[257] I. Auszug aus einem Briefwechsel
über Ossian und die Lieder alter Völker
... Auch ich bin, wie Sie, über die Übersetzung Ossians für unser Volk und unsre Sprache, ebensosehr als über ein episches Original entzückt. Ein Dichter, so voll Hoheit, Unschuld, Einfalt, Tätigkeit, und Seligkeit des menschlichen Lebens, muß, wenn [257] man in faece Romuli an der Würksamkeit guter Bücher nicht ganz verzweifeln will, gewiß würken und Herzen rühren, die auch in der armen schottischen Hütte zu leben wünschen, und sich ihre Häuser zu solchem Hüttenfest einweihen – Auch Denis' Übersetzung verrät so viel Fleiß und Geschmack, teils glücklichen Schwung der Bilder, teils Stärke der deutschen Sprache, daß ich auch sie gleich unter die Lieblingsbücher meiner Bibliothek gestellt, und Deutschland zu einem Barden Glück gewünscht, den der schottische Barde nur gewecket – Aber Sie, der vorher so halsstarrig an der Wahrheit und Authentizität des schottischen Ossians zweifelte, hören Sie jetzt mich den Verteidiger, nicht halsstarrig zweifeln, sondern behaupten, daß trotz alles Fleißes und Geschmacks und Schwunges und Stärke der deutschen Übersetzung unser Ossian gewiß nicht der wahre Ossian mehr sei. Der Raum fehlt mir, das jetzt zu beweisen: ich muß also meine Behauptung nur, wie ein türkischer Mufti, sein Fetwa hinsetzen, und hier der Name des Mufti..
... Meine Gründe gegen den deutschen Ossian sind nicht bloß, wie Sie gütigst wähnen, Eigensinn gegen den deutschen Hexameter überhaupt: denn was trauen Sie mir für Empfindung, für Ton und Harmonie der Seele zu, wenn ich z.E. den Kleistischen, den Klopstockischen Hexameter nicht fühlen sollte? aber freilich, weil Sie doch einmal selbst darauf gekommen sind, der Klopstock'sche Hexameter bei Ossian? freilich auch hinc illae lacrimae! Hätte der Herr D. die eigentliche Manier Ossians nur etwas auch mit dem innern Ohre überlegt – Ossian so kurz, stark, männlich, abgebrochen in Bildern und Empfindungen – Klopstocks Manier, so ausmalend, so vortrefflich, Empfindungen ganz ausströmen, und wie sie Wellen schlagen, sich legen und wiederkommen, auch die Worte, die Sprachfügungen ergießen zu lassen – welch ein Unterschied! und was ist nun ein Ossian in Klopstocks Hexameter? in Klopstocks Manier? Fast kenne ich keine zwo verschiednere, auch Ossian schon würklich wie Epopöist betrachtet.
Aber das ist er nun nicht, und sehen Sie, das wollte ich Ihnen nur sagen, von jenem hat schon, wie mich dünkt, eine Kritische Bibliothek geredet, und das geht mich nichts an. Ihnen wollte ich nur in Erinnerung bringen, daß Ossians Gedichte Lieder, Lieder des Volks, Lieder eines ungebildeten sinnlichen Volks sind, die sich so lange im Munde der väterlichen Tradition haben [258] fortsingen können – sind sie das in unsrer schönen epischen Gestalt gewesen? haben sie's sein können? – mein Freund, wenn ich mich zuerst gegen Ihre zweifelnde Halsstarrigkeit gegen die Ursprünglichkeit Ossians auf nichts so sehr, als auf inneres Zeugnis, auf den Geist des Werks selbst berief, der uns mit weissagender Stimme zusagte: »So etwas kann Macpherson unmöglich gedichtet haben! so was läßt sich in unserm Jahrhunderte nicht dichten!« mit ebendem innern Zeugnis rufe ich jetzt ebenso laut: »Das läßt sich wahrhaftig nicht singen! in solchem Ton von einem wilden Bergvolke wahrhaftig nicht fortsingen und erhalten! folglich ist's nicht Ossian, der da sang, der so lange fortgesungen wurde!« Was sagen Sie zu meinem innern Beweise? – nächstens fülle ich Ihnen vielleicht damit Seiten!
... So eigensinnig für Ihren deutschen Ossian hätte ich Sie doch nicht geglaubt! Es mir durch Zergliederungen und einzelne Vergleichungen abzwingen zu wollen, »daß er gewiß so gut, als der englische sei!« In Sachen der bloßen, schnellen Empfindung, was läßt sich da nicht aus Zergliedern? was nicht durch ein grübelndes Zerlegen herausbeweisen, was – wenigstens die vorige schnelle Empfindung gewiß nicht ist. Haben Sie es wohl diesmal bedacht, was Sie so oft, oft, und täglich fühlen, »was die Auslassung eines, der Zusatz eines andern, die Umschreibung und Wiederholung eines dritten Worts; was mir andrer Akzent, Blick, Stimme der Rede durchaus für anderen Ton geben könne?« Ich will den Sinn noch immer bleiben lassen; aber Ton? Farbe? die schnelleste Empfindung von Eigenheit des Orts, des Zwecks? – Und beruht nicht auf diesen alle Schönheit eines Gedichts, aller Geist und Kraft der Rede? – Ihnen also immer zugegeben, daß unser Ossian, als ein poetisches Werk so gut, ja besser, als der englische sei – eben weil er ein so schönes poetisches Werk ist, so ist er der alte Barde, Ossian, nicht mehr; das will ich ja eben sagen.
Nehmen Sie doch eins der alten Lieder, die in Shakespeare, oder in den englischen Sammlungen dieser Art vorkommen, und entkleiden Sie's von allem Lyrischen des Wohlklanges, des Reims, der Wortsetzung, des dunkeln Ganges der Melodie: lassen Sie ihm bloß den Sinn, so so, und auf solche und solche Weise in eine andre Sprache übertragen; ist's nicht, als wenn Sie die Noten in einer Melodie von Pergolese, oder die Lettern auf einer Blattseite umwürfen? wo bliebe der Sinn der Seite? wo bliebe [259] Pergolese? Mir fälle eben das Liedchen aus Shakespeares »Twelfth-Night« in die Hände, bei welchem der liebesieche Herzog von hinnen scheiden will: –
Nun, werden Sie bei solchem Lobe nicht so begierig, wie der verliebte Ritter selbst? Auf! übersetzen Sie's flugs in Denissche Hexameter:
Der sollte nicht mein Freund sein, der bei diesem so einfältigen, nichtssagenden Liede, insonderheit lebendig gesungen, nichts mitfühlte! Indessen, wenn es übersetzt würde (Wieland hat es, so wie die meisten dieser Art, nicht übersetzt!) wenn der Einige fast, dem ich hiezu Biegsamkeit zutraue, der Sänger des Skaldengesanges und der Grabschrift Aspasiens, und des griechischen [260] Schnitterliedchens und der süßen Nänie auf die Wachtel und das Schnittermädchen des Himmels, und auf die Herzensangst jenes guten Pfarrers – wenn dieser Dichter, der so mancherlei, und dies Mancherlei so vortrefflich sein kann, es übersetzte, wie anders erhält er den Abdruck der innern Empfindung, als durch den Abdruck des Äußern, des Sinnlichen, in Form, Klang, Ton, Melodie, alles des Dunklen, Unnennbaren, was uns mit dem Gesange stromweise in die Seele fließet. Schlagen Sie die Dodsleyschen »Reliques of ancient Poetry« auf, von einem Ende zum andern; übersetzen Sie was und wie schön Sie es wollen, aber außer dem Ton des Gesanges, und sehen Sie denn, was Sie haben werden!
Sie kennen doch die liebe, süße Romanze, von der ich mich wundere, daß sie sich in den Dodsleyschen Reliques nicht finde: Heinrich und Kathrine
ein englischer Schulrektor, seines Namens Samuel Bishop, hat gewisse Ferias poeticas gefeiret: i.e. Carmina Anglicana Elegiaci plerumque argumenti (ich schreibe Ihnen den verdienstvollen Titel) Latine reddita geschrieben, und in diesen Carminibus Anglicanis Latine redditis ist auch unsre Romanze Elegiaci argumenti, und also auch Elegiaco versu, schön skandiert und phraseologisiert, die sich also anhebt:
und wo ist nun die Romanze? – Daß es mit Ossian kaum anders sei, sehen Sie nur einmal die schöne Macferlansche Übersetzung von »Temora«. Der Verf. selbst ein Schotte? der Ossian singen gehört? ihn doch also fühlen muß? Sehen Sie nun, was unter den Händen des guten, flinken Lateiners aus der rührenden Stelle geworden ist, da Oskar fällt, und der Dichter plötzlich abbrechend, sich an seine Geliebte wendet – In der N. Bibl. der sch. W. Band 9. St. 2. S. 344 sind die Übersetzungen aus Macpherson, Macferlan, und Denis nebeneinander. Sie können nachschlagen und sehen! ...
... Ihre Einwürfe sind sonderbar. Bei alten gotischen Gesängen, wie Sie sie zu nennen belieben, bei Reimgedichten, [261] Romanzen, Sonetts und dergleichen schon künstlichen oder gar gekünstelten Stanzen, geben Sie mir nach; aber bei alten ungekünstelten Liedern, wilder, ungesitteter Völker – wilder ungesitteter Völker? ich kann Ihre Stelle kaum ausschreiben. So gehörte Ihr Ossian und sein edler, großer Fingal so schlechthin zu einem wilden ungesitteten Volk? und wenn jener auch alles idealisiert hätte, wer so idealisieren konnte, und wem so idealisiert, dergleichen Bilder, dergleichen Geschichte, der Traum des Nachts und das Vorbild des Tags, Gemütserholung und beste Herzenslust sein konnte; der war wildes Volk? Wohin man doch abgeraten kann, um nur seine Lieblingsmeinung zu retten.
Wissen Sie also, daß je wilder, d.i. je lebendiger, je freiwirkender ein Volk ist (denn mehr heißt dies Wort doch nicht!), desto wilder, d.i. desto lebendiger, freier, sinnlicher, lyrisch handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder sein! Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und tote Lettern Verse sein: vom Lyrischen, vom Lebendigen und gleichsam Tanzmäßigen des Gesanges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zusammenhange und gleichsam Notdrange des Inhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Silben, bei manchen sogar der Buchstaben, vom Gange der Melodie, und von hundert andern Sachen, die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Nationalliede gehören, und mit diesem verschwinden – davon, und davon allein hängt das Wesen, der Zweck, die ganze wundertätige Kraft ab, die diese Lieder haben, die Entzückung, die Triebfeder, der ewige Erb- und Lustgesang des Volks zu sein! Das sind die Pfeile dieses wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedächtnisse heftet! Je länger ein Lied dauern soll, desto stärker, desto sinnlicher müssen diese Seelenerwecker sein, daß sie der Macht der Zeit und den Veränderungen der Jahrhunderte trotzen – wohin wendet sich nun die Sache?
Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie sie auch in Ossian überall erscheinen, ein wilderes rauheres Volk, als die weich idealisierten Schotten: mir ist von jenen kein Gedicht bekannt, wo sanfte Empfindung ströme: ihr Tritt ist ganz auf Felsen und Eis und gefrorner Erde, und in Absicht auf solche Bearbeitung und Kultur ist mir von ihnen kein Stück bekannt, das sich mit den Ossianschen darin vergleichen lasse. Aber sehen Sie einmal [262] im Worm, im Bartholin, im Peringskiöld, und Verel ihre Gedichte an – wieviel Silbenmaße! wie genau jedes unmittelbar durch den fühlbaren Takt des Ohrs bestimmt! ähnliche Anfangssilben mitten in den Versen symmetrisch aufgezählt, gleichsam Losungen zum Schlage des Takts, Anschläge zum Tritt, zum Gange des Kriegsheers. Ähnliche Anfangsbuchstaben zum Anstoß, zum Schallen des Bardengesanges in die Schilde! Disticha und Verse sich entsprechend! Vokale gleich! Silben konson – wahrhaftig eine Rhythmik des Verses, so künstlich, so schnell, so genau, daß es uns Büchergelehrten schwer wird, sie nur mit den Augen aufzufinden; aber denken Sie nicht, daß sie jenen lebendigen Völkern, die sie hörten und nicht lasen, von Jugend auf hörten und mitsangen, und ihr ganzes Ohr darnach gebildet hatten, ebenso schwer gewesen sei. Nichts ist stärker und ewiger, und schneller, und feiner, als Gewohnheit des Ohrs! Einmal tief gefaßt, wie lange behält dasselbe! In der Jugend, mit dem Stammlen der Sprache gefaßt, wie lebhaft kommt es zurück, und so schnell mit allen Erscheinungen der lebendigen Welt verbunden, wie reich und mächtig kommt es wieder. Aus Musik, Gesang und Rede könnt ich Ihnen eine Menge sonderbarer Phänomene anführen, wenn ich einmal psychologisieren wollte!
Denken Sie nicht, daß ich übertreibe. Unter 136 Rhythmusarten der Skalden, habe ich nur einen, den »Sangbaren«, in Worm näher studiert (denn ihre eigentliche Prosodie, der zweite Teil der »Edda« ist meines Wissens noch nicht erschienen!) und was denken Sie, wenn in diesem Rhythmus von 8 Reihen nicht bloß 2 Disticha, sondern in jedem Distichon 3 anfangähnliche Buchstaben, 3 konsone Wörter und Schälle, und diese in ihren Regionen wieder so metrisch bestimmt sind, daß die ganze Strophe gleichsam eine prosodische Runentextur geworden ist – und alles waren Schälle, Laute eines lebenden Gesanges, Wecker des Takts und der Erinnerung, alles klopfte, und stieß und schallte zusammen! – Machen Sie nun die Probe, und studieren Regner Lodbrogs Sterbegesang in den »Runen« des Worms, und lesen denn die feine, zierliche Übersetzung, die wir davon im Deutschen, in ganz anderm Ton und ganz anderm Silbenmaße haben – der verzogenste Kupferstich von einem schönen Gemälde! Nun komme jemand und mache aus dem Schlachtgesang der Dysen, aus dem Zaubergespräch Odins am Tor der Hölle, aus dem Jüngsten Gericht der Eddagötter ein schönes Heldengedicht in Hexametern, oder schöne griechische Silbenmaße, wie Herr Denis aus [263] dem Gespräch Gauls und Mornis, Fingals und Roskranen gemacht hat; aus Evind Skaldaspillers Trauerlied auf Hako eine Elegie im Ton der Rothschildsgräber – was würde Vater Odin und der alte Skaldaspiller sagen? – Daß sich nun diese skaldische Rhythmik nicht auf Island und Skandinavien eingeschränkt, können Sie aus Hickes, und andern; am neuesten noch in den Dodsley'schen Reliques aus der Vorabhandlung von dem complaint of conscience (T. 2. B. 3. S. 277) sehen, wo aus dem Angelsächsischen dergleichen mehr als eine Probe angeführt wird.
Aber noch mehr. Gehen Sie die Gedichte Ossians durch. Bei allen Gelegenheiten des Bardengesanges sind sie einem andern Volk so ähnlich, das noch jetzt auf der Erde lebet, singet, und Taten tut; in deren Geschichte ich also ohne Vorurteil und Wahn die Geschichte Ossians und seiner Väter mehr als einmal lebendig erkannt habe. Es sind die fünf Nationen inNordamerika: Sterbelied und Kriegsgesang, Schlacht- und Grablied, historische Lobgesänge auf die Väter und an die Väter – alles ist den Barden Ossians und den Wilden in Nordamerika gemein; der letzten Marter- und Rachelied nehme ich aus, dafür die sanften Kaledonier ihre Gesänge mit dem sanften Blut der Liebe färbten. Nun sehen Sie einmal, was alle Reisebeschreiber, Charlevoix und Lafiteau, Roger, und Cadwallader Colden vom Ton, vom Rhythmus, von der Macht dieser Gesänge auch für Ohren der Fremdlinge sagen. Sehen Sie nach, wieviel nach allen Berichten darin auf lebende Bewegung, Melodie, Zeichensprache und Pantomime ankömmt, und wenn nun Reisende, die die Schotten kannten, und mit den Amerikanern so lange gelebt hatten, Kapt. Timberlake z.B. die offenbare Ähnlichkeit der Gesänge beider Nationen anerkannten – so schließen Sie weiter. Bei Denis stehen wir steif und fest auf der Erde: hören etwa Sinn und Inhalt in eigner, guter poetischer Sprache, aber nach der Analogie aller wilden Völker kein Laut, kein Ton, kein lebendiges Lüftchen von den Hügeln der Kaledonier, das uns hebe und schwinge, und den lebendigen Ton ihrer Lieder hören lasse: wir sitzen, wir lesen, wir kleben steif und fest an der Erde.
Als eine Reise nach England noch in meiner Seele lebte – o Freund, Sie wissen nicht, wie sehr ich damals auch auf diese Schotten rechnete! Ein Blick, dachte ich, auf den öffentlichen Geist, und die Schaubühne, und das ganze lebende Schauspiel des englischen Volks, um im Ganzen die Ideen mir aufzuklären, die sich im Kopf eines Ausländers in Geschichte, Philosophie, [264] Politik und Sonderbarkeiten dieser wunderbaren Nation, so dunkel und sonderbar zu bilden und zu verwirren pflegen. Alsdenn die größte Abwechselung des Schauspiels, zu den Schotten! zu Macpherson! Da will ich die Gesänge eines lebenden Volks lebendig hören, sie in alle der Würkung sehen, die sie machen, die Orter sehen, die allenthalben in den Gedichten leben, die Reste dieser alten Welt in ihren Sitten studieren! eine Zeitlang ein alter Kaledonier werden – und denn nach England zurück, um die Monumente ihrer Literatur und ihre zusammengeschleppten Kunstwerke und das Detail ihres Charakters mehr zu kennen – wie freute ich mich auf den Plan! und als Übersetzer hätte ich gewiß auf andern Wegen ähnliche Schritte tun wollen, die jetzt – Denis nicht getan hat! Für ihn ist selbst die Macphersonsche Probe der Ursprache ganz vergebens abgedruckt gewesen.
... Sie lachen über meinen Enthusiasmus für die Wilden beinahe so, wie Voltaire über Rousseau, daß ihm das Gehen auf vieren so wohl gefiele: Glauben Sie nicht, daß ich deswegen unsre sittlichen und gesitteten Vorzüge, worin es auch sei, verachte. Das menschliche Geschlecht ist zu einem Fortgange von Szenen, von Bildung, von Sitten bestimmt: wehe dem Menschen, dem die Szene mißfällt, in der er auftreten, handeln und sich verleben soll! Wehe aber auch dem Philosophen über Menschheit und Sitten, dem seine Szene die einzige ist, und der die erste immer, auch als die schlechteste, verkennet! Wenn alle mit zum Ganzen des fortgehenden Schauspiels gehören: so zeigt sich in jeder eine neue, sehr merkwürdige Seite der Menschheit – und nehmen Sie sich nur in acht, daß ich Sie nicht nächstens mit einer »Phsychologie aus den Gedichten Ossians« heimsuche. Die Ideen wenigstens dazu liegen tief und lebendig genug in meiner Seele, und Sie würden manches Sonderbare lesen!
Für jetzt. Wissen Sie, warum ich ein solch Gefühl teils für Lieder der Wilden, teils für Ossian insonderheit habe? Ossian zuerst, habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als bloß amüsante, abgebrochene Lektüre, kaum lesen können. Sie wissen das Abenteuer meiner Schiffahrt; aber nie können Sie sich die Würkung einer solchen, etwas langen Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf einmal aus Geschäften, Tumult und Rangespossen der bürgerlichen Welt, aus dem[265] Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sofa der Gesellschaften auf einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über einem Brette, auf offnem allweiten Meere, in einem kleinen Staat von Menschen, die strengere Gesetze haben, als die Republik Lykurgus', mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben endlosen Elementen umgeben, und dann und wann nur auf eine neue ferne Küste, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend – nun die Lieder und Taten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen – hier die Klippen Olaus vorbei, von denen so viele Wundergeschichte lauten – dort dem Eilande gegenüber, das jene Zauberase, mit ihren vier mächtigen sternebestirnten Stieren abpflügte, »das Meer schlug, wie Platzregen, in die Lüfte empor, und wo sich, ihren schweren Pflug ziehend, die Stiere wandten, glänzten 8 Sterne vor ihrem Haupte«, über dem Sandlande hin, wo vormals Skalden und Vikinge mit Schwert und Liede auf ihren Rossen des Erdegürtels (Schiffen) das Meer durchwandelten, jetzt von fern die Küsten vorbei, da Fingals Taten geschahen, und Ossians Lieder Wehmut sangen, unter eben dem Weben der Luft, in der Welt, der Stille – glauben Sie, da lassen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors. Wood mit seinem Homer auf den Trümmern Trojas, und die Argonauten, Odysseen und Lusiaden unter wehendem Segel, unter rasselndem Steuer: die Geschichte Uthals und Ninathoma im Anblick der Insel, da sie geschahe; wenigstens für mich sinnlichen Menschen haben solche sinnliche Situationen so viel Würkung. Und das Gefühl der Nacht ist noch in mir, da ich auf scheiterndem Schiffe, das kein Sturm und keine Flut mehr bewegte, mit Meer bespült, und mit Mitternachtwind umschauert, Fingal las und Morgen hoffte... Verzeihen Sie es also wenigstens einer alternden Einbildung, die sich auf Eindrücke dieser Art, als auf alte bekannte und innige Freunde stützet. –
Aber auch das ist noch nicht eigentlich Genesis des Enthusiasmus, über welchen Sie mir Vorwürfe machen: denn sonst wäre er vielleicht nichts als individuelles Blendwerk, ein bloßes Meergespenst, das mir erscheinet. Wissen Sie also, daß ich selbst Gelegenheit gehabt, lebendige Reste dieses alten, wilden Gesanges, Rhythmus, Tanzes, unter lebenden Völkern zu sehen, denen [266] unsre Sitten noch nicht völlig Sprache und Lieder und Gebräuche haben nehmen können, um ihnen dafür etwas sehr Verstümmeltes oder nichts zu geben. Wissen Sie also, daß, wenn ich einen solchen alten – – Gesang mit seinem wilden Gange gehört, ich fast immer, wie der französische Marcell gestanden: que de choses dans un menuet! oder vielmehr, was haben solche Völker durch Umtausch ihrer Gesänge gegen eine verstümmelte Menuett, und Reimleins, die dieser Menuett gleich sind, gewonnen? –
Sie kennen die beiden lettischen Liederchen, die Lessing in den »Literaturbriefen« aus Ruhig anzog, und wissen, wieviel sinnlicher Rhythmus der Sprache in ihrem Wesen liegen mußte; lassen Sie mich itzt ein paar peruanische und Garcilasso di Vega ziehen, die ich nach Worten, Klang, und Rhythmus so viel möglich übertragen; Sie werden aber gleich selbst sehen, wie weit sie sich übertragen lassen.
Das erste ist die Serenade eines Liebhabers in der Abenddämmerung:
Was läßt sich seinem Mädchen mehr und süßer sagen? – Das andre ist ein bloßes Bild, eine Fiktion ihrer Mythologie von Donner und Blitz. In den Wolken ist eine Nymphe mit einem Wasserkruge in der Hand, bestellet, um zu gehöriger Zeit der Erde Regen zu geben. Unterläßt sie's, läßt sie die Erde in Dürre schmachten, so kömmt ihr Bruder, zerschlägt ihren Krug, das gibt Blitz und Donner, und denn zugleich Regen. Wenn die Dichtung vom Ungewitter in der Dürre, mit Regen begleitet, Ihnen als sinnlich, als anschauend gefällt: so hören Sie das Lied oder Gebet an sie, wie Sie wollen:
Als Weisheit habe ich das Liedchen nicht angeführt: denn Sie wissen, in welchem Ruf die dummen Peruaner stehen? ich rede von Symmetrie des Rhythmus, des Sangbaren, und da arbeitet meine Nachbildung dem Original so matt und schwach nach.
Sie kennen das Kleistische Lied eines Lappländers, und die Hand dieses braven Mannes konnte für uns gewiß nicht anders, als verschönern; aber wenn ich Ihnen nun den rohen Lappländer gäbe? – wenigstens aus der dritten Hand, denn ich habe Scheffer nicht bei mir:
Es ist, wie gesagt, aus der dritten Hand, dieses lappländische Lied – Aber noch immer, wie natürlich, wie sehnlich sinnet der junge, begehrende Lappländer, dem sein Weg zu lange wird, dem alles, was er sieht, Sonne und Wipfel und Wolke und Krähe und Ruderfüße sich zum Orra-See, auf sein Mädchen beziehen muß! Der auf die Schnelle und Langsamkeit seines Weges, auf sein Hineilen der Seele, auf seine vorwandernde Gedanken, auf seine Lust, Richtsteige zu suchen, wie natürlich! wie sehnlich zurückkommt! Que de choses dans un menuet! und ich liefre Ihnen doch nur die stammlendsten, zerrissensten Reste.
Ein andres lappländisches Liebeslied an sein Rentier wollte ich Ihnen auch mitteilen; aber es ist verworfen, und wer mag Zettel suchen? Dafür stehe hier ein altes, recht schauderhaftes schottisches Lied, für das ich schon mehr stehen kann, weil ich's unmittelbar aus der Ursprache habe. Es ist ein Gespräch zwischen Mutter und Sohn, und soll im Schottischen mit der rührendsten Landmelodie begleitet sein, der der Text so viel Raum gönnet:
Könnte der Brudermord Kains in einem Populärliede mit grausendern Zügen geschildert werden? und welche Würkung muß im lebendigen Rhythmus das Lied tun? und so, wie viele viele Lieder des Volks! Doch aus meinem Briefe soll kein Buch werden usw.
[270] ... Endlich werden Sie aufmerksam, und mahnen mich um mehrere solche Volkslieder; ich aber beweise nun wieder gegen Sie Eigensinn. Denn aus Ihrem vorletzten Briefe z.E. ist mir noch ein Einwurf auf dem Herzen. »Auch Herr D. habe ja so viel lyrische Stücke, und die so schön wären!«
Lyrische Stücke hat er, und schön sind sie; aber wieviel lyrische Stücke, und wodurch sind sie schön? Was ist das andre im Original, was bei ihm nicht lyrisch ist, der Grund des Gedichts, auf dem seine Oden nur Blumen sind, ist das Hexameter? Und denn auch, wie? wodurch sind sie schön? Durch schöne römische, griechische Silbenmaße, und durch so schöne Anordnung in denselben, daß ich ja eben deswegen behauptet, sie sei'n die schönen Bardenlieder Ossians nicht mehr! Was macht Macpherson fast bei jedem solcher Stücke für Ausrüfe über das Wilde, oder Sanfte, oder Feierliche oder Kriegerische ihres Rhythmus, ihrer Melodien, ihrer Silbenmaße, das Seele des Gesangs sei – nun muß ich aber bekennen, daß bei den meisten Fällen ich weder Wahl, noch Veranlassung eben zu solchen römischen und griechischen Silbenmaßen; ja wenn ich von den Gesängen der Wilden überhaupt Ton habe, nirgends Veranlassung zu einem solcher römischen und griechischen Silbenmaße sehe. Ich mag mit Herrn D. nicht wetteifern; er hat so viel poetischen Stil und Sprache in seiner Gewalt; aber ich wollte ein Stück bei ihm sehen, das nicht in einem andern Silbenmaße ebenso gut, das ist, ebenso geziert, erscheinen sollte, und manches ist, ohne Umschweif,übel gewählt.
Zur Probe davon sehen Sie einmal den dritten Band durch. Da hat ihm, ich weiß nicht, welcher Kunstrichter, den Rat gegeben, mehr des skaldischen Silbenmaßes zu gebrauchen, und nun sehen Sie, wie es der Übersetzer mißbraucht hat. Die vortreffliche, so vielsaitige Goldharfe, die unter der Hand des dänischen Skalden allen Zauber- und Macht- und Leier- und Wunderton hat annehmen können, so wie gegenseitig den Ton der Liebe, der Freundschaft, der Entzückung, ist in den Händen des Übersetzers eine hölzerne Trommel mit zween Schlägen geworden. – Schade nur, daß eben dadurch die schönen Lieder von Selma und das süße »Carrikthura« verunstaltet sind. Im ersten Bande hat der Übersetzer gar eine Kantate in Reimen nach aller Form erfunden, und da ihm nun kaum zwei Reime gelingen, so sinkt dies ganze Stück fast unter die Kritik hinab.
Wie ganz anders hat Klopstock auch hier z.E. in der Sprache [271] gearbeitet! Der sonst so ausfließende ausströmende Dichter, wie kurz! wie stark und abgebrochen! wie altdeutsch hat er sich, in seiner »Hermannsschlacht« zu sein bestrebt! Welche Prose gleiche da wohl seinem Hexameter! welch lyrisches Silbenmaß seinen sonst so strömenden griechischen Silbenmaßen! Wenn in seinem Bardit wenig Drama ist: so ist wenigstens das Lyrische im Bardit, und im Lyrischen mindstens der Wortbau so dramatisch, so deutsch! – Lesen Sie z.E. das edle, simple Stückchen:
Auf Moos, am luftigen Bach etc.
und so viele, ja fast alle andre, und dann zeigen Sie mir etwas in dem Bardenton in Denis. Da nun Klopstock selbst sich so sehr hat verleugnen können, verändern müssen – ist dies Muß nicht eine große Lehre? Sie schrieben mir neulich, da Sie Denis' Silbenmaße priesen, Ihnen sei bei seinem »Fingal und Roskrane« Klopstocks »Hermann und Thusnelde« (in den Brem. Beitr.) eingefallen: desto schlimmer, denn Klopstocks neuerer Bardeton ist wohl nicht ganz der in »Hermann und Thusnelde«. Ich bin's gewiß nicht allein, der diesen veränderten, härtern Bardeton im neuern Klopstock empfindet, und ohne mich in das Beßre oder Schlechtre einzulassen, geht ich gern mit den Jahren des Dichters, und mit der Natur fort, und bin stolz darauf das deutsche Bardenmäßige in seinem
Was tat dir Tor, dein Vaterland
und in allen neuern Stücken, wo soviel kurzer, dramatischer Dialog und Wurf der Gedanken ist, zu empfinden –
... Der Faden unsres Briefwechsels vervielfältigt sich so, daß ich kaum mehr weiß, wo ich ihn angreifen soll, um ihn fortzuführen – am besten also, wo er mir in die Hände fällt.
Die Anmerkungen, die Sie »über das Dramatische in den alten Liedern« dieser Art machen, ist so nach meinem Sinn, daß ich's mir immer mit unter den Charakterstücken der Alten gedacht habe, die wir Neuere so wenig erreichen, als ein totes momentarisches Gemälde eine fortgehende, handelnde, lebendige Szene. Jenes sind unsre Oden; dies die lyrischen Stücke der Alten, insonderheit wilder Völker. Alle Reden und Gedichte derselben sind Handlung: Lesen Sie z.E. im Charlevoix selbst die unvorbereitete Kriegs- und Friedensrede des Eskimo: es ist alles in ihr Bild, Strophe, Szene! Was für Handlung in »Odins Höllenfahrt«, [272] im »Webegesang der Valkyriur«, im »Beschwörungsliede der Hervor«, und bei Ossian auf jeder Seite, in jedem Stücke! Damit Sie nun nicht wieder sagen, daß ich Ihnen viel nenne und nichts gebe: so mache ich mit Abtragung meiner Schuld den Anfang, und lege Ihnen, zumal ich jetzt zu schreiben, nicht mehr Zeit habe, ein paar der genannten bei. Ich hätte sie Ihnen so neu aufstutzen und idealisieren können: denn blieben sie ja aber nicht mehr, was sie jetzt sind, und eben am Aerugo der Bildsäule, am dunkeln, einförmigen, nordischen Zauberton der Stücke, ist Ihnen und mir ja gelegen:
[278] ... Habe ich denn je meine skaldische Gedichte in allem für Muster neuerer Gedichte ausgeben wollen? Nichts weniger! sie mögen so einförmig, so trocken sein: andre Nationen sie so sehr übertreffen: sie mögen für nichts als Gesänge nordischer Meistersänger oder Improvisatori gelten; was ich mit ihnen beweisen will, beweisen sie. Der Geist, der sie erfüllet, die rohe, einfältige, aber große, zaubermäßige, feierliche Art, die Tiefe des Eindrucks, den jedes so starkgesagte Wort macht, und der freie Wurf, mit dem der Eindruck gemacht wird – nur das wollte ich bei den alten Völkern, nicht als Seltenheit, als Muster, sondern als Natur anführen, und darüber also lassen Sie mich reden.
Sie wissen aus Reisebeschreibungen, wie stark und fest sich immer die Wilden ausdrücken. Immer die Sache, die sie sagen wollen sinnlich, klar, lebendig anschauend: den Zweck, zu dem sie reden, unmittelbar und genau fühlend: nicht durch Schattenbegriffe, Halbideen und symbolischen Letternverstand (von dem sie in keinem Worte ihrer Sprache, da sie fast keine abstracta haben, wissen) durch alle dies nicht zerstreuet: noch minder durch Künsteleien, sklavische Erwartungen, furchtsam schleichende Politik, und verwirrende Prämeditation verdorben – über alle diese Schwächungen des Geistes selig unwissend, erfassen sie den ganzen Gedanken mit dem ganzen Worte, und dies mit jenem. Sie schweigen entweder, oder reden im Moment des Interesse mit einer unvorbedachten Festigkeit, Sicherheit und Schönheit, die alle wohlstudierte Europäer allezeit haben bewundern müssen, und – müssen bleiben lassen. Unsre Pedanten, die alles vorher zusammenstoppeln, und auswendig lernen müssen, um alsdenn recht methodisch zu stammeln; unsre Schulmeister, Küster, Halbgelehrte: Apotheker, und alle, die den Gelehrten durchs Haus laufen, und nichts erbeuten, als daß sie endlich, wie Shakespeares Launcelots, Polizeidiener, und Totengräber uneigen, unbestimmt, und wie in der letzten Todesverwirrung sprechen – diese gelehrte Leute, was wären die gegen die Wilden? – Wer noch bei uns Spuren von dieser Festigkeit finden will, der suche sie ja nicht bei solchen; – unverdorbne Kinder, Frauenzimmer, Leute von gutem Naturverstande, mehr durch Tätigkeit, als Spekulation gebildet, die sind, wenn das, was ich anführete, Beredsamkeit ist, alsdenn die einzigen und besten Redner unsrer Zeit.
In der alten Zeit aber waren es Dichter, Skalden, Gelehrte, die eben diese Sicherheit und Festigkeit des Ausdrucks am [279] meisten mit Würde, mit Wohlklang, mit Schönheit zu paaren wußten; und da sie also Seele und Mund in den festen Bund gebracht hatten, sich einander nicht zu verwirren, sondern zu unterstützen, beizuhelfen: so entstanden daher jene für uns halbe Wunderwerke von αοιδοις Sängern, Barden, Minstrels, wie die größten Dichter der ältesten Zeiten waren. Homers Rhapsodien und Ossians Lieder waren gleichsam Impromptus, weil man damals noch von nichts als Impromptus der Rede wußte: dem letztern sind die Minstrels, wiewohl so schwach und entfernt, gefolgt; indessen doch gefolgt, bis endlich die Kunst kam und die Natur auslöschte. In fremden Sprachen quälte man sich von Jugend auf Quantitäten von Silben kennenzulernen, die uns nicht mehr Ohr und Natur zu fühlen gibt: nach Regeln zu arbeiten, deren wenigste, ein Genie, als Naturregeln anerkennet; über Gegenstände zu dichten, über die sich nichts denken, noch weniger sinnen, noch weniger imaginieren läßt; Leidenschaften zu erkünsteln, die wir nicht haben, Seelenkräfte nachzuahmen, die wir nicht besitzen – und endlich wurde alles Falschheit, Schwäche, und Künstelei. Selbst jeder beste Kopf ward verwirret, und verlor Festigkeit des Auges, und der Hand, Sicherheit des Gedankens und des Ausdrucks: mithin die wahre Lebhaftigkeit und Wahrheit und Andringlichkeit. – Alles ging verloren. Die Dichtkunst, die die stürmendste, sicherste Tochter der menschlichen Seele sein sollte, ward die ungewisseste, lahmste, wankendste: die Gedichte fein oft korrigierte Knaben-und Schulexerzitien. Und freilich, wenn das der Begriff unsrer Zeit ist, so wollen wir auch in den alten Stücken immer mehr Kunst als Natur bewundern, finden also in ihnen bald zuviel, bald zuwenig, nachdem uns der Kopf steht, und selten was in ihnen singt, den Geist der Natur. Ich bin gewiß, daß Homer und Ossian, wenn sie aufleben und sich lesen, sich rühmen hören sollten, mehr als zu oft über das erstaunen würden, was ihnen gegeben und genommen, angekünstelt, und wiederum in ihnen nicht gefühlt wird.
Freilich sind unsre Seelen heutzutage durch lange Generationen und Erziehung von Jugend auf anders gebildet. Wir sehen und fühlen kaum mehr, sondern denken und grübeln nur; wir dichten nicht über und in lebendiger Welt, im Sturm und im Zusammenstrom solcher Gegenstände, solcher Empfindungen; sondern erkünsteln uns entweder Thema, oder Art, das Thema zu behandeln, oder gar beides – und haben uns das schon so [280] lange, so oft, so von früh auf erkünstelt, daß uns freilich jetzt kaum eine freie Ausbildung mehr glücken würde, denn wie kann ein Lahmer gehen? Daher also auch, daß unsern meisten neuen Gedichten, die Festigkeit, die Bestimmtheit, der runde Contour so oft fehlet, den nur der erste Hinwurf verleihet, und kein späteres Nachzirkeln erteilen kann. Einem Homer und Ossian würden wir bei solchem poetischen Fleiß gewiß nicht anders vorkommen, als einem Raffael oder Apelles, der durch einen Umriß sich als Apelles zeigt, der schwachhändig, kritzelnde Lehrknabe – usw.
... Als ob ich mit dem, was ich neulich vom ersten Wurfe eines Gedichts gemeint, der Eilfertigkeit und Schmiererei unsrer jungen Dichterlinge, auch nur im mindesten zustatten kommen könnte? Denn was ist doch bei ihnen für ein Fehler sichtbarer, als eben die Unbestimmtheit, Unsicherheit der Gedanken und der Worte, daß sie nie wissen, was sie sagen wollen, oder sollen? – Weiß aber jemand das nicht, wie kann er's durch alle Korrektur lernen? Durch Schnitzelei kann da je ein Bratspieß zur marmornen Bildsäule Apolls werden?
Mich dünkt, nach der Lage unsrer gegenwärtigen Dichtkunst sind hierin zwei Hauptfälle möglich. Erkennet ein Dichter, daß die Seelenkräfte, die teils sein Gegenstand und seine Dichtungsart fodert, und die bei ihm herrschend sind, vorstellende, erkennende Kräfte sind: so muß er seinen Gegenstand und den Inhalt seines Gedichts in Gedanken so überlegen, so deutlich und klar fassen, wenden, und ordnen, daß ihm gleichsam alle Lettern schon in die Seele gegraben sind, und er gibt an seinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fodert sein Gedicht aber Ausströmung der Leidenschaft und der Empfindung, oder ist in seiner Seele diese Klasse von Kräften die wirksamste, die geläufigste Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: so überläßt er sich dem Feuer der glücklichen Stunde, und schreibt und bezaubert. Im ersten Falle haben Milton, Haller, Kleist und andre gedichtet: sie sannen lang, ohne zu schreiben: sprachen sie aber, so ward's und stand. Bei Milton wenige Verse, die er so Nächte durch gleichsam als mosaische Arbeit in seiner Seele gebildet hatte, und frühe dann seiner Schreiberin sagte: Haller, dessen Gedichten man's gnug ansieht, wie ausgedacht und zusammendrängend sie sind: Lessing ist, glaub ich, in seinen spätern Stücken der Dichtkunst auch in dieser Zahl – alle so [281] lebendig, und in der Seele ganz vollendete Stocke nehmen sich, wenn nicht durch ein Schnelles, so durch ein Tiefes und Beständiges des Eindrucks aus. Sie dauren, und die Seele findet bei jedem neuen wiederholten Eindruck gleichsam noch etwas Tiefers und Vollendetes, was sie anfangs nicht bemerkte. Von der zweiten Art muß z.E. Klopstock in den ausströmendsten Stellen seiner Gedichte sein: Gleim, dessen Gedichte so viel Sichtbares vom ersten Wurf haben: Jacobi, dessen Verse nichts, als sanfte Unterhaltungen des Moments werden, und andre, die die Sache freilich nachher bis zu jeder Nachlässigkeit übertrieben haben. Ramler, glaube ich, sucht beide Arten zu verbinden, ob freilich gleich die erste, die ausgedachte, bei ihm ungleich sichtbarer ist. Wieland sucht sie zu verbinden, ob er gleich immer doch mehr aus dem Fach der Weltkenntnis seines Herzens zu schreiben scheine, Gerstenberg zu verbinden – und überhaupt verbindet sie in gewissem Maße jeder glückliche Kopf: denn so entfernt beide Arten im Anfange scheinen; so wenig ein Genie sich der Art des andern aus dem Stegreife bemächtigen kann: so kommen sie doch endlich beide überein; lange und stark und lebendig gedacht, oder schnell und würksam empfunden – im Punkt der Tätigkeit wird beides impromptu, oder bekömmt die Festigkeit, Wahrheit, Lebhaftigkeit und Sicherheit desselben, und das – nur das ist, was ich sagen wollte. Was ließen sich aber auch nur aus dem für große, reiche Wahrheiten der Erziehung, der Bildung, der Unterweisung ziehen! Was ließen sich überhaupt aus dieser Proportion oder Disproportion des erkennenden und empfindenden Teils unsrer Seele für psychologische und praktische Anmerkungen machen! – Aber Sie müssen auf meine Psychologie über Ossian warten!
Ich bleibe hier in meinem Felde. Da die Gedichte der alten, und wilden Völker so sehr aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne, und der Einbildung entstehen, und doch so viel Würfe, so viel Sprünge haben: so hat mich dies längst, aus vielen Wahrnehmungen, auf die Gedanken gebracht, die ich Ihnen hier zum freundschaftlichen Gutachten mitteile. Zuerst, sollten also wohl für den sinnlichen Verstand, und die Einbildung, also für die Seele des Volks, die doch nur fast sinnlicher Verstand und Einbildung ist, dergleichen lebhafte Sprünge, Würfe, Wendungen, wie Sie's nennen wollen, so eine fremde böhmische Sache sein, als uns die Gelehrten und Kunstrichter beibringen wollen? Sie wissen die Einwürfe, die man hier aus Klopstocks Kirchenliedern, wie es immer gelautet [282] hat, für die gute Sache des christlichen Volks gemacht hat, lassen Sie uns sehen, was daran sei?
Zuerst muß ich Ihnen also, wenn es auf Erfahrung und Autorität ankommt, sagen, daß nichts in der Welt mehr Sprünge und kühne Würfe hat, als Lieder des Volks, und eben die Lieder des Volks haben deren am meisten, die selbst in ihrem Mittel gedacht, ersonnen, entsprungen und geboren sind, und die sie daher mit so viel Aufwallung und Feuer singen, und zu singen nicht ablassen können. Mir ist z.E. ein »Jägerlied« bekannt, das ich wohl unterlassen werde, Ihnen ganz mitzuteilen, weil sich das meiste und Anziehendste in ihm, auf lebendigen Ton und Melodie des Horns beziehet; aber bei allem Simpeln und Populären ist kein Vers ohne Sprung und Wurf des Dialogs, der in einem neuen Gedichte gewiß Erstaunen machte, und über den unsre lahme Kunstrichter, als so unverständlich, kühn, dithyrambisch schreien würden. Ein Jäger hat abends spät das Netz gestellt, und bläst alleweil bei der Nacht (welche Worte die Jägerresonanz sind), mit seinem Horne das Wild aus dem Korn ins lange Holz: alleweil bei der Nacht begegnet ihm also von fern eine Jungfrau stolz, und da hebt sich dieser Dialog an:
und so gehen die Würfe fort, und doch in einem so gemeinen, populären Jägerliede! und wer ist's, der's nicht verstünde, der [283] nicht eben daher auf eine dunkle Weise, das lebendige Poetische empfände?
Alle alte Lieder sind meine Zeugen! Aus Lapp- und Estland, lettisch und polnisch, und schottisch und deutsch, und die ich nur kenne, je älter, je volkmäßiger, je lebendiger; desto kühner, desto werfender. Wenn Ihnen meine skaldischen, und lapp- und schottländischen Lieder nicht genug sind, hören Sie einmal ein andres, aus den Dodsleyschen »Reliques«: ich wähle ein ganz gemeines, deren wir unter unserm Volk gewiß hundert ähnliche, und wo nicht Lieder, doch Sagen haben. Es ist nichts in der Welt mehr, als »Sweet Williams Ghost«: und doch, wie wenig kann ich ihm in der Übersetzung, seinen Aerugo, sein feierliches Populäres lassen.
Nun sagen Sie mir, was kühn geworfner, abgebrochner und doch natürlicher, gemeiner, volksmäßiger sein kann? Ich sage volksmäßiger: denn was die Bräutigamssitte betrifft, lesen Sie die Gebräuche der Wilden, z.E. der Nordamerikaner; und das Kostüm [285] der Erscheinung, in seiner ganzen Natur, brauche ich Ihnen nicht zu erklären – künftig weiter!
... Sie glauben, daß auch wir Deutschen wohl mehr solche Gedichte hätten, als ich mit der schottischen Romanze angeführet; ich glaube nicht allein, sondern ich weiß es. In mehr als einer Provinz sind mir Volkslieder, Provinziallieder, Bauerlieder bekannt, die an Lebhaftigkeit und Rhythmus, und Naivetät und Stärke der Sprache vielen derselben gewiß nichts nachgeben würden; nur wer ist der sie sammle? der sich um sie bekümmre? sich um Lieder des Volks bekümmre? auf Straßen, und Gassen und Fischmärkten? im ungelehrten Rundgesange des Landvolks? um Lieder, die oft nicht skandiert, und oft schlecht gereimt sind? wer wollte sie sammlen – wer für unsre Kritiker, die ja so gut Silben zählen, und skandieren können, drucken lassen? Lieber lesen wir, doch nur zum Zeitvertreib, unsre neuere schöngedruckte Dichter – Laß die Franzosen ihre alte Chansons sammlen! Laß Engländer ihre alte Songs und Balladen und Romanzen in prächtigen Bänden herausgeben! Laß in Deutschland etwa der einzige Lessing sich um die Logaus und Scultetus und Bardengesänge bekümmern! Unsre neuen Dichter sind ja besser gedruckt und schöner zu lesen; allenfalls lassen wir noch aus Opitz, Fleming, Gryphius Stücke abdrucken. – Der Rest der ältern, der wahren Volksstücke, mag mit der sogenannten täglich verbreitetern Kultur ganz untergehen, wie schon solche Schätze untergegangen sind – wir haben ja Metaphysik und Dogmatiken und Akten – und träumen ruhig hin –
Und doch, glauben Sie nur, daß wenn wir noch in unsern Provinzialliedern, jeder in seiner Provinz nachsuchten, wir vielleicht noch Stücke zusammenbrächten, vielleicht die Hälfte der Dodsleyischen Sammlung von »Reliques«, aber die derselben beinahe an Wert gleichkäme! Bei wie vielen Stücken dieser Sammlung, insonderheit den besten schottischen Stücken sind mir deutsche Sitten, deutsche Stücke beigefallen, die ich selbst zum Teil gehöret – haben Sie Freunde in Elsaß, in der Schweiz, in Franken, in Tirol, in Schwaben, so bitten Sie – aber zuerst, daß sich diese Freunde ja der Stücke nicht schämen; denn die dreusten Engländer haben sich z.E. nicht schämen wollen und dörfen. Selbst die Melodie des Ihnen einmal angeführten: »Come away, come away, death!« erinnere ich mich, einmal dunkel gehört zu haben, und noch nicht vor langer Zeit erinnere ich mich eines Bettlerliedes, [286] das an Inhalt so gemischt und voll Sprünge war, und in seiner sehr lyrischen alten Melodie so traurig tönte. – Unter ihrem Jammer kam die Sängerin, eine Penia selbst, im halben Gebetston aufs Ende ihres Lebens, wenn sie der bittre Tod überwände, und ihr (ich glaube es ist Gewohnheit oder Ausdruck) die Füße bände; endlich kämen 4 oder 6 Leute, die sie von Hause und Freunden weg, unter dem Schall der Totenglocke, in ihr Grab trügen –
sagen Sie, ist der Zug nicht elegisch und rührend?
Da ich weiß, daß dieser Brief keinem von den ekeln Herren unsrer Zeit in die Hände kommen wird, die über einen veralteten Reim oder Ausdruck gleich rümpfen! Da ich weiß, daß Sie überall mit mir mehr Natur, als Kunst suchen: so trage ich kein Bedenken, Ihnen z.E. aus einer Sammlung schlechter Handwerkslieder, ein sehnend-trauriges Liebeslied hinzusetzen, das, wenn es ein Gleim, Ramler oder Gerstenberg nur etwas einlenkte, wie viele der Neuern überträfe! –
Ist das Silbenmaß nicht schön, die Sprache nicht stark, der Ausdruck: empfunden? Und, glauben Sie, so würden sich in jeder Art mehrere Stücke finden, wenn nur Menschen wären, die sie suchten!
Wir haben z.B. viele und vielerlei neue Fabeln, was sagen Sie demohngeachtet aber zu einer solchen alten Fabel im alten Ausdruck und Ton:
Was meinen Sie zu der Fabel? Nicht lieber zehn solche gemacht, als alle – – – sche? Lassen Sie mich die Moral nicht dazusetzen, sie ist schlechter gesagt, neuer, und wie vielerlei Moral kann sich nicht jeder selbst daraus ziehen – in Teilen und im Ganzen! Die Herrn, die so bürgerlich feist wohlmeinend achten, daß jener Titel und dieser Kragen doch das Ding verstehen müßte –
[288]
Die Herren, die aus Stumpfsinn, und Gedankenlosigkeit gleich über jeden etwas gedrängten oder lebhaften Stil schreien, »ei nicht griechische Lauterkeit! Ciceronische Wohlberedtheit« in ellenlangen deutschlateinischen Perioden! so voll Anspielungen, voll Bilder, voll Gedanken – sonst aber freilich – – – kurz:
Was ließen sich sonst noch vor Deutungen machen, wenn man etwas die Welt kennet? – Aber zu unserm Zweck: wie fest und tief erzählt! Ohne erzwungne Lustigkeit und doch wie lustig und stark und treffend in jedem Wort, in jeder Wendung! – Aller guten Dinge sind drei! und zu unsern Zeiten wird so viel von Liedern für Kinder gesprochen: wollen Sie ein älteres deutsches hören? Es enthält zwar keine transzendente Weisheit und Moral, mit der die Kinder zeitig genug überhäuft werden – es ist nichts als ein kindisches
Ich suppliere diese Reihe nur aus dem Gedächtnis, und nun folgt das kindische Ritornell bei jeder Strophe:
Ist das nicht Kinderton? Und noch muß ich Ihnen eine Änderung des lebendigen Gesanges melden. Der Vorschlag tut bei den Liedern des Volks eine so große und gute Würkung, daß ich aus deutschen und englischen alten Stücken sehe, wieviel die Minstrels darauf gehalten: und der ist nun noch im Deutschen wie im Englischen in den Volksliedern meistens der dunkle Laut von the in beidem Geschlecht (de Knabe) 's statt das ('s Röslein) und statt ein ein dunkles a, und was man noch immer in Liedern der Art mit ' ausdrücken könnte. Das Hauptwort bekommt auf solche Weise immer weit mehr poetische Substantialität und Persönlichkeit
in den Liedern weit mehr Akzent, und endlich lassen Sie mich noch mit einer weitern Anmerkung hieraus schließen. In schnellrollenden, gereimten komischen Sachen, und aus dem entgegengesetztesten Grunde in den stärksten, heftigsten Stellen der tragischen Leidenschaft, dort insonderheit in leichtsinnigen Liedern, hier am meisten in den gedrungnen Blankversen haben Sie es da nicht oft bemerkt, wie schädlich es uns Deutschen sei, daß wir keine Elisionen haben, oder uns machen wollen? Unsre Vorfahren haben sie häufig und zu häufig gehabt: die Engländer mit ihren Artikeln, mit den Vokalen bei unbedeutenden Wörtern, Partikeln usw. haben sie zur Regel gemacht: die innre Beschaffenheit beider Sprachen ist in diesem Stücke ganz einerlei: uns quälen diese schleppende Artikel, Partikeln usw. oft so sehr, und hindern den Gang des Sinns oder der Leidenschaft – aber wer unter uns wird zu elidieren wagen? Unsre Kunstrichter zählen ja Silben, und können so gut skandieren! Sie also, der kein Kunstrichter ist, erlauben Sie also in dergleichen Fällen mir wenigstens, mich freiherrlichermaßen des Zeichens (') bedienen zu können, nach bestem Belieben usw.
... Und so führen Sie mich wieder auf meine abgebrochne Materie: »woher anscheinend einfältige Völker sich an dergleichen kühne Sprünge und Wendungen haben gewöhnen können?«
[290] Gewöhnen wäre immer das Leichteste zu erklären: denn wozu kann man Sich nicht gewöhnen, wenn man nichts anders hat und kennet? Da wird uns im kurzen die Hütte zum Palast, und der Fels zum ebnen Wege – aber darauf kommen? Es als eigne Natur so lieben können? Das ist die Frage, und die Antwort drauf sehr kurz: weil das in der Tat die Art der Einbildung ist, und sie auf keinem engern Wege je fortgehen kann.
Alle Gesänge solcher wilden Völker weben um daseiende Gegenstände, Handlungen, Begebenheiten, um eine lebendige Welt! Wie reich und vielfach sind da nun Umstände, gegenwärtige Züge, Teilvorfälle! Und alle hat das Auge gesehen! Die Seele stellet sie sich vor! Das setzt Sprünge und Würfe! Es ist kein anderer Zusammenhang unter den Teilen des Gesanges, als unter den Bäumen und Gebüschen im Walde, unter den Felsen und Grotten in der Einöde, als unter den Szenen der Begebenheit selbst. Wenn der Grönländer von seinem Seehundfange erzählt: so redet er nicht, sondern malet mit Worten und Bewegungen, jeden Umstand, jede Bewegung: denn alle sind Teile vom Bilde in seiner Seele. Wenn er also auch seinem Verstorbnen das Leichenlob und die Totenklage hält, er lobt, er klagt nicht: er malt, und das Leben des Verstorbnen selbst, mit allen Würfen der Einbildung herbeigerissen, muß reden und bejammern. Ich entbreche mich nicht ein Fragment der Art hieher zu setzen; denn da es gewöhnlich ist, Sprünge und Würfe solcher Stücke für Tollheiten der morgenländischen Hitze, für Enthusiasmus des Prophetengeistes, oder für schöne Kunstsprünge der Ode auszugeben, und man aus diesen eine so herrliche Webertheorie vom Plan und den Sprüngen der Ode recht regelmäßig ausgesponnen hat: so möge hier ein kalter Grönländer fast unterm Pol hervor, ohne Hitze und Prophetengeist und Odentheorie, aus dem vollen Bilde seiner Phantasie reden. Alle Grabbegleiter und Freunde des Verstorbnen sitzen im Trauerhause, den Kopf zwischen die Hände, die Arme aufs Knie gestützt: die Weiber auf dem Angesicht und schluchzen und weinen in der Stille; und der Vater, Sohn oder nächste Verwandte fängt mit heulender Stimme an:
»Wehe mir, daß Ich deinen Sitz ansehen soll, der nun leer ist! Deine Mutter bemühet Sich vergebens, dir die Kleider zu trocknen!
Siehe! meine Freude ist ins Finstre gegangen, und in den Berg verkrochen.
[291] Ehedem ging ich des Abends aus, und freute mich: ich streckte meine Augen aus, und wartete auf dein Kommen.
Siehe du kamst! du kamst mutig angerudert mit Jungen und Alten.
Du kamst nie leer von der See: dein Kajak war stets mit Seehunden oder Vögeln beladen.
Deine Mutter machte Feuer und kochte. Von dem Gekochten, das du erworben hattest, ließ deine Mutter den übrigen Leuten vorlegen, und ich nahm mir auch ein Stück.
Du sahest der Schaluppe roten Wimpel von weiten, und ruftest: da kommt Lars (der Kaufmann).
Du liefst an den Strand und hieltst das Vorderteil der Schaluppe.
Denn brachtest du deine Seehunde hervor, von welchen deine Mutter den Speck abnahm, und dafür bekamst du Hemde und Pfeileisen.
Aber das ist nun aus. Wenn ich an dich denke, so brauset mein Eingeweide.
O daß ich weinen könnte, wie ihr andern: so könnte ich doch meinen Schmerz lindern.
Was soll ich mir wünschen? Der Tod ist mir nun selbst annehmlich worden, aber wer soll mein Weib und meine übrigen kleinen Kinder versorgen?
Ich will noch eine Zeitlang leben; aber meine Freude soll sein in Enthaltung dessen, was den Menschen sonst so lieb ist.« –
Der Grönländer befolgt die feinsten Gesetze vom Schweben der Elegie, die auch
– irrt, doch nicht verwirret! –
und von wem hat er sie gelernet? Sollte es mit den Gesetzen der Ode, des Liedes nicht ebenso sein? und wenn sie in der Natur der Einbildung liegen, wen sind sie nötig zu lehren? wem unmöglich zu fassen, der nur dieselbe Einbildung hat? – Alle Gesänge des A.T., Lieder, Elegien, Orakelstücke der Propheten sind voll davon, und die sollten doch kaum poetische Übungen sein. –
Selbst einen allgemeinen Satz, eine abgezogne Wahrheit kann ein lebendiges Volk im Liede, im Gesange, nicht anders als auch so lebendig, und kühn behandeln: es weiß von der Lehrart und dem Gange eines dogmatischen Locus nicht, und es schläft gewiß ein, wenn es denselben geführt werden soll. Sehen Sie z.E. in den mehr angeführten Dodsleyischen »Reliques« die alten moralischen [292] Stücke an: »My heart to me a kingdom is« usw. Sie brechen immer in ihrem lyrischen Gange nur die Blumen ihrer Moral, und kommen, da hier kein sichtbarer Gegenstand, keine aneinanderhangende Geschichte und Handlung der Einbildung und dem Gedächtnis vorschwebet, jenem immer durch Anwendung, diesem durch Symmetrie, Refrain des Verses und zehn andre Mittel zustatten. Hören Sie einmal eine Probe der Art über den allgemeinen Satz: Der Liebe läßt sich nicht widerstehen! Wie würde ein neuer analytischer, dogmatischer Kopf den Satz ausgeführt haben, und nun der alte Sänger?
Konnte der Gedanke sinnlicher, mächtiger, stärker ausgeführt werden? Und mit welchem Fluge! mit welchem Wurfe von Bildern! Lassen Sie den dummsten Menschen das Lied dreimal hören: er wird's können, und mit Freude und Entzückung singen; sagen Sie ihm aber ebendieselbe Sache auf einförmige, dogmatische Art, in hübsch abgezählten Strophen, und seine Seele schläft.
Alle unsre alte Kirchenlieder sind voll dieser Würfe und Inversionen: keine aber fast mehr und mächtiger, als die von unserm Luther. Welche Klopstocksche Wendung in seinen Liedern kommt wohl den Transgressionen bei, die in seinem »Ein feste Burg ist unser Gott!« »Gelobet seist du Jesu Christ!« »Christ lag in Todesbanden!« und dergleichen vorkommen: und wie mächtig sind diese Übergänge und Inversionen! Wahrhaftig nicht Notfälle einer ungeschliffenen Muse, für die wir sie gütig annehmen: sie sind allen alten Liedern solcher Art, sie sind der ursprünglichen, unentnervten, freien und männlichen Sprache besonders eigen: Die Einbildungskraft führet natürlich darauf, und das Volk, das mehr Sinne und Einbildung hat, als der studierende Gelehrte, fühlt sie, zumal von Jugend auf gelernt, und sich gleichsam nach ihnen gebildet, so innig und übereinstimmend, daß ich mich z.E. wie über zehn Torheiten unsrer Liederverbesserung, so auch darüber wundern muß, wie sorgfältig man sie wegbannet, und dafür die schläfrigsten Zeilen, die erkünsteltsten Partikeln, die mattesten Reime hineinpropfet. Eben als wenn der große ehrwürdige Teil des Publikums, der Volk heißt, und für den doch die Gesänge kastigiert werden, eine von den schönen Regeln fühle, nach denen man sie kastigieret! Und Lehren in trockner, schläfriger, dogmatischer Form, in einer Reihe toter, schlaftrunken nickender Reime mehr fühlen, empfinden und behalten werde, als wo ihm durch Bild und Feuer, Lehre und Tat auf einmal in Herz und Seele geworfen wird.
Sie glauben doch nicht, daß ich hiemit eine Schutzschrift etwa für die Klopstockischen Lieder schreiben wolle? Ich glaube sehr gerne, daß auch sie nicht immer Lieder des Volks sind, und daß sie seltner ganze Gegenstände, als kleine Züge aus diesen Gegenständen, seltner ganze Pflichten, Taten und Gestalten des Herzens, [294] als feine Nuancen, oft Mittelnuancen von Empfindungen besingen, daß also ein sehr sympathetischer, und zu gewissen Vorstellungen sehr zugebildeter Charakter zum ganzen Sänger seiner Lieder gehöre. Aber dem ohngeachtet ist das, was viele sonst gegen ihn sagten, und noch mehr, was man ihm entgegenstellet, so trocken, so mager, so unkundig der menschlichen Seele, daß ich immer wetten will, das kühnste Klopstockische Lied, voll Sprünge und Inversionen, einem Kinde beigebracht, und von ihm einigemal lebendig gesungen, werde mehr für ihn sein, und tiefer und ewiger in ihm bleiben, als der dogmatischte Locus von Liede, wo ja keine Zwischenpartikel und Zwischengedanke ausgelassen ist. – Mein Gott! wie trocken und dürre stellen sich doch manche Leute die menschliche Seele, die Seele eines Kindes vor! Und was für ein großes, treffliches Ideal wäre mir dieselbe, wenn ich mich je an Lieder dieser Art versuchte! Eine ganze jugendliche, kindliche Seele zu füllen, Gesänge in sie zu legen, die, meistens die einzigen, lebenslang in ihnen bleiben, und den Ton derselben anstimmen, und ihnen ewige Stimme zu Taten und Ruhe, zu Tugenden und zum Troste sein soll, wie Kriegs-, Helden- und Väterlieder in der Seele der alten, wilden Völker – welch ein Zweck! welch ein Werk! und wieviel wahrhafte Bestrebungen zu solchem Werke haben wir denn? Reimgebetlein und Lehrverse genug!
Wenn Luther über jene beide wegen der Religion Verbrannte anstimmt:
so wollte ich fragen, wie viele unsrer neuern Liederdichter dergleichen Strophen (ich sage nicht dem Inhalt, sondern der Art nach) gemacht haben? und wie viele haben Luthern verbessert?
... Auch Sie beklagen's, daß die Romanze diese ursprünglich so edle und feierliche Dichtart bei uns zu nichts, als zum Niedrig-Komischen und Abenteuerlichen gebraucht, oder vielmehr gemißbraucht werde – ich beklage es gewiß mit: denn wie wahrer, tiefer und daurender ist das Vergnügen, das eine sanfte oder rührende Romanze, des alten Englands oder der Provinzialen, und eine neuere deutsche voll niedrigen abgebrauchten, pöbelhaften Spottes und Wortwitzes nachläßt. Aber noch sonderbarer ist's, daß in dieser letzten Gestalt die Romanze uns fast nur bekannt geworden zu sein scheint.
Gleim sang seine »Marianne« so schön – ich sage, er sang sie schön: denn eigentlich ist das Stock Zug vor Zug eine alte französische Romanze, die Sie (wenn Sie das noch nicht wissen), wie mich dünkt, auch in dem neuen choix des Romances anciennes et modernes finden werden – und so sang man ihm nach. Seine beiden andern Stücke neigten sich ins Komische; die Nachsinger stürzten sich mit ganzem plumpen Leibe hinein, und so haben wir jetzt eine Menge des Zeugs, und alle nach einem Schlage, und alle in der uneigentlichsten Romanzenart, und fast alle so gemein, so sehr auf ein einmaliges Lesen – daß, nach weniger Zeit, wir fast nichts wieder, als die Gleimschen übrig haben werden.
Dazu kommt nun noch das, daß die wenigen fremden, die übersetzt sind, so schlecht übersetzt sind (ich führe Ihnen nur die »Schöne Rosemunde«, und »Alkanzor und Zaïde« an, welche letztere noch den Vorzug hat, zweimal elend übersetzt zu sein), und da der Ton nun einmal gegeben ist: so singt man fort, und verfehlt also den ganzen Nutzen, den für unser jetziges Zeitalter diese Dichtart haben könnte, nämlich unsre lyrischen Gesänge, Oden, Lieder, und wie man sie sonst nennt, etwas zu einfältigen, an einfachere Gegenstände und edlere Behandlung derselben zu [296] gewöhnen, kurz uns von so manchem drückenden Schmuck zu befreien, der uns jetzt fast Gesetz geworden.
Sehen Sie einmal, in welcher gekünstelten, überladnen, gotischen Manier die neuern sogenannten philosophischen und pindarischen Oden der Engländer sind, die ihnen als Meisterstücke gelten! Von Gray, von Akenside, von Mason usw. ob wohl in ihnen Silbenmaß, oder Inhalt, oder Einkleidung die mindste Odenwürkung tun könne? Sehen Sie, in welche gekünstelte horazische Manier wir Deutsche hie und da gefallen sind – Ossian, die Lieder der Wilden, der Skalden, Romanzen, Provinzialgedichte könnten uns auf bessern Weg bringen, wenn wir aber auch hier nur mehr als Form, als Einkleidung, als Sprache lernen wollten. Zum Unglück aber fangen wir hiervon an, und bleiben hiebei stehen, und da wird wieder nichts. – Irre ich mich, oder ist's wahr, daß die schönsten lyrischen Stücke, die wir schon jetzt haben, und längst gehabt haben, schon mit diesem männlichen, starken, festen deutschen Ton übereinkommen, oder sich ihm nähern – was wäre nicht also von der Aufweckung mehrerer solcher zu hoffen! –
Nachschrift
Ja Nachschrift! wo keine Schrift, wo lauter Umrede rings um das leider! halb erloschne und entstellte Schaustück der menschlichen Natur Ossian, ist, oder es höchstens ewige Vorrede wird, zu dem was kommen will und kommen soll und nie kommt. Lassen Sie uns also, m. Fr., da die Sache einmal so liegt, dem klügern? oder blödern? Teil des Publikum wenigstens ein favete linguis ins Ohr lispeln, wie nichtig es mit Einkleidung des Briefwechsels, der versprochnen Psychologie Ossians (wenn der Druckfehler anzumerken wert ist), die Fabelreise zu seinen Inseln völlig zu geschweigen, stehen müsse! wie untreu eine skandinavische Übersetzung sei, wo der Autor nur aus Übersetzung und höchstens Wortansicht translatierte, zumal endlich wie solch Geschwätz, außer dem vielleicht, was es hie und da sage, so wenig Muster sein könne und wolle, wie etwas der Art in der Welt zu sagen sei? Überhaupt schien damals die lyrische Natur, zu der auch Ossian gebrochne Endtöne liefert, dem Briefwechsler, noch so fernher zu tönen, daß er natürlich in die Miene des Lauschers fallen mußte, der zu hören glaubt, wo andre vielleicht nichts hören, oder das sausende Kind der Lüfte.
[297] Glücklich, daß er alle seinen kritischen Wahn- und Ahndungsglauben jetzt durch eine Erscheinung 1 übertroffen sieht, der er mit pindarischem Schwunge seinen Kranz zuwerfen wollte, wenn der Kranz nicht dahin verdorrte. Kein kritischer Schöpfeimer, und alle Fässer der Danaiden geben Wasser, wo kein Quell ist – und es ist und wird ewig allein jener wundertätige Huf des Flügelrosses von Genie bleiben, der anschlägt und der siebenfache Quell strömet.
Siebenfacher Quell! Wenn deutsches Ohr noch mehr als Wortklanges und Silbenbaues fähig ist! wenn's kein Märchen vom ersten April sein und bleiben darf, daß die Göttin Harmonie
– des griechischen Himmels Kind –
noch einmal mit der Asträa oder Uranischen Venus unser tiefes Cimmerien besuchen würde. Am meisten aber, wenn die volle, gesunde, blühende Weltjugend wiederhergestellt werden kann und soll, daß in Ode und Tischgebet, Kirchen- und Liebesgesange das Herz und kein Regelnkodex, kein Horaz, Pindar oder Orbil statt unser, sprechen dürfe – eine Göttererscheinung auf dem Blumengürtel der Grazien und Genien des menschlichen Geschlechts bedarf so wenig Aus-und Zurufs, als sie den Augen solcher Hinzugerufnen auch nur sichtbar sein kann
– vulgus et arceo!
Allerding war's nur immer, »lyrischen Stabs Ende«! wie unsre Lehrbücher sich zeither mit Ode, Hymne, Psalm, Elegie, und womit nicht? getragen! – Gemälde zu liefern, ohne Subjekt, bloß des künstlich angelegten und so wohl unterhaltnen Gesichtspunkts, Kompositionsgeistes, Kolorits und alles andern feinern Details wegen! Dies allein aus der Autorität eines fremden Vorbildes zu lernen, bei dem doch hundert konventionelle Befremdnisse eben der Schleier sind, in dem wir's zuerst und zuletzt sehen, es mit deutschem Kopf, Fleiß, Glück und Ehrlichkeit zu studieren, und sich ihm aufzuopfern; endlich gar den Wohlklang nur in Silbenbau, Strophenbau und Regionen der Perioden-Deklamation zu setzen, und alles durch die Kunst zu heben,
[298] Aus alle diesem muß nur immer ein Rembrandt werden, und obgleich Rembrandt ein großer Meister – –
Heil uns, m. Fr. zu unserm – wie soll ich sagen? Guido, Correggio oder Raffael! Aber Engelgesichte hat er gemalt in Menschengestalt! Siehe dies Bild! welche Wahrheit! Leben! tiefe Seele! wie heben sich die Figuren von der Leinwand hervor, und sprechen (nicht mit uns! uns sehen sie nicht an! denn sie sind nicht für uns gemalt!) aber unter sich, wie handeln, wie sprechen sie, und enthüllen uns Gesicht und Seele. Wehe, der hier ausruft: »das war noch einmal gesungen!« sondern der es still fühlt, »das muß so empfunden gewesen sein, oder –«
Ode! sie wird wieder, was sie war! Gefühl ganzer Situation des Lebens! Gespräch menschlichen Herzens – mit Gott! mit sich! mit der ganzen Natur.
Wohlklang! er wird was er war. Kein aufgezähltes Harmonienkunststück! Bewegung! Melodie des Herzens! Tanz! In Fehlern und Eigenheiten, wie ist ein Genie noch überall lehrend!
Daß wir doch schon, m. Fr. eine Komposition »über den Allgegenwärtigen! die Frühlingsfeier« und dergl. hörten! oder vielmehr, daß diese Stücke der Musik schon Gepräge wiedergegeben hätten, was sie – ehedem gehabt hat, und nicht mehr hat. Lassen Sie mich um vom eklen Lobe abzukommen, mit ein zwei Wünschen hierüber schließen.
Unser jetzige musikalische Poesienbau – welch ein gotisches Gebäude! Wie fallen die Massen auseinander? Wo Verflössung? Übergang? Fortleitung bis zum Taumel? bis zur Täuschung schönen Wahnsinnes? Wo endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beider Schwestern herrsche oder diene – ihr Pieriden und Kastalinnen, wo?
Unsre eigentliche Kirchenmusiken haben noch eine erbärmlichere Gestalt. Das erste, das berühmteste von allen, Ramlers »Tod Jesu«, als Werk des Genies, der Seele, des Herzens, auch nur des Menschenverstandes (s.v.v.), welch ein Werk! Wer spricht? wer singt? erzählt sich etwas in den Rezitativen – so kalt! so scholastisch! als kaum jener Simon von Kana würde getan haben, da er vom Felde kam, und vorbeizustreichen Lust hatte. Und nun zwischeninne in Arien, in Choral, in Chören – wer spricht? wer singt? auf einmal eine nützliche Lehre aus der biblischen Geschichte gezogen, locus communis in der besten Gestalt! und dazu beinahe in allen Personen und Dichtungen des Lebens! und von einer zur andern mit den sonderbarsten Sprüngen! [299] Durchs Ganze kein Standpunkt! kein fortgehender Faden der Empfindung, des Plans, des Zwecks – R. »Tod Jesu« ist ein erbauliches, nützliches Werk, das ich in solchem Betracht tausendmal beneidet habe! Jede Arie ist fast ein schönes Ganze! Viele Rezitative auch – aber als poetisches Werk des Genies – für die Musik! – Hr. R. hat selbst ein viel zu feines Gefühl, als daß er das nicht weit inniger bemerke.
Seine »Hirten bei der Krippe«! Welche Poesie für die Musik? welch ein Plan? welch ein Ganzes? Das Vordere zuhinterst, und es ist fast noch immer derselbe Eindruck! Idylleneindruck, wo lauter Schäferbilder und Worte und von Anfang bis zu Ende kein Zug und Hauch einer Hirtenseele ist! bloß eine Maske Jesaias, Virgils und Pope in Schäferkleidern! – Und endlich Poesie zur Musik – wo im ganzen Stück nur Bilder, und keine Empfindung! Bilder für die Leinwand (da die Lanze z.E. Zeilen hindurch in die Erde wurzelt, emporstrebt, steht, grünt, wird ein Palmbaum usw.), durchaus nicht für den Tonschöpfer! So weiterhin und was wäre von seiner »Auferstehung« zu sagen?
Und nun, wie bearbeiten unsre Tonkünstler das alles nach dem einmal hergebrachten Leisten: Da doch eben der Ursprung dieses Leistens, die Umstände, unter welchen er entstanden usw. wo nicht jedermann, so doch gewiß uns Deutschen zurufen müßte: »Nicht nachgeahmt, oder ihr bleibt ewig hinten! und es wird ewig Schande sein, einen Münter an Metastasio zu messen!« Was das aber nun für eine Gattung Poesie sei, die wahre Mittelgattung zwischen Gemälde und Musik! und was das für eine Gattung Musik sei, die über Poesie nicht herrschet – –