst voll Blut!
Sein schön Gebein
Ist, ach, nur ein',
[533]
Nur eine Wunde. Hat Dich Wuth,
O Edler, übermannt,
Wie oder bist in eigner Thaten Hand
Du unter Allen
So tief und, ach, so früh gefallen? –
Lieber Jüngling, kannst Du klagen,
Welcher Wahn
Deinen schönen jungen Tagen
Todesleid hat angethan?
Klang der Ruhm in Deinen Ohren?
Hat auf ihrer steilen Bahn
Zauberliebe Dich verloren,
Holder Mann?
Oder endet edles Streben
Und der Neid Dein Leben?
Lieber Jüngling, kannst Du klagen,
Welcher Wahn
Deinen schönen jungen Tagen
Todesleid hat angethan?
Stimme des Schächers.

Wir empfahen, was unsre Thaten werth sind,
Dieser aber hat nichts Ungeschicktes gehandelt.
Fremdling.

Und blutet da und blaßt? – An seinem Kreuze steht
Geschrieben: »Seht
Der Juden König!« Und die Schaar
Des wilden Volkes, gar
Die Priester, Richter, Väter bringen dar
Dem Sterbenden wie frechen Spott:
»Er traute Gott!
Gott rette seinen Sohn
Vom Kreuz, auf daß wir glauben!« – Hohn,
Du bittrer Labetrank
Des Sterbenden! Verruchter Trostgesang! –
Und war er Gottes Sohn?
Der traute Gott
Und stirbt in Spott!
Er betet! Hör, da ringsum Alles schmäht,
Hör sein Gebet:
»Mein Vater! ach,
[534]
Verzeih! sie wissen nicht,
Was sie beginnen!«
Und das sprach
Ein Sünder? Sieh, er traute Gott
Und hängt in Hohn
Und Spott und Schmach
Und Todesqual
Und traut ihm doch
Und flehet noch
Für seine Würger! Schau den Gottessohn
An seinem Kreuz, wie auf dem Thron
Der Majestät, da ringsum Alles schmäht!
Schau an sein Angesicht
Voll Todesqual!
Wie auf ihm Licht
Ein Sonnenstrahl
Der milden Gottheit spricht!
Himmelsruhe, selig Leben
Ist im göttlichen Vergeben;
Himmelsruh, wenn Alles schmäht,
Ist im göttlichen Gebet.
»Vater! wenn mich Brüder hassen,
Kennest Du nicht Deinen Sohn?
Vater, ich will Dich umfassen!
Sie verkennen, den sie hassen;
Du nur kennest Deinen Sohn.«
Himmelsruhe, selig Leben
Ist im göttlichen Vergeben;
Himmelsruh, wenn Alles schmäht,
Ist im göttlichen Gebet.
O Brüder, schauet, wen Ihr schmäht!
Hört an sein treu Gebet
Voll Brüdermuth!
Die Rose thauet Blut
Auf dürres Land!
Ach, aber duftet unerkannt
Zum Himmel süßen Duft,
Und ihres Blutes Stimme ruft
Auf von der Erden: »Rache!«
Kein Erdenrichter hört; es hört
Sie Gott, der jede Sache
Der Unschuld richtet, der die Thränen zählt
[535]
Und ruft, bis keine fehlt.
Er hört Geschrei
Vom Blute seines Sohns und kommt und kommt herbei
Zur Rache.
(Die Finsterniß fängt an.)

Seht Ihr sein dunkles Nachtgewand
Und in der Hand
Des Blitzes funkelnd Schwert?
Es fährt
Aus seiner Scheide. Seht, die Sonn' ist Nacht,
Der Mittag ist wie Mitternacht,
Und Weh und Klagen ist in meinem Ohr erwacht.

(Klagetöne der Racheengel im Dunkel.)

Chor.

Jerusalem, Jerusalem!
Weine, weine
Dich und Deine Kinder!
In Dir ist Blut!
1.
Prophetenblut,
Heilandsblut!
Chor.

Jerusalem, Jerusalem!
In Dir ist Blut!
1.
Er sandte Dir, Dein Vater, Boten,
Die Dich lockten, die Dir drohten;
Du höhntest sie
Und würgtest sie!
Chor.

Er rufet sie;
Wo ist ihr Blut?
2.
Er sprach: »Sie werden ihn doch scheuen,
Meinen Sohn, den Stillen, Treuen!«
Er kam, der Sohn,
Und stirbt in Hohn!
Chor.

Wo ist sein Sohn?
Es ruft sein Blut!
1.
Hört Ihr die Sphäre beben?
Sein Fußtritt klingt!
[536] 2.
Seht Ihr sein Schlachtschwert schweben?
Er zuckt! es blinkt!
1.
Kriegeswagen
Rollen herbei;
2.
Adler schlagen
Heran die Flügel.
1. 2.

Ueber Thal und Hügel
Ist Wehgeschrei!
1.
Hört Ihr die Mutter klagen?
Die Jungfrau'n weinen,
Der Jüngling ächzt!
2.
Seht Ihr die Greise zagen,
Den Aufruhr wüthen?
Alles lechzt!
1.
Die Wage wägt;
2.
Sein Schwert, es schlägt!
Chor.

Gefallen, gefallen
Ist Alles in Wuth;
Von Allen, von Allen
Dampfet Blut!
1.
Er weinete für Dich;
2.
Die Rache rüstet sich;
1.
Du riefest / grimmiglich
2.
Sie fordert / grimmiglich
1. 2.

Sein Blut!
Chor.

Jerusalem, Jerusalem!
Weine, weine
Dich und Deine Kinder!
In Dir ist Blut!
1.
Grau'n und Jammer,
In dunkler Kammer!
Es würgt die Mutter
Ihr eigen Kind!
2.
Grau'n und Aechzen
Und Hungerlechzen!
Die Zwietracht wüthet,
Das Volk ist blind!
[537] Chor.

Hinweg von hinnen!
Der Tempel flammt!
Draußen und drinnen
Zum Gräuel verdammt.

(Die Stimmen fliehen.)

Fremdling.

Grauser, grauser Todtenklang,
Der Rache Blutgesang
In dieser öden Stille! –
Und, Vater, ist Dein Wille,
Zu rächen ihn, und er
Leidet schwer,
Und Du, Du siehest ihn leiden? –
Die jetzt mit Höllenfreuden
An ihm sich weidete, die ihn zertrat,
Die Löwenschaar, für die er bat,
Wo ist sie? In der Nacht voll Grausen
Hinweggebebt zu ihrer Schlummerhöhle!
Doch ihre Seele
Fühlt Grimm und Gluth!
Ihr Ohr hört seiner Pfeile Sausen,
Und jeder Pfeil zischt: »Blut!« –
Welch heilig Schweigen ruhet hier
Um seinen Thron!
Ich flehe Dir,
O Gottessohn!
Bist Du entrückt
Zu Deinem Lohn?
Und schwebst entzückt
Hoch über ihrem Toben,
Dort oben!
(Wimmernd in der Finsterniß.)

»Mein Gott! mein Gott!
Wie hast Du mich verlassen!«
Gesang der Weiber.

Mitten jetzt in dunkler Qual
Hast ihn Du verlassen!
Du Dein Unschuld-Marterlamm,
Kannst Du es verlassen?
O Du, sein Gott alleine!
[538]
Des Tages schwieg er nie von Dir,
Mitternächte fleht' er Dir,
Du, seiner Väter Gott!
Israel's Lobes Gott!
Jedes Armen Gott und Trost und Vater!
Wer weinete Dir
Und ward nicht errettet?
Wer, der auf den Herren traut,
Ward je zu Schanden?
Maria (allein).

Wurm ist er, der Menschen Spott!
Wie sie All' ihn schmähen!
»Klag' er's seinem Herrn und Gott!
Höre Gott sein Flehen!«
Erhör es, Gott und Vater!
Von Kindheit an Du seine Lust
Schon an seiner Mutter Brust,
Dem Lallenden sein Gott,
Du seiner Jugend Gott!
Du ihm Lebenstrost und süße Freude!
Als ich ihn empfing,
Gabest Du ihn, Vater!
Deinen Knieen gab ich ihn
Aus Mutterliebe.
Weiber.

Ausgegossen lechzt er da
Mit zerschmolznem Herzen!
Vater, auch dem Wurme nah,
Schau in Todesschmerzen
Verschmachten seine Glieder!
Verdorrt ist unsrer Ceder Kraft,
Dürre seines Mundes Saft,
Der Milch und Honig floß,
Der Trost dem Armen goß!
Ach! durchgraben quillt der Füß' und Hände
Lebendiger Quell!
Schmachtet jetzt danieden
In des Todes finstern Staub!
Und Du bist ferne?
[539] Jesus.

Weib, siehe Deinen Sohn!
Johannes, Deine Mutter!
Maria.

Du fühlest meine Schmerzen,
Du, meines Herzens Sohn!
Johannes.

O Freund, für Deine Schmerzen
Ist meine Liebe Lohn?
Beide.

Dort nah an seinem Herzen –
Johannes.

Bin, Mutter, ich Dein Sohn?
Maria.

O Jünger, sei mein Sohn!
Stirb dann in Frieden,
Du, all mein Glück!
Was ist hienieden
Mir, der Müden,
Ohne Dich mir jeder Augenblick!
Du fühlest meine Schmerzen
Du, meines Herzens Sohn!
Johannes.

O Fremdling, weine nicht!
Er leidet, Gottes Lamm,
Das alle Leiden auf sich nahm!
Gott endet sein Gericht;
Die Nacht wird Tag; sieh Licht!

(Die Sonne kommt wieder.)

Fremdling.

O Gottes Sohn,
Wie nahet schon
Der blasse Tod
Zu Dir! Und welch ein Morgenroth
Voll Himmelslohn
Bricht oben schon herfür! – Er lebt
Nicht auf der Erde mehr; er schwebt
[540]
Im Himmel schon! Sieh, wie er dort
Zum Nebensterbenden hinüberhängt
Und seine Seele lenkt
Und führet ihn auf Paradieses Auen,
Den Labeort
Der Dürstenden zu schauen! –
Noch in den letzten Augenblicken
Vergißt er seiner Todesqual
Und rettet mit Entzücken
Den Sünder, der in großer Zahl
Der Frohen ihn noch heute
Ins Reich geleite!
Schächer.

O Herr, gedenke mein
In Deinem Reich!
Jesus.

Mit mir zugleich
Sollst Du im Paradiese
Dich heute freun!
Schächer.

O Herr, gedenke mein
In Deinem Reich!
Chor.

Selig, selig, die im Herren sterben!
Es ruft der Geist: »Sie ruhn von ihren Leiden,
Und ihre Worte wallen nach.«
Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir!
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt Du dann herfür!
Wenn mir am Allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Aengsten
Kraft Deiner Angst und Pein!
Erscheine mir zum Schilde,
Zum Trost in meinem Tod
Und zeige Dich im Bilde
Von Deiner Kreuzesnoth!
Da will ich nach Dir blicken,
Da will ich glaubensvoll
[541]
Dich fest an mein Herz drücken!
Wer so stirbt, der stirbt wohl!
Jesus.

Mich dürstet!
Fremdling.

Ach, Du lechzest nach
Dem letzten Labetrank
Vom Quelle dieser Erden,
Und Dir wird Gallentrank
Und Essig werden
Zum letzten Dank! –
Auch Dieses ist vollbracht!
Sein letztes Wort mit Macht
Und Flamme ruft: »Es ist vollbracht!
Nimm, Vater, meinen Geist
In Deine Hände wieder!«
Sein Haupt sinkt nieder;
Hin ist sein Geist!
Hin ist sein Geist!
Er hat Sieg gewonnen
Von Noth und Tod!
Nicht über Stern' und über Sonnen,
Er ist bei Gott!
Die Felsen spalten!
Der Vorhang reißt!
Wer will sie halten,
Die Erde, die bebt!
Er, der lebt!
Der sie trägt und hebt!
Hin ist sein Geist!
Hin ist sein Geist!
Er hat Sieg gewonnen
Von Noth und Tod!
Nicht über Stern' und über Sonnen,
Er ist bei Gott!
Da strömet Blut
Und Saft aus seinem Herzen. Saft
Voll Lebensgluth
Und Balsamkraft
Und heil'gem Schauer! Ich seh', ich seh',
Vom stillen Opferlamm
[542]
Am Sühnaltar drang in die Höh
Wie süßer Weihrauch. Und der Stamm
Des edlen Kreuzes blüht zum Throne
Der Gottheit auf, und seine Dornenkrone
Wird aller Welt zum Lohne. –
Was hör' ich? Droben in der Höh
Und aller Welt hienieden
Singen sie Frieden!
Chor der Segensengel.

Jerusalem, Jerusalem!
Frohlocke Deiner Kinder!
Du neue, schöne Mutter
In seinem Blut!
1.
Alle droben, die hier stammeln,
Werden sich zum Lobe sammeln
Von fern und weit
Aus aller Zeit,
Chor.

In Ewigkeit!
Wie Thau ist ihm sein Volk bereit.
2.
Er in seiner Brüder Freuden,
Ihr Lamm und Hirt, wird selbst sie weiden
Und leiten sie
Und laben sie.
Chor.

Nach Durst und Müh,
An seinem Quell erquickt er sie.
1.
Seht Ihr den Frühling weben
In neuem Raum?
2.
Seht Ihr den Saft dort streben
Im Feigenbaum?
1.
Hebt, erhebet
Das frohe Haupt!
2.
Die Schöpfung lebet!
Hinan die Flügel!
1. 2.

Ueber Thal und Hügel
Ist Alles belaubt!
1.
Hört Ihr die Zeugen singen,
Die für ihn starben?
Sie singen neu!
[543] 2.
Seht Ihr die Armen bringen
Wie reiche Gaben
Frohlockend herbei!
1.
In Thränen gesät!
2.
In Freuden gemäht!
Chor.

Gefallen, gefallen
Ist Feindeswuth!
Von Allen, von Allen
Glänzt sein Blut.
1.
O Braut, er starb für Dich!
Drum schmücke fröhlich Dich
In seinem Blut!
2.
Sie kämpften brüderlich
Und schmückten glänzend sich
In Lammes Blut.
Chor.

Jerusalem, Jerusalem!
Frohlocke Deiner Kinder!
Du neue, schöne Mutter
In seinem Blut!
1.
Aus Trübsal kommen
Und Schmerz und Hohn,
Nun sind die Frommen
Vor seinem Thron.
2.
Und all ihr Sehnen
Und Gram und Noth,
All' ihre Thränen
Tröstet Gott.

(Die Stimmen schweigen.)

Choral.

Zion hört die Engel singen,
Das Herz thut ihr für Freude springen;
Sie wachet und steht eilend auf.
Ihr Freund kommet vom Himmel prächtig,
Von Gnade stark, von Wahrheit mächtig,
Ihr Licht wird hell! ihr Stern geht auf!
Nun komm, o werthe Kron'!
Herr Jesu, Gottes Sohn!
Hosianna!
[544]
Wir folgen All'
Zum Freudensaal
Und halten mit Dein Abendmahl.
Johannes.

Er kommt in Wolken! Sieh, es wird geschehn,
Sie werden sehn,
Den sie zerstachen. Heult, Ihr Mörder, seht,
Die Wunden sind jetzt Majestät!

(Töne zum Begräbniß.)

Choral.

Nun, Bruder, geh in Deine Ruh!
Den Staub der Brüder weihest Du
Und wirst, ein Morgenstern, erstehn,
Der Brüder Heer voranzugehn!
Hier trauertest Du in den Tod;
Aus Tod und Trauer riß Dich Gott!
Du suchtest kummervoll Dein Land
Und hast es dort in Gottes Hand.
Ich halt', ich halt', und lass' ihn nicht!
Er führt durch Finsterniß zum Licht,
Durchs kühle, dunkle Thal zur Ruh.
O Gottes Sohn, wer stirbt wie Du?

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Siebentes Buch. Der Fremdling auf Golgatha. Der Fremdling auf Golgatha. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-59A2-9