[556] Sprüche

Lebensweisheit

Frei in deines Busens Schranken

Suche Wahrheit ohne Scheu.

In dem Irrsal der Gedanken

Finde dich und sei dir treu!

(K.W.L. Heyse.)

Schule des Lebens

»Was lehrt das Leben? Gib
Mir bündigen Bescheid. –
Hingeben, was dir lieb,
Hinnehmen, was dir leid.

Wahlspruch

Echtes ehren,
Schlechtem wehren,
Schweres üben,
Schönes lieben!

Was not tut

Trag muntern Herzens deine Last
Und übe fleißig dich im Lachen.
Wenn du an dir nicht Freude hast,
Die Welt wird dir nicht Freude machen.

Beschränkung

Steck dir das Ziel nur nicht zu weit,
Such nichts gewaltsam zu erraffen.
Mit deiner verfluchten Schuldigkeit
Hast ohnehin genug zu schaffen.

[557] Eignes Haus

Die Welt zerstreut oder engt dich ein;
Mußt in dir selbst zu Hause sein.
Der wird von Unrast nicht verschont,
Der bei sich selbst zur Miete wohnt.

Bestes Glück

Kein Glück ist auf dem Erdenrund
Heilkräft'ger, süßer, reiner,
Als Kindermund an deinem Mund
Und Kinderhand in deiner.

Vorbildlich

Mußt stets an deiner Mutter Art,
Du Kind der Erde, dich erinnern:
Wie sehr die Schale dir erstarrt,
Bewahr den flüssigen Kern im Innern.

Unvermeidlich

Lebe nur! Dem Widerspruch
Wird Lebend'ges nicht entgehen.
Totgebornes trifft der Fluch,
Niemand je im Weg zu stehen.

Heimkehr

Durchschweife frei das Weltgebiet,
Willst du die Heimat recht verstehn.
Wer niemals außer sich geriet,
Wird niemals gründlich in sich gehn.

Il mondo è paese

Das ist's, warum sich's leben läßt
Trotz alledem auf dieser Erden:
Die ganze Welt ist nur ein Nest,
Doch jedes Nest kann eine Welt dir werden.

[558] Ewige Jugend

Wer nicht alt wird bei jungen Jahren,
Wird ewige Jugend nicht bewahren.

(Nach Rahel)

Gründliche Torheit

Die menschlichste der Schwächen
Ist, über das, was uns das Herz gebrochen,
Noch obendrein den Kopf uns zu zerbrechen.

Naturtrieb

Das Blut beherrscht uns insgesamt,
Was man auch mag von Bildung munkeln,
Und wer von einer Katze stammt,
Der fängt die Mäuse im Dunkeln.

Recherche de l'inconnu

In deinem Innern mancher Schacht
Ist voll von unbekannten Erzen,
Doch schürfst du tiefer in deinem Herzen,
Nimm dich vor schlagenden Wettern in acht!

Vergebne Mühe

Auf Schritt und Tritt sich aufzupassen,
Was soll es frommen?
Wer nicht wagen darf, sich gehn zu lassen,
Wird nicht weit kommen.

Das Ärgste

Gegen Herzlose kannst du dich schützen,
Gib ihnen nur dein Herz nicht preis.
Geistlose mögen dir auch wohl nützen,
Da mancher manches kann und weiß.
Wenn aber Taktlose dich umringen,
Das wird dich zur Verzweiflung bringen.

[559] Naturgabe

Der eignen Nase nachzugehn,
Möcht' jedermann erlaben;
Nur darin wird die Kunst bestehn,
Eine eigne Nase zu haben.

Wichtigste Kunst

Du wirst der Leute Lieb' und Gunst,
Zumal der Biedern, bald verlieren,
Verstehst du nicht die edle Kunst,
Mit Anstand dich zu ennuyieren.

Guter Rat ist billig

Sie pflegen höchlich zu empfehlen,
Daß man Zufriedenheit gewinnt.
Leicht haben's die bescheidnen Seelen,
Die mit sich selbst so höchst zufrieden sind.

Cave canem

Verstand wie 'n Pudel die Ohren spitzt,
Wenn 's Herz an festlicher Tafel sitzt.
Gib ihm nur ein Knöchlein zu benagen,
So wird er höflich sich betragen.
Doch willst du auch das Knöchlein sparen,
Wird er dir in die Waden fahren.

Freuden

Gott wird die mehr mit Freuden segnen,
Die ihren Freuden freundlich begegnen.

Fester Grund

Wer sich an andre hält,
Dem wankt die Welt.
Wer auf sich selber ruht,
Steht gut.

[560] Reiner Wein

Bedenklich ist zu große Klarheit,
Die Welt will ja betrogen sein.
Das Beste, was du hast, ist Wahrheit;
Den besten nur schenk reinen Wein!

Übermaß

Sich selbst beherrschen ist gar fein,
Doch schlimm, sein eigner Tyrann zu sein.

Memento mori?

Wer stets den Tod vor Augen hat,
Dem wird die bunte Welt erblassen.
Ein trister Ehbund in der Tat,
Wo man beständig denkt ans Scheidenlassen.

Das Schlimmste

Verläßt dich Geistesgegenwart,
Ist's freilich hart;
Doch mehr noch ist's verhängnisvoll,
Erkennt dein Herz nicht, was es will und soll.

Der Egoist

»Seltsam, daß er's nicht weiter bringt
Und weder stark wird, weder groß,
Da alles doch sein Ich verschlingt!« –
Sein Ich ist eben bodenlos.

Lebenskunst

Das Leben ist eine freie Kunst.
Wer sie nach Regeln will betreiben,
Wird meist ein trauriger Stümper bleiben
Und nie gewinnen Meistergunst.

[561] Nil admirari

Nil admirari? Gälte das,
So wär' das Leben ein schlechter Spaß.
Wenn wir nichts mehr zu bewundern haben,
Wär's Zeit, wir ließen uns begraben.

Jahreszeiten

Grüne Jugend, was prahlst du so?
Ein jeder Halm wird endlich Stroh.

Unverzeihlich

Solang du schimpfst und tobst und bellst,
Bleibst du dem Volk erfreulich.
Doch wenn du einfach Recht behältst,
Finden sie's unverzeihlich.

Nichts umsonst

Das Leben ist ein genauer Wirt,
Läßt pünktlich zahlen Lust mit Leide.
Kommt einer mit vieren ankutschiert,
Den bedient es mit doppelter Kreide.
Wer glaubt, daß er frei ausgehn wird,
Der macht die Rechnung ohne den Wirt.

Selbsttäuschung

Ihr seht euch für gutmütig an?
Ja, fällt ein Kind, helft ihr behende;
Doch kommt zu Fall ein großer Mann,
Reibt ihr euch schadenfroh die Hände.

Warnung

So viel Verdienste du erwirbst,
So viel dir Gut und Mut beschieden –
Wenn du es mit den Philistern verdirbst,
Dann wehe deinem Frieden!

[562] Würdigkeit

Du fürchtest, dich unwürd'ger Armen
Mit deinem Scherflein zu erbarmen?
Fragt denn das Glück nach deinem Wert,
Wenn's einen Treffer dir beschert?

Die Edelsten

Das sind die Edelsten auf Erden,
Die nie durch Schaden klüger werden.

Richtet nicht!

Wer leben will und sich wohl befinden,
Kümmre sich nicht um des Nachbars Sünden.

Probatum est

Lerne den frohen Augenblick
Schon jetzt erinnernd nachgenießen,
Laß gegenwärtiges Mißgeschick
Schon als vergangen dich verdrießen:
Die Freude wird dich tiefer rühren,
Das Leid den schärfsten Dorn verlieren.

Character indelebilis

Manch armer Wicht wär froh genug,
Einen neuen Menschen anzuziehn;
Doch jeden Morgen erwarten ihn
Die Lumpen, die er gestern trug.

Allenfalls

Du magst, wenn du die Welt nicht kannst entbehren,
Nach Ehre geizen, nicht nach Ehren.

Tränen

Wer ist von beiden der ärmere Mann:
Der nicht im Schmerze weinen kann,
Oder der nie ein Glück genossen,
Davon die Augen ihm überflossen?
[563]

Bittere Erkenntnis

Und streust du noch so hochgesinnt
Wohltaten achtlos in den Wind,
Danklosigkeit kannst du ertragen,
Undank wird dir am Herzen nagen.

Entschluß

Hast du's nicht im Blut,
So hab's im Mut.

Suaviter in modo

Aufrichtigkeit wird löblich sein,
Grobheit soll von uns weichen.
Wer läßt sich gern den reinen Wein
In schmutzigem Glase reichen?

Freunde

»Freund in der Not« will nicht viel heißen;
Hilfreich möchte sich Mancher erweisen.
Aber die neidlos ein Glück dir gönnen,
Die darfst du wahrlich »Freunde« nennen.

Glückszuwachs

Mußt dich nur vom Neide reinigen,
Dann verzehnfachst du dein Glück,
Machst in jedem Augenblick
Fremde Freuden zu den deinigen.

Vergeben – vergessen?

Dem Freund vergeben, der mich verletzt,
Ist leicht; vergessen, schwer genug.
In seinem Bilde seh' ich jetzt
Die Wunde stets, die er mir schlug.
Mag sie vernarben mit der Zeit –
Um ihn noch immer ist mir's leid.

[564] Nicht zu bescheiden!

Sei mit dem Glück nur nicht bescheiden
Und mach die Fordrung nicht zu knapp.
Es ist das Zähere von euch beiden
Und handelt noch genug dir ab.

Sich bescheiden

Fordere kein lautes Anerkennen!
Könne was, und man wird dich kennen.

Macht des Einfachen

Klagst du nicht zu mancher Zeit,
Wenn das Leben Tag' und Nächte
Farblos aneinander reiht,
Daß es keine Frucht dir brächte?
Reinem Wasser gleicht es dann,
Das der Farbe muß entbehren,
Doch die schlichte Welle kann
Dich erquicken, stärken, klären.

Mut der Feigheit

Da werfen sie ohne sich zu schämen
Die Flinte gleich ins Korn hinein.
Wo die Leute nur den Mut hernehmen,
So ungeheuer feige zu sein!

Kopf und Herz

Wenn Kopf und Herz sich widersprach,
Tät doch das Herz zuletzt entscheiden.
Der arme Kopf gibt immer nach,
Weil er der Klügere ist von beiden.

Die Ungeselligen

Geselligkeit will uns nicht glücken,
Uns fehlen dazu der Anmut Gaben.
Nie harmlos sich in andre schicken,
Das heißt in Deutschland: Charakter haben.
[565]

Hohe Zirkel

Ein seltsam Ding um solchen Rout,
Wo jeder des Nachbarn Nase beschaut
Und selten mehr von ihm erfährt,
Als daß er »mit dazu gehört«.

Langes Leben

Lange leben ist keine Kunst,
Wird uns nur Zeit dazu gegeben,
Doch wer im Schaffen, Wirken, Streben
Es nie erlebt, sich selbst zu überleben,
Der preise seiner Sterne Gunst!

Stete Bereitschaft

Willst ein ruhiges Herz erwerben,
Mußt nach dieser Weisheit streben:
Leb, als solltest du morgen sterben,
Stirb, als solltest du ewig leben.

Der beste Spieler

Was hilft's, nach dem Applaus der Welt
Mit vorgebundner Maske schielen,
Da der allein nie aus der Rolle fällt,
Der immer wagt, sich selbst zu spielen.
Leichtsinn mit Melancholie gepaart
Hab' an den Besten ich oft gewahrt:
Leichtsinn in allem zeitlichen Trachten,
Schwermut, wenn sie ans Ewige dachten.
Soll das kurze Menschenleben
Immer reise Frucht dir geben,
Mußt du jung dich zu den Alten,
Alternd dich zur Jugend halten.
[566]
Mit Traurigen zu trauern, kann
An deiner Seele nie dir schaden.
Doch wirst du zu einer Lust geladen,
So sieh dir erst die Lust'gen an.
Nur eins beglückt zu jeder Frist:
Schaffen, wofür man geschaffen ist.
Wer stets sich Allen weiht,
Hat bald sich ausgegeben.
Nur in der Einsamkeit
Kannst du für Alle leben.
Mußt das Üble dem Geschick
Nur nicht übelnehmen,
Unbequemem Augenblick
Still dich anbequemen.
Ärger, der am Herzen frißt,
Wird's nur ärger machen.
Was nicht wegzuschelten ist,
Such es wegzulachen.
Das ist des Menschen bester Gewinn:
Ernste Seele und heitrer Sinn.
Nur wo die beiden sich treu vermählen,
Kann's nie an Frieden und Freude fehlen.
Ob dein Fuß im Jahreslauf
Hell' und dunkle Bahn durchwandre,
Rechne du nur eins ins andre,
Und du hörst zu klagen auf.
[567]
Von brutalen Gewalten
Laß nie deine Seele knechten.
Kannst du nicht Recht behalten,
Halte doch fest am Rechten.
Wer da bauet an der Straßen,
Muß sich von jedermann meistern lassen.
Doch stellt ein Kluger sich nicht ans Tor
Und leiht dem Klüglergeschwätz sein Ohr.
Das Alter bringt uns manche Pein,
Wird doch von jedermann begehrt.
Die Jugend ist ein Gut; allein
Wer's hat, erkennt nicht seinen Wert.
Bevor du weißt, ob's Brot ist oder Stein,
Beiß nicht hinein!
Weise Mahnung und ernster Rat
Sind fruchtbar nicht für jeden.
Wenn einer kein Gewissen hat,
Was hilft's, ihm ins Gewissen reden?
Er fühlt, es beißt ihn irgendwo,
Und juckt sich nur, als wär's ein Floh.

Reicher und bleicher

Der Teppich, den die Parze webt,
Wird mit den Jahren bunt und bunter,
Verschlungne Muster, reichbelebt,
Sinnsprüche laufen deutungsvoll mit unter –
Aber die Fäden von goldnem Schein
Webt sie immer seltner hinein.

[568] Frauen

Die feinen Sprüche – sie lassen dich

In mancher plumpen Not im Stich,

Und über die ungereimtesten Sachen

Hast du dir selbst einen Vers zu machen.

Hüte dich, wahllos einzustimmen,
Wenn Lästerzungen die Frauen kränken!
Man kann nicht schlimm genug von den schlimmen,
Nicht gut genug von den guten denken.
Durch Trinken loben wir den Wein
Und schönen Mund durch Küssen.
Was könnt' auch wohl beredter sein
Als so verstummen müssen?
Wich, was du liebst, in weite Fernen,
Mußt du vorlieb zu nehmen lernen;
Doch tu nur keinem Surrogat die Ehre,
Zu glauben, daß es das Echte wäre.
Leidenschaft ist ein süßer Wein,
Geschlürft aus glühendem Becher.
Er labt bis ins innerste Mark hinein
Und versenkt die Lippe dem Zecher.
Nie wird ein Weib sich ganz dir weihn,
Hat es dir nie was zu verzeihn.
Wie trefflich Weib und Mann
Sich miteinander ständen,
Fingen wir schwerer an,
Und könnten sie leichter enden!
[569]
Klug ist, wer seinen Witz verhehlt
Und bei den Frauen spielt den Toren.
Sie denken, wenn's an Verstand uns fehlt,
Wir hätten ihn um sie verloren.
Wie du gesinnt zu schönen Frauen,
Mußt ja nicht dem Papier vertrauen.
Viel Federlesens magst du sparen:
Halt' dich ans mündliche Verfahren.
Daß es dir nur nicht gleich Bedenken mache,
Horcht eine Frau zerstreut auf deiner Stimme Ton.
Vielleicht ist sie nicht völlig bei der Sache,
Doch desto mehr bei der Person.
Das sind die Traurigen, Flachen,
Die tief und stark sich scheinen:
Die Frauen, die nicht lachen,
Die Männer, die nicht weinen.
Nie wird das zartere Geschlecht
Zum Amt der Richter passen.
Sie glauben schon, sie seien höchst gerecht,
Wenn sie verdammen, ohne zu hassen.
Wie weit ein Weib auch dann und wann
Den Kultus der Person mag treiben,
Das Männliche im Mann
Wird stets des Tempels Gottheit bleiben.
Kommt in ein Frauenlos ein Bruch,
Fühlt sich das Herz getrieben
Und schüttet in ein kleines Buch
Sein Leiden und sein Lieben.
[570]
Doch was zuerst ein Herzenstrieb,
Wird bald bequeme Sitte,
Und nur, weil sie das erste schrieb,
Schreibt sie das zweit' und dritte.
Fraun sind oft Rätsel von jener Art,
Die, wenn wir die Lösung wissen,
Bereuen lassen, daß wir so hart
Die Zähne daran zerbissen.
Aus Lieb' oder aus Vernunft zu frei'n?
Wie sollte das nicht dasselbe sein,
Da es doch nichts Vernünft'gers gibt,
Als eine nehmen, die man liebt.
Wenn die Weiber nicht eitel wären,
Die Männer könnten sie's lehren.
Wie Mann und Weib verschieden von Natur,
Wird dir ihr Opfermut enthüllen:
Es opfert sich der Mann erkannten Zwecken nur,
Das Weib des bloßen Opfers willen.
Das ist unselige Minne,
Wenn Weiber das Herz dir rühren,
Bei denen Gemüt und Sinne
Getrennte Wirtschaft führen.
Nicht, welches Weib dem Mann gefällt,
Ist seines Wertes Messer.
Von Weibern denkt auch mancher Held:
Je schlimmer, desto besser.
[571]
Wer sich mit Seelenkunde befaßt,
Wird manch verborgnen Schatz entsiegeln;
Doch welcher Mann zu welchem Weibe paßt,
Kein Psychologe wird's erklügeln.
Liebe bringt uns um allerhand:
Um Zeit, Geld, Reputation und Verstand.
Wer nur mit dem Bankrott nicht endet,
Hat nie einträglicher verschwendet.

Literatur und Kunst

Geht dir ein Spruch zu scharf ins Blut,

Ein granum salis macht's wohl gut.

Poeten tragen sorgenlos
Die heimlichsten Gefühle bloß;
Doch können sie's ohne Scham nicht sehn,
Wenn die Gedanken nackend gehn.
Was man nicht liebt, kann man nicht machen,
Und jeder mache, was er kann.
Bedächten das die Starken und Schwachen,
Die Künste wären besser dran.
Stets bereit zu tausend Sachen
Sind die flotten Halbtalente.
Muß man doch nicht alles machen,
Was man auch wohl machen könnte.
Vermische Kunst und Leben nicht,
Mach nicht dein Leben zum Gedicht,
Du möchtest sonst die Kraft verbrauchen,
Der Dichtung Leben einzuhauchen.
[572]
Gedankenarm ein traurig Los! –
Viel lieber doch gedankenlos.
Brauche nur immer deine Kraft,
Ob sie auch nichts vom Höchsten schafft.
Zum mindsten ist Wärme frei geworden,
Und das tut not in unserm Norden.
Weiter bringt dich's, auf falschen Wegen
Rüstigen Schritts voranzugehn,
Als auf dem rechten dich schlafen zu legen,
Oder im Kreise dich umzudrehn.
Alles verstehn und verzeihn wir Deutschen: das schwülstigste Pathos,
Sentimentales Geseufz, üppige Frivolität,
Nur unschuldige Grazie nicht. Die finden die Biedern
Bloß affektiert, und zudem spreche sie nicht zum Gemüt.
Was macht ihr nur so großes Wesen
Von euren hochbelobten Alten?
Sie konnten wohl herrlich sich entfalten,
Sind auch eben noch jung gewesen.

Die Klassiker

»Sie haben uns alles vorweggenommen,
Die besten Gedanken, das kühnste Wort.« –
Rächt euch an denen, die nach euch kommen,
Und spielt den Enkeln denselben Tort!
Ehstand ist Wehstand, auch in der Kunst,
Drum sind Dilettanten glückliche Leute.
Sie genießen der Musen Gunst.
Wie ein Stelldichein ewiger Bräute.
[573]
»Ich bin ein Anfänger, Sie verzeihn!
Ich hoffe, Sie werden mich belehren.« –
Anfänger möchtet Ihr immer sein,
Wenn Ihr nur lerntet aufzuhören.
»Wie aber zügl' ich mein Talent?
Es treibt mich ruhlos wie im Fieber.« –
So tut, was ihr nicht lassen könnt,
Doch läßt sich's lassen, laßt es lieber!
Dilettanten beneid' ich von Herzen,
Ihnen ist großes Heil verliehn:
Kinder gebären sie ohne Schmerzen
Und brauchen hernach sie nicht zu erziehn.
»Berat uns, was wir schreiben sollen,
Daß unser Tun ersprießlich sei.« –
Kocht, was die Leute essen wollen,
So werdet ihr beide fett dabei.
»Fruchtbarer wär' ich ganz gewiß,
Wenn mir's nur nicht an Stoffen fehlte!« –
Die Schatten nahn dir, wie Ulyß,
Nur fehlt's am Blut, das sie beseelte.
Zu malen, bildnern oder bauen,
Wer wird sich's ohne Lehre getrauen?
Zum Dichten braucht's nicht so viel Faxen:
Ist jedem nicht ein Schnabel gewachsen?
»Am Himmel der Dichtkunst allüberall
Erglänzt es von neuen Poeten.« –
Ist leider nur ein Sternschnuppenfall,
Doch keine neuen Planeten.
[574]
Ihr mögt die Hüll' und Fülle haben
An Kunstgeschick und technischen Gaben,
Doch seid ihr als Person nichts wert,
Ward euch das alles umsonst beschert.
Was schiltst du »müßiges Gelichter«
Die lieben, guten, schlechten Dichter?
Die Eichen ragten nicht so stolz,
Gäb es im Wald kein Unterholz.
Wir hören so lang von deinen Gaben,
Zeige sie uns doch endlich nun.
Willst du Kredit als Heiliger haben,
Mußt dich entschließen, Wunder zu tun.
Wie doch diesen gespreizten Affen
Unter den Händen ihr Werk zerrinnt!
Sie meinen, sie könnten ein Kunstwerk schaffen,
Wenn sie recht unnatürlich sind.
Auf so manche Lust der Welt
Lernt man früh verzichten.
Was uns bis zuletzt gefällt,
Sind Bilder und Geschichten.
Schaffst du ein Werk der Kunst, gib acht,
Daß nicht die letzte Hand der ersten schade.
Den letzten Schritt mach mit so straffer Wade,
Wie du den ersten einst gemacht.
Das Publikum ist ein gnädiger
Monarch; es sollen Poeten
Als Hofnarrn oder Hofprediger
Bei ihm in Dienste treten.
[575]
Erbaut will's sein oder amüsiert
So zwischen Schlafen und Wachen,
Und wer ihm nicht das Zwerchfell rührt,
Der soll es weinen machen.
Der Anmut lächelnde Gestalt,
Tiefsinn von echten Humoren
Und des Erhabnen stille Gewalt
Sind völlig an ihm verloren.
»Poetische milde Gaben,
Gedruckt zum Besten der Armen« –?
Habt mit dem armen Leser Erbarmen,
Anstatt ihn so zum besten zu haben.
»Wortwitzelei! Wie schweifst du nur
Bald rechts, bald links in krausen Zügen,
Statt schlicht zu wandeln nach der Schnur?'' –
Ist Schlittschuhlaufen kein Vergnügen?
Halt' dich so wacker du nur magst
In hundert kleinen Gefechten:
Erst wenn du eine Hauptschlacht wagst,
Wird man den Kranz dir flechten.
Naivetät als schönstes Siegel drückt
Natur auf einen Meisterbrief;
Doch wenn mit ihm ein leeres Blatt sich schmückt,
Das ist – naiv.
Wer nur durch Tugenden Gunst gewinnt,
Wird bald vergessen auf Erden;
Doch wessen Fehler liebenswürdig sind,
Der kann unsterblich werden.
[576]
Bist du von höherer Natur,
Verschmäh's, hinab dich zu begeben.
Versuch es mit den Niedern nur:
Sie lassen willig sich erheben.
Jede Zeit und jeder Ort
Wird dir zum Gedichte taugen,
Sagst du stets mit eignem Wort,
Was du sahst mit eignen Augen.
Goldschmiede kennen den guten Brauch,
Wie man Demanten soll leuchten lassen.
Die rechten Männer verstehen's auch,
Ihre Gedanken à jour zu fassen.
Immer noch die Welt durchschreiten
Menschen, deren mannigfache
Groß' und kleine Menschlichkeiten
Sich erhöhn zur Menschheitssache.
Wer handeln soll, erwäge klug,
Daß Dummheit, Bosheit, Lug und Trug
Ringsum in tausend Masken schleichen.
Doch wem Gesang den Busen schwellt,
Der denke sich die weite Welt
Bevölkert nur mit seinesgleichen.
Verfälschte Nahrungsmittel
Verfallen jetzt dem Büttel.
Den Kunstwein, den sie Lyrik taufen,
Läßt niemand in die Gosse laufen.

Rat an Lyriker

Der Mensch lebt nicht vom Süßen allein;
Müßt wie die Bienen leben:
Sie sammeln nicht bloß Honig ein,
Sie machen auch Wachs daneben.
[577]
Laß dich's nur nicht verdrießen,
Verschmäht man anfangs deine Gaben.
Der Fluß muß lange fließen,
Bevor er sich ein Bett gegraben.
Talent ist eben ein jüngrer Sohn,
Durch Fleiß der Nahrungssorgen spott' es.
Genie ist Erb' und ältster Sohn,
Stammhalter des lieben Gottes.
Wer groß ist, soll sich des Kleinen enthalten?
Als ob man Herr der Stunde wär'!
Bedenkt, daß auch im Musenverkehr
Kleine Geschenke die Freundschaft erhalten.
Will diese Welt, du arme Poesie,
Nichts von dir wissen,
Wie kann dich's wundern? Du beleidigst sie.
Bist du denn nicht das Weltgewissen?
Du bildest dir ein, du habest Genie
Und seist berufen zur Künstlerschaft?
Freund, du verwechselst Phantasie
Und Einbildungskraft.

N.N.

Hab' ich doch nie einen Mann gesehn,
Dem so, wie ihm, an allen Tagen
Die Worte zu Gebote stehn,
So oft er will was Dummes sagen.
Wie kannst du deine Zeit verachten
Und doch nach ihrem Lobe schmachten?
Soll man dir deinen Stolz verzeihn,
Mußt drauf verzichten, eitel zu sein.
[578]
Der welke Künstlertrieb
Schafft nicht mehr aus dem Vollen,
Und statt der Wollust blieb
Nur noch die Lust zu wollen.
Ein anerkanntes Talent zu haben,
Ist eine der besten Glückesgaben,
Doch besser noch ist's mit dem bestellt,
Der für ein verkanntes Genie sich hält.

Reiz des Fragmentarischen

Ein Ganzes ist nicht leicht zu fassen.
Man mag es lieben oder hassen,
Ganz unbekümmert ruht's in sich.
Wie schmeichelt's, ein Fragment zu sehen!
In aller Demut scheint's zu flehen:
Du ganzer Mann, vollende mich!
Laß niemand durch dein Lied erfahren,
Wer dich gekränkt auf deinem Pfade.
Es wär' um deinen Bernstein schade,
Müßt' er die Mücken aufbewahren.
Was du mit hundert Schleiern gern umwändest,
Dem Blick der Muse hast du's bloßgestellt.
Was du dem liebsten Freunde nicht geständest,
In ihrer Sprache beichtest du's der Welt.
Wer sein Gedicht erklärt,
Verrät geheime Schwächen.
Ist es der Rede wert,
Wird's für sich selber sprechen.
Geht durch die Welt politischer Zank,
Soll man der Poesie entsagen?
Verbietet, wenn die Kartoffeln krank,
Den Pfirsichbäumen, Frucht zu tragen!

[579] An einen Erzähler

Was mußt du stets dein Ich dazwischenschieben
Und deines Helden Mentor sein?
Die Leserin will sich in ihn verlieben,
So laß sie doch mit ihm allein.

X

»Wie denkst du von diesem Autor nur?
Wohl gar verächtlich?« –
Nein; sein Verdienst durch die Literatur
Ist sehr beträchtlich.

N.N.

Wie mütterlich hat doch Natur
Ihm die Talente zugemessen!
Sie gab ihm alle. Schade nur,
Daß sie ein Naturell vergessen.

Aktualität

Wir sehn erlöschen unbewußt
So manche brennende Frage.
Das Fragezeichen in unsrer Brust
Brennt bis zum Jüngsten Tage.

Voltaire

Habt ihr ihn noch so schwer verdammt,
Mit eurem Bannfluch ihn beladen:
Er war, wenn auch der Höll' entstammt,
Ein Teufel doch von Gottes Gnaden.

Goethes zahme Xenien

Manch Sprüchlein hat er neu geprägt,
Das abgegriffen am Wege lag,
Nun, da es seinen Stempel trägt,
Im Kurs bleibt bis zum Jüngsten Tag.
[580]
Daß Faust dem Teufel sich verbunden
Und keine Dampfmaschin' erfunden,
Mögt ihr ihm ins Gewissen schieben;
Doch hätte Goethe dann den Faust geschrieben?
Versuch's und übertreib's einmal,
Gleich ist die Welt von dir entzückt.
Das Grenzenlose heißt genial,
Wär's auch nur grenzenlos verrückt.

Melchior Meyr

Zwei Seelen haben in dir regiert
Und jede der andern Werk verrichtet:
Der Novellist hat philosophiert,
Der Philosoph gedichtet.

An –

Ποιητής, Macher, – so ungefähr
Dacht' ich, daß das ein Dichter wär'.
Du hast's französich dir übersetzt:
So viel wie faiseur bedeutet's jetzt.

Einem Sonettisten

's ist keine Kunst, langatmig abgeschmackt
In dicken Bänden zu langweilen.
Du aber gibst Ennui-Extrakt,
Du Wundermann, in vierzehn Zeilen.
Von Sünden loszusprechen,
Die unser Herz vom Sittenzwang befreit,
Das ist – und nennt ihr's auch Verbrechen –
Poetische Gerechtigkeit.

Naturalismus

1.
Im Leben pflegt es uns zu frommen,
Wenn wir in gute Gesellschaft kommen,
Und sollen uns in der Kunst bequemen,
Mit der Crapüle vorlieb zu nehmen?
[581] 2.
In jedem Hause, noch so rein,
Gibt's ein geheimes Kämmerlein.
Doch gilt es Fremde durchs Haus zu führen,
Hält man verschlossen gewisse Türen.
3.
Auch Kot gehört ja zur Natur,
Wer kann davor sich schützen?
Und meinethalb auch zur Literatur;
Doch soll er uns an die Stiefel nur,
Nicht an die Nase spritzen.
4.
Sie konnten im Unsittlichen
Nicht kecker sich erdreisten;
Nur im Unappetitlichen
Blieb Großes noch zu leisten.
Die Muse wandelt in stolzer Ruh
Vorbei und hält sich die Nase zu.
5.
Wollt ihr in Gold den Kiesel fassen,
Muß ich euch eure Freude lassen.
Ich armer idealistischer Tor
Ziehe die Edelgesteine vor.
6.
Ein groß Geschrei geht durch die Welt:
Mit unsrer Kost sei's schlecht bestellt.
Wir sollten, was Gott uns will bescheren,
In Zukunft lieber roh verzehren.
Die Kochkunst sei ein Mißbrauch nur,
Verhunze die Einfalt der Natur;
Drum, was den Schmaus versüßt, verschönt,
Als fader Mischmasch sei verpönt. –
Ha, dacht' ich, wenn mir ein Apfel lacht,
[582]
Ess' ich ihn frisch, uneingemacht,
Und Austern schlürf' ich aus der Schale.
So laßt mich kosten von eurem Mahle! –
Da präsentierten sie einen Fladen,
Wie man sie findet auf Wiesenpfaden.
Mir ward steinübel vom Gestank.
Ist's so gemeint, dann großen Dank!
Ich denke, trotz dieser modernsten Schlaraffen
Meine Köchin doch nicht abzuschaffen.

7.

(Roman expérimental)

Alles Lebendige
Beruht auf Zeugung.
Das Unanständige
Ist unsre Neigung.
Das Unbeschreibliche
Hier wird's getan;
Das Ewigweibliche
Ist nur ein Wahn.

Die Moralisten

1.
Nicht an die Elite denken sie,
Nur an die Kleinen, Vielen.
Verstaatlichung der Poesie,
Das ist's, worauf sie zielen.
2.
Im Paradies gab Weib und Mann
Stoff zu idyllischem Gedichte.
Erst mit dem Sündenfall begann
Der Sensationsroman der Weltgeschichte.
3.
»Die Unschuld, noch vom Morgentraum umschwebt,
Wird durch dein kühnes Werk vernichtet.« –
Für solche, die noch nichts erlebt,
Hab' ich auch nicht gedichtet.
[583] 4.
Kastriert nur ängstlich Lieb' und Haß
In usum der Unmünd'gen, Schwachen!
Ihr sollt uns doch nicht den Parnaß
Zur Kinderstube machen.
5.
Ich schätze den Kodex der Moral
Als eine Grammatik zum Schulgebrauch.
Wer schreibt und lebt mit schöpferischem Hauch,
Heißt inkorrekt erst allemal
Und zwingt den usus endlich auch.

An –

Wohl ward des Dichters Flügelpferd,
Der heil'ge Wahnsinn, dir beschert.
Doch der es lenkt mit fester Hand,
Fehlt: der gesunde Menschenverstand.

Einem Kraftgenie

Du pflegst, wo eine Hand genügt,
Sofort die Faust zu ballen.
So wirst du denen nur gefallen,
Die stets am Faustrecht sich vergnügt.

In viridi prato consedit Phoebus Apollo

(zu einem Bilde mit dieser Devise)


Auf grüner Aue sitzt Apoll
Und musiziert ganz wundervoll;
Doch wird ihm all seine Kunst nicht frommen,
Auf einen grünen Zweig zu kommen.
Bettler am Küchenfenster stehn,
Bei trocknem Brot den Braten zu riechen.
Nicht besser pflegt es denen zu gehn,
Die heut bewundern die Kunst der Griechen.
[584]

In Rom

Viel hier lehren die Trümmer, doch eins, was nirgend gelehrt wird,
Selten im Leben und nie spricht man in Schulen davon:
Ganz sein. Wenn du es einmal warst, so mögen Barbaren
Trümmern und bröckeln an dir: deine Gestalt – sie besteht.

An die Nazarener

Die Künste preist ihr salbungsvoll
Und warnt vor Sinnenreizen?
Wenn euch der Ofen wärmen soll,
So, denk' ich, müßt ihr ihn heizen.

An einen Künstler

Viel zu geschickt, zu flott, zu schnell!
Vor lauter Künsten geht die Kunst verloren.
Du wärst vielleicht ein Raffael,
Wärst du nur ohne Hände geboren.

Kunstausstellung

Viel Leinwand, Hausgespinst und fremd,
Nur arg entstellt durch bunte Flecken,
Und reicht doch nicht zu einem Hemd,
Der Kunst die Blöße zu bedecken.
»Der Mann ist eine Zelebrität.
Willst seine Werke du ignorieren?« –
Muß ich denn ein Gericht probieren,
Wenn sein Geruch mir widersteht?
Zürnst du, wenn mit schalen Späßen
Sie ihr Publikum bewirten?
Was die Schaf' am liebsten fressen,
Wissen diese klugen Hirten.
Heißen dich nur einen Toren,
Der umsonst sich mag erhitzen,
Da ihr Schäflein sie geschoren
Und nun in der Wolle sitzen.
[585]
Dein Urteil fordern sie, »frank und frei«,
Das heißt, dein Lob,
Und sagst du einem, was not ihm sei,
So wird er grob.
Hoffnungslose Dilettanten
Abzuschrecken hoffe nimmer.
Denn kaum sind sie aus dem Zimmer,
Schelten dich die schwer Verkannten
Einen ledernen Pedanten.
Sprich von dir selbst nicht zu bescheiden,
Man spricht's nur gar zu gern dir nach.
Was mußte nicht Lessing darunter leiden,
Daß er von »Röhren und Druckwerk« sprach,
Als ob nicht Minna und Nathan klar
Bezeugten, wie frisch die Quelle war.

Nordischer Nebel

Nur recht mystisch-unverständlich,
Sibyllinisch müßt ihr schreiben.
Dafür ist die Welt erkenntlich,
Dürft es kecklich übertreiben.
Bleibt dem Leser auch am Ende
Ihr des Rätsels Lösung schuldig,
Daß nur er den Sinn nicht fände,
Glaubt der gute Narr geduldig.
Denn um Gottes willen lasse
Kein Naiver je sich merken,
Daß er nicht den Tiefsinn fasse
In gepriesnen Dichterwerken.
Was, erhellt vom eignen Lichte,
Leuchtet ein gesunden Augen,
Scheint gering nur an Gewichte,
Kann ja nicht zum Deuten taugen.
[586]
Jedes Pfuschwerk stellt's in Schatten,
Das, verworren und verlogen,
Regt unendliche Debatten
Neunmalweiser Mystagogen.
Lernt darum den Kunstgriff üben,
Der euch den Erfolg verbriefe:
Müßt das seichte Wasser trüben,
Daß man glaub', es habe Tiefe.
Sonder Mühen und Beschwerden
Könnt ihr so die Ruhmsucht stillen.
Will die Welt betrogen werden,
Nun so tut ihr doch den Willen!

Den Dilettanten

Natur trägt mannigfach Gewand,
Leicht bildet's nach auch schwache Hand.
Doch was verhüllen die weichen Falten,
Ist Meisterhänden vorbehalten.

Auf einen Epigrammendichter

Du suchtest allerorten
Umsonst nach einem Mann,
Der in so wenig Worten
Noch weniger sagen kann.
Archimedes verlangte für seinen Hebel nur einen
Standort außer der Welt, und er bewege sie leicht.
Dichter und Weiser, den Punkt, die Welt zu bewegen, ihr findet
Ihn in der eigenen Brust, brauchet den Hebel nur recht.
Aller Mechanik scheint dies Wort zu spotten; doch freilich,
Ihren Gesetzen gehorcht nimmer die geistige Welt.
Alles Gescheite und Richtige,
Alles Edle und Tüchtige,
Längst ward's gesprochen und getan,
[587]
Drum hört es selten wie neu sich an.
Nur die Verkehrtheit ist ohne Grenzen,
Daher der Pfuscher und Nichtige
So leicht als Originale glänzen.

Bei eines gewissen Dichters Begräbnis

Wußt' auch der Pfarrer, was er sprach,
Als diesen Mann das Grab empfangen:
»Ihm folgen seine Werke nach« –?
Sie sind ihm längst vorangegangen.
Das alte Lied vom Welt- und Menschenwesen
Will jede Zeit in ihrer Sprache lesen.
»Die Kunst für alle«? Mit Vergunst,
Habt ihr des Wortes Sinn erwogen?
Nur wen'ge wissen was von Kunst,
Für alle sind's nur – Bilderbogen.
Gern will ich kämpfen, Streich um Streich,
Doch seien auch die Waffen gleich.
Wenn ich die blanke Klinge fasse,
Rafft ihr den Schmutz auf von der Gasse.

Theater

»Mußt du in leichten Sprüchlein witzeln,

Statt rüstig hartes Holz zu bohren?« –

Wer dazu Schneid' und Kraft verloren,

Mag wohl Lichtspäne schnitzeln.

Als die Tragödie zuerst entstund,
War noch der Wunsch nicht allgemein,
Lieber ein lebendiger Hund,
Als ein toter Löwe zu sein.

[588] Hoher Stil

So mancher sich auf die Form verläßt,
Doch macht sie weder groß noch klein.
Und baute der Spatz ein Adlernest,
Er legte nur Spatzeneier hinein.
Wie sollen heute noch gedeihn
Politische Komödien,
Da, was zu belachen an groß und klein,
Witzblätter flugs erledigen?
Der echte Mime haßt, das merke,
Des echten Dichters Genius.
Er macht sich nichts aus einem Werke,
Draus er nicht erst was machen muß.
Gezündet habe das neue Stück,
So kalt der Stoff, so lahm der Vers?
Einschlug der Heldin Feuerblick
In die Strohköpfe des Parterres.
Ein Drama ist einer Geige gleich,
Fast nie gelingt's auf den ersten Streich.
Daß tiefer Vollklang dich erfreue,
Zerbrich's und leim es dann aufs neue.
Auf unsern Bühnen hat Ungeschmack
Die holde Muse vertrieben.
Sie spielen dir auf dem Dudelsack,
Was du für Flöte geschrieben.
Wer uns im heiteren Bühnenspiel
Den echten Beifall will entlocken,
Halt warm das Herz, die Stirne kühl
Und seinen Witz fein trocken.

[589] Historische Dramen

Frei magst du mit der Geschichte walten,
Beherz'ge nur die eine Lehre:
Bekannte Fakten darfst du umgestalten,
Nur nicht bekannte Charaktere.
Auch Vater Shakespeare nickt zuweilen,
Das pflegt die Gläubigen nicht zu kümmern.
Sie sehn dann zwischen seinen Zeilen
Ihre eigenen Träume schimmern.
Charaktere müssen im Lustspiel sein,
Nicht bloßer Witz, wie keck er sprühe.
Tu ein Stück Fleisch in den Topf hinein;
Das Salz allein gibt schlechte Brühe.
Das Trauerspiel hat einen bösen Stand.
Es lebt sich heute ja ganz charmant,
Sein Huhn im Topf hat jedermann,
Aufklärung schreitet strack voran,
Mit Dampf bequem für wenig Geld
Durchfährt man alt' und neue Welt,
Ißt aller Zonen Leckerbissen,
Kann aller Nationen Töchter küssen,
Und wenn dann satt des Abends spät
Der Biedermann ins Theater geht,
Wie sollt' ihm nicht absurd erscheinen
Ein Held, der, ohn' eine Träne zu weinen,
Dem lustigen Leben den Rücken kehrt,
Als wär's keinen roten Heller wert?
Mußt's auf der Bühne mit Silb' und Sinn,
Wenn es nur glänzt in die Ferne hin,
Allzu genau nicht nehmen:
Keine Theaterkönigin
Darf falscher Steine sich schämen.

[590] Antwort

Nur klingt ein Spruch mir in den Ohren:
Was glänzt, ist für den Augenblick geboren.
Griechen, Shakespeare und unsre Alten
Haben's doch auch mit dem Echten gehalten.
Kein Machtspruch soll die Völker leiten,
Der weiten Welt tut Freiheit not.
Doch jene Bretter, die die Welt bedeuten,
Regiert am besten ein Despot.

Dramatischer Symbolismus

Gibst einem Hund ein groß Stück Fleisch,
Verspeist er's ohne viel Geräusch.
Wirfst ihm einen magern Knochen hin,
Mit Knurren und Krachen zermalmt er ihn.
Nicht anders das liebe Publikum:
Wer's nährt und sättigt, hat wenig Ruhm.
Wer's reizt mit unverdaulichen Speisen,
Erregt ein Knurren im Gedärm,
Und alle wollen mit großem Lärm
Ihr scharf Gebiß an ihm erweisen.
Achtungserfolg – ein schlechter Spaß,
Kaum besser als: la mort sans phrase,
Wie wenn ein Mädchen zum Freier spricht:
Ich achte Sie, aber ich mag Sie nicht.
Leicht ist zweierlei angefangen:
Liebschaft und ein Bühnenspiel.
Schwerer, zum Ende zu gelangen;
Heikler Szenen gibt's so viel.
Und meint man, alles sei vorbei,
Folgt Kinder- und Rezensentengeschrei.

[591] Gewissen Schwärmern

Wie dünken sich so herrlich doch
Die Leute mit ihren Gaben.
Die zu fünf Sinnen den sechsten noch,
Den Sinn für Unsinn haben.
Ich mag nichts haben zu schaffen
Mit diesen »Zukunfts«pfaffen.
Auch sie, gleich andrer Pfaffenzunft,
Heischen das Opfer der Vernunft.
Trunken will die Menge sein,
Weltentrückt in sel'gem Dusel.
Rascher als ein edler Wein
Hilft dazu der süße Fusel.
Die Nebel, die über Wallhall liegen,
Scheucht kein bengalisches Bühnenlicht.
Mit Tönen, die Menschen in Schlummer wiegen,
Erweckt man schlafende Götter nicht.
Was heißt unendliche Melodie? –
Das ist doch leicht verständlich:
Von Takt zu Takt erwarten wir sie
Und täuschen uns doch unendlich.

Ars longa

Fünf Stunden lang mich ergeben
In euren Meistergesang?
Verzeiht! Kurz ist das Leben,
Und diese Kunst – zu lang.
»Was schiert dich also das tolle Treiben,
Bleibt nur dein Haus davor behütet?«
– 's ist auch unheimlich, gesund zu bleiben,
Wenn Cholera die Stadt durchwütet.
[592]
Torheit behält das Reich
Und Wahrheit wird Verbrechen.
Da ist's ein dummer Streich,
Ein kluges Wort zu sprechen.
Wenn aller Raketenspuk verweht,
Der hoch ergötzt die lieben Kleinen,
Dann werden in stiller Majestät
Die alten ewigen Sterne scheinen.

Persönliches

Ein satter, tafelmüder Gast

Dreht Kügelchen aus Brot zusammen.

Wenn du dich satt gelebt, gedichtet hast,

Der Abhub taugt zu Epigrammen.

Ich hab' erst spät mich emanzipiert
Und von mir selbst Besitz genommen.
Nur wer die Pietät verliert,
Kann zu sich selber kommen.
Mir ward ein Glück, das ich höher schätzte,
Als alles Gold in Kaliforniens Ebne:
Ich hatte niemals Vorgesetzte
Und niemals Untergebne.
»Warum hältst du dich uns so fern?
Eine Lieb' ist der andern wert.« –
Ich würd' euch lieben herzlich gern,
Wenn ihr nur liebenswürdig wär't.
Ich werde wohl dann und wann verstimmt,
Wenn Nörgeln und Mäkeln kein Ende nimmt.
Dann muß ich von den Größten lesen,
Wie's ihrer Zeit nicht besser gewesen.
Auf einmal werd' ich still und heiter
Und treibe getrost mein Wesen weiter.
[593]
»Auf diesen Mann hohnlästerst du,
Der doch von dir mit Achtung spricht?« –
Er hat vielleicht Grund dazu,
Ich leider nicht.
Bewahr in deinem Busen still,
Was dir dein eigner Dämon gönnte,
Da jedermann nur hören will,
Was er auch selbst sich sagen könnte.
Mir eine Elle zuzusetzen,
Geläng's auch, käme mir nicht in Sinn.
Das einzige, was an mir zu schätzen,
Ist, daß ich so und nicht anders bin.
Soll Ruhm mir blühn, komm' er beizeit.
Was hat die Nachwelt mir zu geben?
Ich möchte von meiner Unsterblichkeit
Doch ein paar Jährchen miterleben.
Gewisser Leute Bann und Acht
Hat nie mich wundergenommen.
Ich hab' ihnen den Verdruß gemacht,
Ohne sie durch die Welt zu kommen.
Ich machte mir keine Modellfigur,
Mein Bildnis danach auszuführen,
Um Kennerbeifall zu erhaschen.
Stets gab ich Vollmacht der Natur
Und ließ, froh, ihre Macht zu spüren,
Mich mit mir selber überraschen.
Hab' doch in gut' und bösen Tagen
Mich redlich und honett betragen
Und soll nun Pfaffen und Philister fragen,
Ob auch mein sittlicher Instinkt
Ihnen genugsam reinlich dünkt?
[594]
Halt' mich nicht, just für das Maß der Welt;
Doch eure heil'ge Glut, ihr Musen,
Hat durchgeläutert diesen Busen
Und ihn mit reinem Hauch geschwellt.
Sonst hab' ich mir selbst Impulse gegeben;
Jetzt leb' ich nicht mehr, ich lasse mich leben.
Ich hinge wahrlich nicht so sehr
An diesem leidigen Leben,
Wenn irgend sonst noch ein Mittel wär',
Um allerlei zu erleben.
Denn wenn auch männiglich bekannt,
Wie bitter oft das Leben schmeckt,
Und daß die Welt sehr ennuyant,
Ward keine zweite doch entdeckt,
Die auch nur halb so interessant.
Ich denke mit Gewissensbissen
Zurück, wie ich mein Lebenlang
Vorbeiging fastend an gewissen Bissen,
Die dann ein Schlechterer verschlang.
Wir haben uns gar nichts zu sagen;
Wie sollten wir uns nicht vertragen?
Mit Menschen bin ich tolerant,
Ob sie mich auch langweilen.
Ein schlechtes Buch fliegt an die Wand
Nach den ersten hundert Zeilen,
Dieweil es Bücher nicht verdrießt,
Wenn man sie nicht zu Ende liest.
»Was ist's für ein Mann? Wie ist er begabt?
Was leistet er, das ihm Ehre macht?« –
Hab' wirklich nie drüber nachgedacht,
Hab' ihn nur schlechtweg lieb gehabt.
[595]
»In der Zeitung las ich soeben
Ein sehr perfides Pasquill auf dich.« –
So haben sie mir's schriftlich gegeben,
Daß sie kleiner und schlechter sind, als ich.
Was dem strebenden Fleiß geglückt,
Wollte mir bald mißfallen.
Was mir dauernd das Herz entzückt,
Mußt' in den Schoß mir fallen.
Kein Trost in tatenlosem Leiden
Ist, daß ich rüstig einst geschafft.
Seh' ich die Zeugen meiner alten Kraft,
Fang' ich nur an, mich selber zu beneiden.
»Warum mich nur das Glück nicht freut,
Das Trost für so viel Kummer beut! –«
Der Strahl, der Sturmgewölk durchbricht,
Tut dir nicht wohl: die Sonne sticht.
Sonst hab' ich, wie die Gedanken kamen,
Sie rasch verbraucht im Augenblick.
Jetzt leg' ich schon in Epigrammen
Ein paar Notpfennige zurück.
»Beklagst dich, daß Gespräch dir fehlt,
Und horchst du nicht und hörst du nicht,
Wie Berg und Wald so feinbeseelt
Säuselnd zu Ohr und Herzen spricht?« –
Es klingt wohl schön, was hier und dort
Natur zu ihrem Kinde sagt,
Doch führt sie stets das große Wort
Und gibt nicht Antwort, wenn man fragt.
[596]
Ach, wer versteht sein eigen Herz!
Ein Rätsel ist dir's in die Brust geschaffen.
Heute schwer wie ein Berg von Erz
Will es dich in die Tiefe raffen;
Morgen aller Schwere entbunden
Jauchzend lodert es wolkenwärts,
Und dann in gleichgemeßnen Stunden
Gelassen trägt es Lust und Schmerz.
Ach, wer beherrscht sein eigen Herz!
In jungen Jahren weint' ich viel
In jedem Rühr- und Trauerspiel.
Jetzt scheint mir das Rührendste auf Erden,
Wenn gute Menschen glücklich werden.
Lange leben ist keine Kunst,
Wird dir nur Zeit dazu gegeben.
Doch wer im Dichten, Wirken, Streben
Es nie erlebt, sich selbst zu überleben,
Der preise seiner Sterne Gunst.

Feuerbestattung?

Ob in Flammen mag verlodern,
Ob im Schoß der Erde modern
Dieser Leib – mich kümmert's nicht,
Wenn, was wahrhaft ich gewesen,
Trotz Verglühen und Verwesen
Weiter wirkt am Sonnenlicht.

Neujahr 1899

Da schwatzen sie von Fin de siècle
Voll Sittenunrat und Lebensekel,
Als ob wahrhaftig so ungefähr
Ein Jahrhundert ein Weinfaß wär',
Drin trüber Bodensatz sich zeige,
Läuft erst das Fäßlein auf die Neige.
[597]
Nicht doch! Ein Weinberg ist die Zeit,
Drin mancherlei Gewächs gedeiht,
Und ist ein Jahrgang arm gewesen,
Der nächste bringt wohl beßre Lesen.
So laßt ins neue Jahr hinein
Uns wünschen goldnen Sonnenschein,
Der süße Trauben in Fülle beut,
Das Blut befeuert, die Kraft erneut;
Dann woll'n wir in unserm Rebengarten
Getrost des neuen Jahrhunderts warten.

Kritik

Ich fürchte, daß ich nur wenigen

Mit diesen Sprüchlein gefalle.

Gastgeschenke sind Xenien,

Und geladen sind nicht alle.

Fruchtlose Polemik

Streite doch nicht mit jedem Tropf!
Du triffst, so klar und scharf du bist,
Doch nur den Nagel auf den Kopf,
Mit dem er selbst vernagelt ist.
Du kommst zu mir und harrst beklommen
Des Urteils, das mein Mund dir spricht?
Wärst du nur zu dir selbst gekommen,
Du brauchtest fremden Wahrspruch nicht.
Schaffst du ein Werk, mit dem die Welt
Nicht viel weiß anzufangen,
Wirst du nicht bloß beiseitgestellt,
Sondern so heftig angebellt,
Als hättst du ein Verbrechen begangen.
»All seine Werke mußt du kennen,
Gerecht zu schätzen des Mannes Wert.« –
Darf ich den Wein nicht sauer nennen,
Eh' ich das ganze Faß geleert?
[598]
Süß ist ein neidlos Anerkennen,
Doch eine Wollust, dann und wann
Einen aufgeblasenen Scharlatan
Recht grad heraus einen Wicht zu nennen.
Für Häupter, die der Welt entschwanden,
Ist stets ein voller Kranz vorhanden,
Wenn er sie selbst nicht mehr erfreut.
Noch immer blüht in deutschen Landen
Das deutsche Erbtalent, der Neid.
Was hilft's, daß man die Ohren verstopf'
Beim Lärmen der grünen Jungen?
Sie haben zwar nicht den hellsten Kopf,
Aber die hellsten Lungen.
Ich weiß nicht, warum der Haß besteht
Gegen die Anonymität
In unsern kritischen Blättern.
Verdanken wir, was uns im Leben trifft,
Wohltat und Pein, Labsal und Gift,
Doch auch nur namenlosen Göttern.
Und wenn du dich getadelt findst,
Magst du's zurecht dir legen:
Aus namenlosem Unsinn grinst
Ein Neidhart dir entgegen.
Doch rühmt man deine Art und Kunst,
Wie gut, nicht zu gewahren,
Daß dieses weisen Mannes Gunst
Auch Hinz und Kunz erfahren!
Lebende schonen ist gut und sittlich;
Gegen Tote sei unerbittlich.
[599]
So manche Zeitschrift bringt es heut
Mit allem Bemühn nicht weiter,
Als daß sie hohen Ruhms sich erfreut
Im Kreise der Mitarbeiter.
Warum negiert ihr frisch,
Was euch nicht recht ist?
Ist Karpfen denn kein Fisch,
Weil er kein Hecht ist?
Ein Bildner ein Stück Marmor fand,
Draus fing er an mit rüst'ger Hand
Ein trefflich Götterbild zu hauen,
Bis er mit Schrecken mußt' erschauen,
Daß durch den Block, so weiß und klar,
Eine schwarze Ader gewachsen war.
Nun sann er fleißig Tag und Nacht,
Wie er den Fehl vergessen macht',
Sucht' im Gewand ihn zu verstecken,
Mit Schattenwurf ihn zuzudecken,
Und mühte sich wohl Jahr und Tag
An seinem Werk mit Strich und Schlag,
Dann stellt' er es bescheiden aus.
Viel Gaffer liefen ihm ins Haus,
Doch als sie's kaum ringsum beguckt,
Ein jeder schon die Achseln zuckt'
Und rief: Wo hatt' er sein Gesicht?
Sieht er die schwarze Ader nicht?
Was kann ein solcher Stümper taugen?
Da haben wir doch bessre Augen!
»Mag sie nun faseln oder lügen,
Es macht doch immer ein Vergnügen,
Wenn laut von uns die Presse spricht.
Und du nur gehst mit kalten Zügen
Vorbei und achtest ihrer nicht?« –
[600]
Ich mag nicht scheintot im Sarge liegen
Und stumm vernehmen mein Totengericht.
»Aber da ist ein gescheiter Mann,
Der spricht gar klug, nur ein bißchen scharf.«
Um so schwerer verdrießt mich's dann,
Daß ich ihm nicht erwidern darf.
Der Zuschauer und der Leser
Über nichts sind sie böser,
Als wenn es der Poet nicht macht
Genau so, wie sie sich's gedacht.
Nur nicht gleich das Schwert gewetzt
Und das Beil geschliffen!
Was ihr niemals überschätzt,
Habt ihr nie begriffen.
Nehmt nicht den Zollstock gleich zur Hand
Und sprecht von größer oder kleiner.
Nullen gibt es so viel im Land;
Vor allem fragt: ist das auch Einer?
Wie sollen die Hagestolzen der Kunst
Uns Kindergesegnete lieben!
Sie hofften selbst auf der Muse Gunst,
Sind aber ledig geblieben.
»Verdrießt das Zerrbild dich nicht sehr?« –
Erst Karikatur macht populär.
Was hilft's, die Esel aufzuklären,
Daß Rosen ein bessres Futter wären?
Seid froh, daß es auch Disteln gibt,
Da Eseln sie zu fressen beliebt.
[601]
»Alles verstehn, heißt alles verzeihn.«
Im Sittlichen gilt es freilich.
Tragt ihr es in die Kunst hinein,
So wird es unverzeihlich.
Halte nur Maß im Geltenlassen,
Stumpfe nicht ab dein Lieben und Hassen.
Willst du zum Künstler dich erziehn,
Habe den Mut deiner Antipathien.

Wissenschaft

Könnt' in einem Sprüchlein Raum sein,

Weltprobleme zu erledigen?

Ein Spazierstock will kein Baum sein,

Ein Stoßseufzer will ich nicht predigen.

Sobald die Künste verblühn,
Kommt Wissenschaft in Gunst.
Sie lohnt auch Handwerksmühn,
Denn Wissen ist keine Kunst.
»Wer nicht in der Wissenschaft Kleines ehrt,
Ist auch des großen Gewinns nicht wert.« –
Das werd' ich niemals euch bestreiten,
Nur euer Großtun mit Kleinigkeiten.
Ein Haus zu bauen ist stets beschwerlich,
Viel Gewerke reichen sich da die Hand,
Auch Handlanger sind unentbehrlich,
Und ihren Lohn verdienen sie ehrlich,
Nur werden sie nicht Architekten genannt.

Kulturgeschichte

Dem Nachbarn in den Topf zu schauen,
Geziemt allein neugier'gen Frauen,
Doch ist's hochwichtig zu erfahren,
Was er gekocht vor hundert Jahren.

[602] Philologische Kommentare

Wer nie ein Stück Poet gewesen,
Wie dräng' er in den Geist des Dichters ein?
Mit Shakespeare Äschylus zu lesen
Müßt' eine herrliche Sache sein.

Philologie

Buchstabensel'ge Philologie
Vermeint, den Logos liebe sie?
Wortklauberei weiß nichts fürwahr
Vom »Worte«, das »zu Anfang war«.
Doch ihr, die Geistesmacht entflammt,
O haltet den Tempel rein!
Ist heiliger doch kein Priesteramt,
Als Hüter des Worts zu sein.
In mancher Literaturgeschichte
Macht Poesie ein wunderlich Gesichte:
Eine Schöne, die vorm Spiegel steht
Und drin nach ihren Runzeln späht.
Männer, die über den Zeiten stehn,
Willst du als ihr Produkt erklären?
Hast du schon je einen Sohn gesehn
Seine eigene Mutter umgebären?
Mit der pragmatischen Methode
Viviseziert ihr das Genie zu Tode.
Eine Wiese liefert zweierlei:
Ein Herbarium und ein Fuder Heu.
[603]

Pädagogik

Die Bildung, die wir den Kindern erteilen,
Bezweckt bei Licht besehn nur eben,
Die übliche Masse von Vorurteilen
Ihnen ins Leben mitzugeben.

Goethe als Naturforscher

Ihr mögt Natur aufs Folterbette strecken,
Sie wird euch ihr Geheimnis nicht entdecken.
Dem Dichter, der zur Liebsten sie erkor,
Naht sie sich still und sagt es ihm ins Ohr.

Politik

Sei vor den Xenien auf der Hut;
Sie prickeln und reizen das träge Blut,
Wie eine Schüssel von Mixedpickel
Sind aber keine Glaubensartikel.
Wie soll man in der Welt sich regen?
Wer Unrecht hat, der büßt's mit Schlägen,
Wer Recht behält, den liebt man nicht,
Und wer neutral bleibt, heißt ein Wicht.
Jeder Deutsche durchlebt eine Phase,
Wo er mit Macht Politik betreibt
Und ein historisches Drama schreibt.
Zu beidem braucht's nur den Mut der Phrase.

Egalité

Zum Nadelholz gehören Ficht' und Zeder,
Doch macht der Wuchs einen Unterschied.
Homo sapiens heißt ein jeder,
Ist er auch noch so insipid.
[604]
Meint ihr, ein jeder sei dazu geschickt,
Daß er das Staatswohl überwache?
Ein jeder weiß zwar, wo der Schuh ihn drückt,
Doch Rat zu schaffen, ist des Schusters Sache.

Distinguendum est

Wie hochempört wir den Jesuiten grollen,
Weil mit den Mitteln sie der Zweck versöhnt!
Doch »wer den Zweck will, muß die Mittel wollen« –
Wie tüchtig das und biedermännisch tönt!
Man liebt zu bemänteln allerorten
Schwache Gedanken mit starken Worten.
Ob sie dem Licht den Sieg mißgönnen,
Die Nacht wird's nicht bezwingen können,
Solang der Feldruf der Jugend heißt:
Hie deutsches Gewissen und deutscher Geist!
Das Stichwort gab ihm die Partei,
Manch Schlagwort bracht' er selbst herbei,
Und doch, so lang er auch gesprochen,
War's nicht gehauen und gestochen.
Wohl ist's des Mannes Ehr' und Pflicht,
Daß er seine Meinung treu verficht.
Doch ziemt es nur vorwitz'gen Knaben,
Über alles eine Meinung zu haben.
»Das klingt ein bißchen sehr –
Verzeih! – reaktionär.« –
Wenn sich Agitatoren rühren,
Wie sollte man nicht re-agieren?
[605]
Verschiedne Ziele? Böses Spiel,
Doch können wir uns noch gelten lassen.
Verschiedne Wege zu gleichem Ziel?
Da hilft kein Gott, wir müssen uns hassen.
Wir dürfen unsern gnädigen
Schutzgeistern danken auf Erden,
Wenn wir den Steinen predigen
Und nicht gesteinigt werden.

Im neuen Reich

Das neue Haus ist fest gefügt; inmitten
Der Stürme steht es hoch und hehr,
Nur die Akustik hat arg gelitten:
Der Muse Ruf vernimmt man drin nicht mehr.
Vor ew'gem Reorganisieren
Mag uns der Himmel bewahren.
Die Straße, drin die Pflastrer stets hantieren,
Ist übel zu befahren.
Mit der Staatskunst ist es genau
Wie mit dem Hausregiment der Frau:
Am besten verstehen ihre Sachen,
Die am wenigsten von sich reden machen.
Das aber wollen die Herren nicht wissen,
Die stets des Redens sind beflissen,
Meinen, die Krone der Staatskunst sei:
Wenig Wolle und viel Geschrei,
Und besser mundet ihnen der Schmaus,
Riecht man den Braten im ganzen Haus.

Seinen Widersachern

Könntet wohl was an ihm haben,
Aber, kleinlichen Geschlechts,
Sucht ihr ihm was anzuhaben:
Daran habt ihr denn was Rechts!
[606]
Wer heute klüger ist als gestern
Und es mit offner Stirn bekennt,
Den werden die Biedermänner lästern
Und sagen, er sei inkonsequent.
Hoffärtig scheltet ihr den Dreisten,
Der sagt, er sei der rechte Mann?
Gewisse Dinge kann nur leisten,
Wer weiß, daß er sie leisten kann.
Ihr habt, solang ihr ihn hattet,
Nur seine Fehler gezählt.
Nun da ihr ihn bestattet,
Merkt ihr, daß Er euch fehlt.
Wer Menschen wohltut alle Tage,
Gilt endlich für eine Landesplage.

Gewissen Patrioten

Ihr meint, das Gute hättet ihr allein,
Und seht am Nachbarn nur Gebrechen?
Die Tugenden sind aller Welt gemein,
Nationen scheiden sich durch ihre Schwächen.
»Dir selber treu sein!« predigt man dir vor,
Doch frommt das weise Wort nicht allen.
Bist du ein Lump, ein Schuft, ein Tor,
Such eilig von dir abzufallen.
Wer nun einmal zum Knecht geboren,
An dem ist sanfter Zwang verloren.
Vernunft und Recht wird ihn nicht rühren,
Er will den Fuß im Nacken spüren.
[607]
Und als ich auf dem Brenner stand,
Sprang keck ein Floh mir auf die Hand
Und tat da völlig wie zu Haus.
Nun seht die welschen Insolenzen!
Sie dehnen ihre natürlichen Grenzen
Sogar bis auf den Brenner aus.

Aktualität

Siehst du den stürmischen Wechsel der Zeiten,
Magst du im stillen dich daran halten:
Die dringendsten Angelegenheiten
Sind die jahrtausendalten.

Philosophie

Wenn sich die Sprüche widersprechen,

Ist's eine Tugend und kein Verbrechen.

Du lernst nur wieder von Blatt zu Blat

Daß jedes Ding zwei Seiten hat.

Nachdenken doch immer Mühe macht,
Wie gut man euch auch vorgedacht.
Vor deine Dialektik stellt
Sich wie im Stereoskop die Welt
Zwiefach geteilten Scheines.
Doch hast du wahren Tiefsinns Kraft,
So schaue, was auseinanderklafft,
Lebendig wieder in eines.

Die –aner

Viel Geistesgegenwart beweist,
Wer immer schlag- und redefertig.
Doch mancher peroriert so dreist,
Dem nur der Geist von andern gegenwärtig.
Erdachtes mag zu denken geben,
Doch nur Erlebtes wird beleben.
[608]
Gedanken gibt's verschiedner Art,
Junge und alte,
Mit Flaum am Kinn oder greisem Bart,
Mit oder ohne Falte.
Hüt' dich vor solchen, Menschenkind,
Die nur verkappte Stimmungen sind.
Ein Narr macht mehre,
Doch gebt nur acht,
Wie viele Toren
Ein Weiser macht.

Geschichtsphilosophie

Das Glück der Welt nimmt zu an Breite,
Allein an Höh' und Tiefe kaum.
Mehr gute Leute träumen heute
Vergnüglich dieses Lebens Traum.
Doch wer damit den Tag anfing,
Daß er an Platos Lippen hing,
Dann konnt' in Phidias' Werkstatt gehn
Und sah ein Götterbild entstehn,
Am Abend durft' im Theater hören
Antigone mit griechischen Chören,
Um mit Aspasia und den Ihren
Hernach vertraulich zu soupieren,
Hat mehr des besten Glücks erfahren,
Als wir nach zweimal tausend Jahren.
Das Weltgeheimnis – nehmt's nicht übel –
Vergleich' ich einer großen Zwiebel.
Wer Schal' um Schale sich nah besehn,
Dem werden die Augen übergehn.
Nur schwachen Trost, wenn dich ein Unheil trifft,
Gibt philosophische Betrachtung.
Für Weltunbill das einz'ge Gegengift
Ist Weltverachtung.
[609]
Weiter, als Adam es gebracht,
Bringt's auch der Weiseste nicht im Leben:
Er hat sich alle Dinge betracht't
Und ihnen Namen gegeben.
Die Weisheit wärmt zu jeder Frist,
Deren Unterfutter die Torheit ist.
Auf Freiheit legt's so mancher an,
Tut doch, was er nicht lassen kann.
Kann er's nicht lassen sich frei zu fühlen,
Mag er mit seinen Ketten spielen.
Die Worte werden dir manches sagen,
Verstehst du nur sie auszufragen.
Nach unverbrüchlich fester Norm
Entfaltet sich lebend'ge Form.
Wer Augen hat, der sieht alsbald
Im kleinen Finger die Gestalt.
Im Haushalt der Natur
Wird nichts verschwendet,
Der Stoffe kleinste Spur
Aufs neu' verwendet.
Was aber fängt sie dann
Mit den beaux restes der Geister an?
Was ist nur all der Plunder wert,
Den ihr von außen zusammenkehrt?
Dem weiten Kreise, mit dem ihr prunkt,
Fehlt's ewig doch am Mittelpunkt.
[610]
Sie glauben, alles Heil sei nur
Zu finden in ihrem Orden.
Wer im Käfig gebrütet worden,
Dem scheint sein Drahtgeflecht Natur.
Wie Regen rieselt grau und kalt,
So waltet Unmut trüb verdrossen
Mit formlos widriger Gewalt,
Bis Herz und Lippe sich verschlossen.
Philosophie gibt Dach und Fach,
Da dringt der Regen nicht herein;
Ist aber dumpfig im Gemach,
Ist auch noch lang kein Sonnenschein.
Je ernster sie sind, je redlicher,
Je schlimmer der Kampf mit harten Schädeln.
Nichts ist der Wahrheit schädlicher,
Als der Irrtum der Edeln.
Zu viel verlangt, daß die Natur
Ihr Sein dir zum Bewußtsein bringe!
Sei froh, spürst du dein eignes Auge nur
Am bunten Widerschein der Dinge.

Das Weltkind

Am Rocken mancher Philosophie
Hab' feine Fäden gesponnen,
Doch vom Gespinst ein Hemdlein nie
Für meine Blöße gewonnen.
Ich spann zu lang, ich spann zu kurz,
Ich sann und spann vergebens.
Nun flecht' ich mir einen Blätterschurz
Im Paradies des Lebens.
[611]

Der Weise

Sie spotten dein, Philosophie,
Wie des Propheten die Knaben.
Du Kahlkopf, Kahlkopf! rufen sie,
So lang sie noch Locken haben.
Doch Schuld und Schmerz, das wilde Paar
Mit rauhen Bärentatzen,
Die werden ihnen das Lockenhaar
Und gar den Schädel zerkratzen.

Gott und Welt

Kein Wagenlämpchen ist der Witz,

Bei dem du magst gemächlich reisen,

Doch gnügt in dunkler Nacht ein Blitz,

Dir plötzlich Bahn und Ziel zu weisen.

Ein Bilderbuch ist diese Welt,
Das manchem herzlich wohlgefällt,
Der blätternd Bild um Bild genießt,
Vom Text nicht eine Zeile liest.
Die goldne Mittelmäßigkeit
Muß wohl Unmittelbares hassen.
Drum hat sie sich zu aller Zeit
Natur, Geist, Gottes Herrlichkeit
Anthropomorphisch lang und breit
Zum Schulgebrauch übersetzen lassen.
War's auch human, im Wurmgeschlecht
Den Gottesfunken anzufachen?
Mußt' er den gottbewußten Knecht
Nicht vollends erst zum armen Teufel machen?
Rätsel, die zu lösen endlich,
Werden sie »natürlich« schelten.
Nur was ewig unverständlich,
Wird als Offenbarung gelten.
[612]
Im Buch der Bücher offenbar
Steht Gottes Wort. Doch sagt, ihr Frommen,
Ist Gott durch so viel tausend Jahr
Sonst nie zu Wort gekommen?
Wie gegen die Kirche wir auch uns wehren,
Der Andacht können wir nicht entbehren.
Gern auf den Knieen verehrt' ich ihn,
Ließ' er im feurigen Busch sich spüren.
Doch mag ich nicht so obenhin
Seinen Namen unnützlich führen.
Es ist ein Trost in mancher Not,
Zu denken, das lumpige Leben
Sei ein Kontrakt mit dem lieben Gott,
Einseitig aufzuheben.
Gönnt doch den Wahn dem armen Schlucker,
Der nur des Lebens Bitterkeit genießt!
Unsterblichkeit ist ja der Zucker,
Der ihm den herben Trank der Zeit versüßt.
Vergüten reichen Alters Garben
Mißwachs der Jugendzeit und langes Darben,
Und sollt's Ersatz im Himmel geben
Für ein verpfuschtes Erdenleben?

Unsterblichkeit

Manch geliebtes Auge bricht,
Doch ertragt ihr's fortzuleben.
Und der Weltgeist sollte nicht,
Wenn auch euch erlischt das Licht,
Kummerlos sich drein ergeben?
Bist du schon gut, weil du gläubig bist?
Der Teufel ist sicher kein Atheist.
[613]

Anthropomorphismus

Du glaubst, mit Gott vertraulich
Unter vier Augen zu sein,
Und blickst doch nur erbaulich
Ins Spiegelglas hinein.
»Verdammlich ist's, nach Glück zu streben;
Das Ziel des Menschen ist die Pflicht.« –
Allein beglückt es euch denn nicht,
Euch euren Pflichten hinzugeben?

Schächerphantasie

Die schöne Erde geben sie aus
Für ein großes Zucht- und Arbeitshaus
Und glauben, der Herr und Schöpfer sei
Der oberste Chef der Weltpolizei.

Die Gemütlichen

Ihr stellt in euren Systemen nur
Ein artig Familienbild zur Schau,
Als wäre Mütterchen Natur
Des lieben Herrgotts liebe Frau.
Die Kinder, die nicht wohlgeboren,
Zupft der Papa derb an den Ohren,
Und bessern sich die armen Lümmel,
Belohnt er sie in seinem Himmel.
Sehr weislich pflegt die Menge beim Gebet
Gott in Hausvatertracht zu stecken.
Erschien' er ihr in voller Majestät,
Wie Semele erläge sie dem Schrecken.
Sie treiben es nach Höflingsart:
Ein Zweifel schon ist Majestätsverbrechen,
Und der ist reif zur Höllenfahrt,
Der offen wagt zu widersprechen.
[614]
Harun Al Raschid horchte gern
Vermummt auf das Gespräch der Schenken.
Sollt's nicht ergötzen Gott den Herrn,
Zu lauschen, was wir von ihm denken?
Unsinnige Pedanterei,
Will stets der Geist die Sinne meistern!
Am echten Geiste werden frei
Gesunde Sinne sich begeistern.
Die ihr an keiner Sabbatruh'
Euch feiernd wollt beteiligen,
Euch fällt der Pflichten schönste zu:
Den Werktag auch zu heiligen.

Optimisten und Pessimisten

Müßt ihr in Superlativen sprechen,
Das Weltgeheimnis zu ergründen,
Anstatt mit ihren Tugenden und Schwächen
Die Welt nur eben »schlecht und recht« zu finden?

Pessimismus

»Warum es diesen Kerl nur juckt,
Die Welt zu lästern wie besessen?
Sie trägt doch manch genießbar Produkt;
Wie kann er das vergessen?« –
Du weißt: wer in die Schüssel spuckt,
Möcht' alles allein auffressen.
Was in der Welt
Dir nicht gefällt,
Mußt dir gelassen
Gefallen lassen.
[615]
Wohl, sein eigner Herr zu sein,
Ist des Menschen höchste Würde,
Doch die Furcht treibt insgemein
Herdenmenschen in die Hürde.
Lieber brennt ihr feig und schwach
Selber euch ins Fell ein Zeichen,
Dürft ihr nur dem Leitbock nach
Grasen unter euresgleichen.
Am ewig Gestrigen klebt der Philister,
Wenn der Phantast des ewig Künft'gen harrt.
Der wahre Mensch – ein Kind des Geistes ist er,
Der war und wird in ew'ger Gegenwart.
Es sehnt sich jedes Kind der Erden,
Von Geistern übermannt zu werden,
Und will kein Engel zum Ringkampf kommen,
Wird auch mit Teufeln vorlieb genommen.

Mystik

Je mehr du in die Tiefe dringst,
Je mehr wirst du der Welt entschwinden,
Und wenn du in den Mittelpunkt versinkst,
Kann Gott allein dich wiederfinden.
Stets hab' ich mit der Schrift gedacht,
Daß nur der Glaube selig macht,
Wenn ich zu streng das Wort auch finde:
»Was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde.«
Mit diesem Bekenntnis laßt mich wohnen
Abseits von allen Konfessionen.
Wen die Götter lieben,
Segnen sie mit Leiden,
Mit der stillen Seele,
Die den Schmerz versteht.
[616]
Viel ist dann geblieben,
Was im Lärm der Freuden
Wie der Philomele
Dunkles Lied am Tag verloren geht.
Wird den Winden auch zum Raube,
Was ein Staubessohn geschrieben,
Sei es gleich dem Blütenstaube,
Der befruchtet im Zerstieben.

Senilia

1.
Mit deinem Herzen gab's vorzeiten
Oft eine muntre Konversation,
Auch wohl ein hitzig Zanken und Streiten;
Das ist verstummt seit lange schon.
Wie Eheleute, die hochbetagt
Sich alles hundertmal schon gesagt,
Sitzt ihr verträglich im engen Haus
Und schweigt euch gegen einander aus.
2.
Altwerden ist keine leichte Kunst.
Frauen und Dichter müssen sie lernen,
Wenn kühl die Jungen sich entfernen,
Die einst gebuhlt um ihre Gunst.
Dann gilt's erst, liebenswert zu bleiben,
Auch wenn du selbst nicht mehr beliebt
Und keiner sich mehr die Mühe gibt,
Dir einen Liebesbrief zu schreiben.
3.
»Du hast so Vieles schon getan,
Dünkt dir nicht endlich die Ruhe labend?« –
Freu'n kann mich nur der Feierabend,
Fängt morgen wieder die Arbeit an.
[617] 4.
Das ist das Schicksal in hohen Jahren:
Wir können an neuen Lebensfreuden
Kaum Überraschendes noch erfahren,
Doch um so mehr an neuen Leiden.
5.
Hast du nicht früh schon dich gewöhnt,
Dein eigen Herz nur zu erfreuen,
Wenn, was du singst, melodisch tönt,
Des Lebens Mißklang dir versöhnt,
So wirst du's später schwer bereuen.
Applaus, der Anfangs dich gelockt,
Wird schwächer, bis er endlich stockt,
Da neuer Spieler neue Kunst
Dir schmälert allgemach die Gunst
Und dir entzieht dein Publikum.
Du aber gräme dich nicht darum,
Wenn nur der Klang der eignen Saiten
Dein Herz noch schwichtigt, wie vorzeiten.
6.
»Wozu man lebt?« erführst du gerne.
Nun eben, daß man leben lerne.
Und hat man's dann gelernt zur Not,
Das Reifezeugnis schreibt der Tod.

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TextGrid Repository (2012). Heyse, Paul. Sprüche. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-6555-7