23. Herz und Auge
Aus dem Latein der mittlern Zeiten

Aus Camden's Remaines concerning Britaine, Lond. 1637. 4. p. 335. einer Sachvollen, nützlichen Sammlung.


Wer noch nicht die böse Zwietracht
Zwischen Herz und Auge kennt,
Weiß noch nicht, warum so thöricht
Oft er weinet, oft er brennt.
Klagend spricht das Herz zum Auge:
Du bist Schuld an meiner Pein,
Du, die Wächterin der Pforte,
Lockest selbst den Feind hinein.
Du, der Bote süssen Todes,
Bringst hinein mir alles Weh;
Ach und wäschest deine Sünde
Nicht mit einer Thränensee.
Ach und kann dich aus nicht reissen!
Bis mich selbst die Hölle trift –
Auch in meine frömmsten Freuden,
In die Reue mengst du Gift.
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Auge spricht zum Herzen wieder!
Deine Klag' ist ungerecht.
Bin ich nicht wie alle Glieder,
Du die Fürstin, ich der Knecht?
Bracht ich je dir süsses Leiden,
Ohne daß du mich gesandt?
War ich je des Feindes Freundin,
Ohne Winke deiner Hand?
Schloß ich nicht, wo du befahlest,
Mich dem liebsten Raube zu?
Ließ ich nicht zu tausendmalen
Dir und du mir nimmer Ruh?
Aus dem Herzen keimt die Sünde;
Auge bringt sie nicht hinein,
Du vergiftest meine Blicke,
Du bist Schuld an deiner Pein.
Also streiten sie und beide
Sündigen in ihrem Streit.
Herz, du bist des Bösen Quelle
Auge, die Gelegenheit.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. 23. Herz und Auge. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5BA4-6