[496] Gebrauch leiblicher Gaben

Wie klein, wie klein ist doch Dein Herz,
O Mensch! Bedenk, Du trägest Schmerz,
Warum? um zeitlich Gut!
Die wahre, wahre Seligkeit,
Die regt Dich nicht in Lieb' und Leid!
Was hilft Dir Reichthum, Lust und Ehr'?
Sie sind nur Unruh und Beschwer,
Ist nicht Dein Herz in Ruh.
Ertrink in Bächen Milch und Wein,
Die Qual wird immer Qual Dir sein!
O wie's so schwer zu glauben ist,
Daß Geist und nicht der Mund genießt,
Daß Geist es sei allein,
Der sieht im Aug', im Ohre hört
Und sich von Gott und Geist nur nährt!
O wie's so schwer zu glauben ist,
Daß, wer nur Hüll' und Schalen frißt,
Nicht Mensch sei, sondern Vieh!
Daß Saft und Kraft im Innern wohnt
Und nur den Hindurchbrecher lohnt!
Ja, Alles, Alles ist von Gott!
Er ist in Lieb', er ist in Noth,
Ist Gott in Mensch und Stein!
Nur, Blinder, soll er Dir im Stein,
Wie oder Menschengott Dir sein?
Ja, Menschengott! Herr Jesu Christ,
Der Du, was Gott und Vater ist,
Uns, unser Bruder, zeigst,
Erbarme Dich! von Deinem Geist
Gieb Jedem, der wie Du sich heißt!
Daß Mensch in menschlicher Natur
Nur schmecke Gott! daß Jeder nur
Dich fühle, Jesus Christ,
Der Menschen Bruder, und so frei
Und rein wie Gott und Christus sei!
Daß ich in aller Erde Gut
Nur fühle Gott! daß all mein Blut
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Nur schlag' und ruh' in Gott,
Daß jedes Menschenangesicht
Mir spreche, was mir Christus spricht!
Daß alle meines Lebens Bahn
Sich schlängle nur in Gottes Plan,
Daß Licht und Finsterniß
Und Heck' und Dorn und Berg und Thal
Mir heiße Gottes Berg und Thal!
O Gott, wie wird mein Geist so rein
Und wie die helle Sonne sein,
Wenn ich in Allem Dich,
Wenn ich in Tief' und in der Höh,
In Ruh und Stürmen Gott nur seh'!
O Gott, wie wird mein Geist so rein
Und wie die warme Sonne sein,
Seh' ich alleine Dich,
Wenn Sünder, Lästrer, Bettler, Kind
Mir Glieder Jesus' Christus' sind!
Und munter werd' ich sein und froh,
Nicht kriechen an der Erde so,
Nicht Wurm der Erde sein,
Wenn Sonnenstrahl mir oder Wind,
Herr, Deine, Deine Boten sind,
Und ich auf Sonnenstrahl und Wind
Mich immer bei Jehovah find'
Und schau' zu ihm empor
Und in der Bläue höhrer Höh
Nur seine Stirn und Willen seh',
Und mir in Lebens Labyrinth
Nur seine Willen Diener sind,
Und er mir Weg und Steg,
Und mir in Bruders Angesicht
Nur Jesus, Jesus Christus spricht!
O klein, o klein ist unser Herz,
Daß es um Schalen träget Schmerz,
Um elend, zeitlich Gut!
Sei, Vater! Sohn! sei Du mir Geist,
In Allem, was Dich, Herr, geneußt!
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Und laß mich ringen, wanken nicht,
Wenn niedre Sehnsucht an mich ficht,
Nur Erdeseligkeit!
Gott ist im Wurm und ist im Stein,
Ich Mensch soll christusselig sein!

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Gedichte. Gedichte. Siebentes Buch. Gebrauch leiblicher Gaben. Gebrauch leiblicher Gaben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5DCF-9