[Ich weiß, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's]

Ich weiß, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's,
Ihm nachzuhängen. Dennoch, jeden Tag,
Sobald versank der Sonnenball und noch
Der Trost des Sternenschimmers nicht erblüht,
Nur bleiern bleiches Zwielicht auf dem plötzlich
Entseelten Angesicht der Erde ruht,
Tritt vor mich hin dasselbe Graungespenst.
Mir ist, mein Knabe sei in weiter Ferne
Verirrt und finde nicht nach Haus. Ich seh' ihn
Durch graue Gassen einer fremden Stadt
Hineilen, seine kleinen Füße wanken,
Von kühlem Tau und kaltem Schweiße klebt
Sein braunes Haar, die Augen suchen irr
Umher, ob sie das Haus nicht wiederfinden,
Wohin er soll, wo ihm das Bettchen steht,
Die Mutter tödlich sich um ihn zerbangt
Und trostlos sie der Vater trösten will.
Und fremde Leute, hastig teilnahmlos,
Gehn ihm vorbei – er ruft sie an – er fleht:
Bringt mich nach Hause! – Keiner hört auf ihn;
Nicht eine Pforte tut sich ladend auf,
Nicht eine Hand zieht ihn ins Wohnliche.
Und so von Tür zu Türe, hingejagt
Von Hunger, Angst und Sterbensmüdigkeit,
Sucht er und sucht – und keine Zuflucht winkt,
Und dichter, kühler, schauriger umdunkelt
Die Nacht sein banges Leben – schwer und schwerer
Den Atem ringt er aus beklemmter Brust –
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Und jetzt – die Kraft versiegt – mit leisem Ach
Hinsinkt er auf den kalten Stein.
Da sendet
Ein güt'ger Dämon, der das Herz mir nicht
Will springen lassen im lebend'gen Leibe,
Ihm Helfer in der höchsten Not. Ich seh'
Zwei andre Kinder um die Ecke biegen,
Stillgleitend wie mit Flügeln. An der Hand
Führt ein halbwüchs'ger Knab' ein zierlich Mägdlein,
Das kaum erst trippeln lernte. Stolz und ernst
Glüht unter blasser Stirn das Knabenauge
Und rastet plötzlich auf dem Hingesunknen.
Das Mägdlein aber stutzt und zeigt auf ihn,
Und jetzt, mit holdem, unhörbarem Lachen
Läuft's auf ihn zu und tupft ihn auf den Kopf,
Und wie er aufsieht, streichelt sie ihm sanft
Das taubetriefte Haar. Doch ihr Gefährte
Faßt brüderlich den Kleinen unterm Arm
Und richtet ihn empor. Da sehn die Drei
Sich an mit Kinderneugier, rasch vertraut,
Und flink das Mägdlein in die Mitte nehmend,
Gehn sie dahin; mir ist, ihr Lachen hört' ich,
Ihr kindisch Plaudern, – und wie Flötenhauch
Dringt's an mein Ohr. So blick' ich ihnen nach,
Bis vor dem übertauenden Aug' ihr Bild
Zerrinnt, und dort am Dachesrande glüht
Der goldne Mond empor und übergießt
Mit Balsam mir die angsterlöste Seele.

Rom

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Gedichte. Gedichte. Meinen Toten. Wilfried. [Ich weiß, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's]. [Ich weiß, ein Wahn ist's und zum Wahnsinn bringt's]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6514-A