Der Vesuv

Früh erwacht im Tagesgrauen,
Schwang ich mich das steile Treppchen
Rasch hinan zum flachen Söller,
Und an seiner Brustwehr lehnend,
Ließ ich die entzückten Augen
Weitum in die Runde schweifen.
Noch im leichten Morgenschlummer,
Zugedeckt von Nebelschleiern
Wie von flaumenleichter Decke,
Lag die Küste, lag der glatte
Purpurblaue Meeresspiegel,
Zitternd in dem leisen Windhauch,
Der dem jungen Tag vorausging.
Und nun kommt er! Siegesprangend,
Güldnen Kronreif um die Stirne,
Tritt im Ost er auf die Hügel,
Und sofort die Flammenpfeile
Sendet er in die verträumte
Welt zu Füßen, daß der graue
Nebel reißt, in Glanz zerflatternd.
[305]
Und die herrliche Neapel
Hebt sich aus dem Duft, und ihre
Kinder all, die kleinen Städtchen
Längs der Küste, reiben lachend
Sich den Schlummer aus den Augen,
Spiegeln sich im Meer und kränzen
Seinen Strand mit Blütenzweigen.
Doch zur Rechten in den klaren
Morgenhimmel ragt der alte
Feuerberg Vesuv, die Stirne
Zart umglüht von Rosenschimmer.
Ruhig steht er da, behaglich
Seine Morgenpfeife rauchend,
Zu dem Kranz der weißen Städtchen
Niederblickend, die wie Enkel
Um den Großpapa sich drängen.
Aber ich – gedenken mußt' ich
Alles Unheils, das der Große
Diesen Kleinen angestiftet,
Und die Faust mit Zorngebärde
Nach ihm schüttelnd, rief ich also:
Heuchler du, mit deiner frommen
Menschenfreundlich sanften Miene!
O, man weiß, wie heiße Tücke
Dir im Busen gärt! Umsonst nicht
Nannte jener kranke Dichter
Dich sterminator Vesevo.
Ja, Verwüster und Verheerer
Warst du seit den frühesten Tagen,
Hast die arglos guten Kinder,
Die bei dir sich angesiedelt,
Erst gehätschelt und geliebkost,
Dann bei Nacht in Aschengluten
Sie erstickt, die Ahnungslosen,
Ihre Spur vom Boden tilgend.
Fluch dir! Ohne dich, du Dämon,
Würde dieser benedeite
Erdenfleck ein Paradies sein,
[306]
Gleich dem ersten. Aber freilich,
Diesem auch war ein Verwüster
Zugesellt vom Höllenabgrund,
Gleißend, wie du selbst in Schönheit.
So in sittlicher Entrüstung
Mich entladend, hielt den Blick ich
Auf des Kraters Rand geheftet,
Und auf einmal aus dem weißen
Dampf, der aus der Tiefe vorquoll,
Hob sich geisterhaft ein mächt'ges
Haupt, umweht von grauer Mähne,
Wildem Bart, und unter busch'gen
Brauen funkelten zwei Augen,
Blitze sprühend. Deutlich sah ich
Ihren Blick auf mich gerichtet,
Und wie Morgenwindes Sausen
Drang vernehmlich eine Stimme
An mein Ohr:
Du naseweiser
Tor, wie wagst du mich, den alten
Herrscher dieser Welt, zu schmähen?
Haben nicht die ew'gen Götter
Hier mir meinen Thron gegründet,
Gaben mir die Feuerseele,
Die, ob ungezählte Jahre
Über meinem Haupt dahinziehn,
Nie erkaltet? Feuergeister
Müssen unerbittlich immer
Wechselnd gut und Böses stiften,
Nicht gezähmt von lauer Tugend.
Und du nennst mich Heuchler? Hätt' ich
Je verleugnet mein Gemüte?
Wenn die Kleinen dumm-vertraulich
Sich geschmiegt an meine Kniee,
Mußten sie gewärtig bleiben
Meiner Launen. Und du schiltst mich,
Daß in Aschen ich begraben
Jene zwei berühmten Städtchen?
Heuchler dann du selbst! Wie bist du
[307]
Erst vor kurzem in Pompeji
Hoch entzückt herumgewandelt,
Hast die Bronzen, ausgegraben
Aus dem Schutt von tausend Jahren,
Im Museo Nazionale
Hoch bewundert, und dem »Dämon«,
Der dies Schauspiel euch gegönnt hat,
Gibst du danklos schnöde Namen?
Doch so seid ihr, wind'ge Menschlein,
Prunkend mit humanen Phrasen,
Aber wenn von fremdem Unglück
Etwas Gutes für euch abfällt,
Laßt ihr's doch euch trefflich schmecken.
Schäm dich, junger Mann, und bist du
Noch nicht ganz verderbt, geh in dich!
Rief's' und plötzlich war das mächt'ge
Haupt, so wie's erschien, verschwunden.
Ich jedoch, wie ein gescholtner
Schulbub schämt' ich mich und bat ihm
Alles ab, was ich gelästert,
Rief ihm auch an jedem Morgen
Ehrerbiet'gen Gruß hinüber –
Aber nie mehr hat der alte
Herr von mir Notiz genommen.

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Sorrent. Der Vesuv. Der Vesuv. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6503-0