Die Sünde

Wer war ich, als mich Deine Hand
Zum Menschen kam zu bilden!
Ein Erdenkloß, mein Vaterland
Ein Staub auf Staubgefilden!
Da kam Dein Finger, Herr, und fuhr
Um meine Glieder; seine Spur
Schuf in mich Bildsamkeiten.
Da kam Dein Odem, und der Thon
Ward durch Dein Leben, Gottes Sohn,
Voll Lebensregsamkeiten.
Was spiegelt uns die Sünde vor?
Macht unsern Ruhm zu Leide!
In Lust wird unser Aug' ein Thor,
Spricht uns von Vaters Neide,
Von Neide Deß, der Alles giebt,
Wird fremde Dem, der Alle liebt,
Traut ihm nicht, und – der Schlange!
»Sie ißt, die Schlange? – sie allein.
So werd' ich Gott und Göttin sein,
Wenn ich, wie sie, dort prange.«
Gewollt, ach schnell gethan, bereut,
Bereut mit Furcht und Zittern!
Da kommt der Gott der Freundlichkeit;
Kommt er in Ungewittern?
Im Abendsäuseln kommt der Herr,
Ruft linde seine Schuldener,
Sie gnädig zu verschonen;
Er frägt, er hört als Vater sie,
Für Sünde will er sie mit Müh
Und neuer Wohlfahrt lohnen.
Barmherzig doch, auch wenn er straft,
Auch noch sein Fluch ist Segen!
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Ein harter Segen, aber noch
Zum Wohl auf unsern Wegen.
Dem Menschenvater wird sein Brod
In Schweiß und Kummer, Müh und Noth,
Daß es ihm schmackhaft werde.
Tod wird sein Urtheil; aber Tod,
Der Retter nur von Müh und Noth;
Wird Erde, sanft zur Erde.
Auch wenn er straft, barmherzig doch,
Sein Fluch ist schwerer Segen!
Ein harter Segen, aber noch
Zum Wohl auf unsern Wegen.
Der Menschenmutter wird der Schmerz
Zur Freude, daß ihr Mutterherz
Mit Sieg ihr Kindlein herze;
Dem Manne wird sie unterthan,
Daß treu und stark und fest am Mann
Sie Lebensleid verschmerze.
Auch wenn er straft, barmherzig noch,
Auch noch sein Fluch ist Segen!
Ein harter Segen, aber noch
Uns noth zu unsern Wegen.
Da kleidet Gott sein nacktes Kind.
Ihr Hüllen, die mein Elend sind,
Das Denkmal meiner Schande,
Seid Hüllen der Barmherzigkeit;
Mein Land voll Arbeit, Müh und Leid
Wird mir zu Gottes Lande!
O Cherub, steh mit Deinem Schwert,
Mein Eden zu bewahren!
Dein Blick, der mein Gebein durchfährt
Mit tausend Flammenschaaren,
Er winkt mir, daß ich aufwärts seh',
Zum Paradiese höhrer Höh,
Was nie sich kann verlieren;
Da wird in neuen Jugendraum,
Da wird zum neuen Lebensbaum
Mein Bruder hin mich führen!
Da bin ich, was ich dort nicht blieb,
Dem Vater Kind der Liebe;
Dem trau' ich (denn er hat mich lieb),
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Trau' ihm mit Kindestriebe.
Da kommt mein erster Jugendtraum
Der Unschuld und des Lebens Baum,
Ein schöner Eden, wieder!
O Bruder, bring mich in Dein Reich!
Den Kindern und den Engeln gleich,
Sing' ich Dir Kindeslieder
Und seh' auf Dich und bleibe treu
Und koste nicht vom Baume
Und weiß nicht mehr, was Sünde sei;
Und der vom Jugendtraume
Geliebte Rest wird Wahrheit mir.
Lamm Gottes, läutre mich zu Dir,
Zu Dir von jener Schlange,
Die in sich krumm, daß ich wie Du
In Unschuld, Lieb' und Gottesruh
Des Lebens Frucht empfange!

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Siebentes Buch. Die Sünde. Die Sünde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5ADB-3