[82] [89]Georg Herwegh
Die Übervölkerung

Nicht das Schreckbild von Malthus, der mit Grausen gewahr wurde, wie das Geschlecht der Menschen von Tag zu Tag sich mehre, eine ganz andere Übervölkerung, die literarische möchte ich sagen, ist es, deren Besprechung ich heute ein paar Augenblicke widmen will. Ich werde auch später noch öfters auf dieselbe zurückkommen. Die folgenden Bemerkungen sollen diese Lebensfrage keineswegs vollständig lösen, sondern nur einen Beitrag zu deren künftigen Lösung abgeben.

Die literarische Übervölkerung! Ich glaube, ich habe keine sechs Freunde, die nicht wenigstens einmal in ihrem Leben den Ehrgeiz gehabt hätten, wenn auch nur in dem Provinzialblatt ihres Landstädtchens, als Schriftsteller aufzutreten und für einige Minuten das geneigte Gehör eines bescheidenen Publikums sich zu erbitten. Es ist, als ob niemand mehr Geltung oder Anspruch hätte, über der Masse zu stehen, der nicht einen Bogen Gedrucktes als Dokument der Bildung aufzuweisen hat. Das Altertum war tatenlustig. Die moderne Zeit ist schreibselig.

Allgemein zugegeben wird, daß von zehn Schriftstellern immer sechs das Schreiben unterlassen könnten, daß auf ein Genie zehntausend Mittelmäßigkeiten kommen, daß unter zwanzig Zeitungsredakteuren keine drei sind, welche vom heiligen Geiste berufen wären, der Nation gegenüber das große Wort zu führen und ihr Bertrauen zu erhalten. Ja, – der Journalist könnte gewissermaßen an die Stelle der alten Volkstribunen treten; wo bleiben aber diejenigen, welche solchen Namen sich verdienen möchten! Ein kleines Häuflein bis jetzt, welches die Tagesliteratur würdig repräsentiert.

Und doch – so gut die Idee von Malthus mehr ein Phantom, ein Gespenst war, eben so nichtig sind auch die weinerlichen Klagen über die literarische Übervölkerung, über die Unzahl von Schriften, welche mit jeder Leipziger Messe an das Tageslicht gefördert werden. Mag unsere Literatur immerhin den Anblick eines tausendköpfigen Ungeheuers bieten, eine Medusa, die versteinert, ist sie noch lange nicht und kann es ihrem innersten Wesen zufolge niemals werden. Dieses Herandringen auch der dürftigsten Intelligenz zu dem Forum der Öffentlichkeit gibt eben Zeugnis von der allgemeinen Verbreitung wenigstens erträglicher Bildung. Jede Aristokratie muß am Ende aufhören, auch die Aristokratie des Geistes. Man muß um des Echten willen auch dem Falschen die Möglichkeit gewähren, sich eine Existenz zu suchen, haben wir doch die Kritik und wackere [89] Männer genug, die dafür Sorge tragen werden, daß diese Existenz eine Scheinexistenz verbleibe.

Es waren allerdings schöne Zeiten, da selbst der dürftige Diderot seine Arbeiten lieber verschenkte als verkaufte; es waren schöne Zeiten, ehe der geistvolleBeauharnais mit seinen Schriften Spekulationen machte; bei zwei Dritteilen unserer Schriftsteller mag, ich gebe es zu, die erste Frage sein: Was findet Abgang? Was trägt mir am meisten ein? Welche Fassung gebe ich dem Buche, damit es der Staatsmann im Kabinett, der Republikaner auf seinen Promenaden liest? Dies und noch tausenderlei zugestanden – die literarische Übervölkerung, die unberechenbare Menge von Autoren ist ein Hauptbeweis für die demokratische Richtung unseres Jahrhunderts.

Den Alten war die Literatur eigentlich nur Ersatz für das Leben, uns ist sie zum wirklichen notwendigen Erfordernis des Lebens geworden. Sophokles und Euripides hätten vielleicht lieber noch hundert Schlachten von Marathon oder Salamis mitgefochten, als hundert Trauerspiele geschrieben; für uns ist es ein Übermaß der Freude, wenn das kleine Publikum eines Theaters uns einmal seinen Beifall zujauchzt; wir verschmerzen es gerne, daß uns kein Volk als Helden begrüßt. Ach! haben wir denn gar nichts mehr, was ein Herz zur Begeisterung entflammen, eine Faust zur Tat erwecken könnte? Wir liefern uns nur noch für unsere Ideale unsere unblutigen Schlachten mit Dinte und Feder.

In der mit Unrecht so oft angefeindeten Schreibelust unserer Tage liegt eine ganz richtige Opposition gegen das Bestehende und eine unverhüllte Anerkennung der Forderung, daß wir weiter, daß wir fortschreiten müssen.

Es wurde schon früher einmal in diesen Blättern behauptet, daß jeder echte Dichter in Opposition mit dem Staate stehe. Diese Opposition offenbart sich aber auch, ohne daß sie vielleicht selbst sich Rechenschaft davon ablegen können, in den gewöhnlicheren Köfpen unseres Volkes, welche die Feder ergreifen.

Jeder Schriftsteller entzieht dem Staate, wie er ist, einen Bürger. Dem Staate, wie er ist, sage ich ausdrücklich, denn Bürger sind wir alle irgendwo, Bürger im Himmel oder auf Erden, oder in einer unsichtbaren Republik. Die Alten bildeten sich für den Staat, die Bildung unserer größten Talente besteht darin, sich aus dem Staat herauszuleben, sich von demselben loszumachen, ihn entbehren zu können. Die Uhr des Deutschen geht immer ein Jahrhundert vor und er bildet sich [90] ewig für die Zukunft; die gewaltigsten Geister begannen ihre Laufbahn damit, daß sie sich ihre staatliche oder bürgerliche Karriere verdarben.

Besäßen unsere hohen Politiker in der Tat so viel Weisheit, als sie zu besitzen Miene machen, wahrlich sie würden, statt über Unreifheit und Ideologie zu spotten und in den Tag hinein zu räsonieren, darauf bedacht sein, wie sie dem kranken Staatskörper die faulen Teile ausbrennen wollen. Denn das sollte ihnen doch ein Beweis sein, daß unsere Institutionen mangelhaft und anbrüchig sind, wenn die Besten der Nation das Glück ihres Lebens gemacht zu haben glauben, sobald sie sich ohne Sorge dem gepriesenen Joche des Staatsdienstes entziehen können. Selbst der Ignorant, der seine albernen Romane schreibt, hat eine dunkle Ahnung davon, daß er kein Behagen daran finden würde, ein Stift in der großen Maschine zu sein.

Erst dann klagt darüber, daß so viel Unberufene vor dem deutschen Publikum mit ihren Produktionen auftreten, wenn ihr es ihnen möglich gemacht habt, ohne am Herzen zu verkümmern, wirkende Mitglieder euerer lobsamen Anstalten zu werden. Bis ihr dem Genie, wenn es nicht gerade ein falscher Ehrgeiz stachelt, werdet Genüge geleistet haben, wird noch manches Wasser den Bach hinunterfließen.

Eine alte Wahrheit, aber immerhin eine Wahrheit: Jede Sache hat ihre zwei Seiten. Wie sich uns in der Vielschreiberei das demokratische Prinzip als siegreich herausstellte, so haben unsere Gegner geglaubt, es werde durch dieselbe für ihre Sache etwas gewonnen. Ein Mann, der sich an die Spitze der Ereignisse gestellt hat, möchte ungefähr folgendermaßen räsonieren: »Warum in aller Welt war denn das atheniensische Volk so unruhig? Warum waren die Römer so schwer zu bändigen? Offenbar – weil sie keine Bücher hatten und sich die Langeweile notwendig durch die Ostrazisierung ihrer Aristokraten vertreiben mußten. Die Alten waren auf den Markt, unsere Leute sind auf das Zimmer angewiesen. Wenn sie überflüssige Zeit oder üble Laune haben, so holen sie sich ein Buch aus der Leihbibliothek und schlagen auf diese Weise zu unserer großen Freude ihre freien Stunden tot. Schreibt heute auch einer etwas weniger günstig für unsere Privilegien, ehe sein Buch ausgelesen ist, erscheint ein zweites, das doch auch gelesen sein will, und so kommt es niemals zur Tat. Daß übrigens die Bäume nicht in den Himmel wachsen, dafür ist durch die Zensur trefflich gesorgt. Unsere bittersten Gegner sind eigentlich [91] unsere besten Freunde: vor lauter Schreiben denken sie nicht mehr an das Handeln; sie laden in einem fort, vergessen aber ewig Pulver aufzuschütteln. Ja, Gutenberg! du warst ein großer Mann, und wir befinden uns scharmant bei dieser Nation von Dichtern und Philosophen. Sie errichten dir gegenwärtig ein Monument; gut, ich habe dir so viel zu danken, es soll mir auf ein paar Taler nicht ankommen; hast du doch die Revolution zu einer Buchhändlerspekulation gemacht. Zudem wird man durch einen solchen Beitrag zu einem Denkmal gar populär.«

Noch andere Staatsmänner setzten große Hoffnungen auf diese Vielschreiberei, weil den Schriftstellern an der Erhaltung des Bestehenden zunächst am meisten gelegen sein müsse. In unruhigen Zeiten, in Zeiten allgemeinen Umsturzes, wo jeder Tag einen Helden gebiert, schenkt man einem Buche, das nicht gerade die Politik betrifft, nur wenig Aufmerksamkeit. Das Schwert des Kriegers mäht die Dichter samt ihren Blumen hinweg. –

Sie irren sich aber alle, welche also sprechen. Wohl möchte vielleicht die Welt sich von Grund aus umgestalten, wenn nur einmal zweimal vierundzwanzig Stunden lang durch Zauberei die Bücher von der Erde verschwänden. – Indes ist der Vorteil der Vielschreiberei ganz auf unserer Seite, und ein scharfsichtiger Aristokrat sollte eigentlich keine Nacht ruhig schlafen können. Dieses hochmütige Zugeständnis und unausstehlich gnädige Herablassen von seiten der letztgenannten Herren verrät die tiefste Verblendung. Unsere Dichter und Denker sind es, welche an dem schönen Gebäude der Zukunft arbeiten und die Hallen wölben, in denen nicht nur freie Menschen Arm in Arm liebend miteinander wandeln werden – sie sind es, welche die Fundamente legen zu dem Palaste, der auch den niedrigsten Bettler unseres Geschlechtes in sich aufnehmen soll. Zu solch einem Weltbau bedarf es aber nicht nur des Genies eines Baumeisters, sondern auch der weniger geschickten Hände der Maurer und Zimmermeister. Der Himmel selbst hat Sterne erster, zweiter und dritter Größe, und wir wollen uns beklagen, daß in unserer Literatur nicht lauter Sterne erster Größe sind?

Keine Staatsform ist ewig, und nur vermessener Wahn kann die unsrige dafür ausgeben. Ist es euch nie aufgefallen, wie so mancher prometheische Geist es vorzog, in einem Zeitungsbureau statt in einem Ministerium sich abzuquälen? Habt ihr auf eueren Hochschulen keine Jünglinge kennen gelernt, die über 15 oder 20 Semester lang mit allem erdenklichen Fleiße einem Fachstudium obgelegen hatten, die sich hatten examinieren lassen, und für [92] tüchtig in jeder Beziehung erklärt worden waren, – und als es darauf ankam, in den Staatsdienst zu treten, sich besannen, und die unsichere Laufbahn eines Publizisten oder Dichters über das sichere Brod eines loyalen Beamten stellten? Dieses sichere Brod muß aber nicht sehr süß schmecken, es muß etwas faul sein im Staate Dänemark. Alles, alles will aus dem Staate! Niemand findet sich befriedigt und jeder trachtet darnach, sein Leben auf andere Weise, als hinter Aktenstößen, zu fristen.

Eine Unzufriedenheit mit dem Bestehenden und eben damit ein stark demokratischer Zug verrät sich in der Vielschreiberei unseres Jahrhunderts, die man, wenn man nur ein wenig nachdenkt, nicht schwächen, sondern, trotz den Tausenden von schlechten Machwerken, freudig willkommen heißen muß. Schmerzlich ist freilich für den Augenblick der Gedanke, daß oft selbst die größte geistige Impotenz lieber als elenden Schriftsteller sich brandmarken, denn als guten Bürger, was so der Staatsmann guten Bürger heißt, beloben lassen will.

Das Ziel der Weltgeschichte ist allerdings nicht das Schreiben; aber so, wie sie eben sich gestaltet hat, ist die Rührigkeit unserer Federn kein schlimmer, sondern ein guter Vorbote, ein deutlicher Fingerzeig, daß eine Änderung unserer Zustände eintreten muß, und eine Bürgschaft, daß die Zukunft gebildete, vorbereitete Menschen antreffen wird. Dann dürfte sich die Zahl unserer Schriftsteller schon von selbst mildern. Man denke an die Schweiz und an Nordamerika! –

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TextGrid Repository (2012). Herwegh, Georg. Schriften. Die Übervölkerung. Die Übervölkerung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5FDF-F